Integration durch Partizipation am Erinnerungsdiskurs?
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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
Von Jutta Weduwen
Ich möchte mit drei Thesen beginnen:
- Einwanderer werden viel häufiger von einer Beteiligung an der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ausgeschlossen, als sie selbst unwillig sind, daran zu partizipieren.
- Antisemitismus kann unter (muslimischen) Einwanderern zwar andere Ausdrucksformen finden, unterscheidet sich hinsichtlich der Stereotype, der Gefährlichkeit und Intensität nicht von dem der herkunftsdeutschen Gesellschaft.
- Die Frage, ob die Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Geschichte der Integration von Eingewanderten dient, ist unterkomplex und letztendlich unerheblich.
Diesen Thesen liegen keine umfassenden empirischen Untersuchungen zugrunde, sondern mehrjährige Beobachtungen aus Bildungsprogrammen mit eingewanderten Frauen aus sozialen Brennpunkten Berlins.
Seit 2006 kooperiert Aktion Sühnezeichen Friedensdienste mit Stadtteilmüttern in dem gemeinsamen Projekt: „Stadtteilmütter auf den Spuren der nationalsozialistischen Geschichte“. Stadtteilmütter sind Frauen mit Migrationshintergrund, die in sozialen Brennpunkten leben und ausgebildet werden, Familien in ihrer Muttersprachen zu Erziehungsfragen zu beraten. Inzwischen haben über hundert Stadtteilmütter aus den Berliner Stadtteilen Neukölln, Kreuzberg, Charlottenburg und Steglitz sowie aus Köln an den Seminarreihen teilgenommen.
Die Seminarreihen wurden von den Neuköllner Stadtteilmüttern selbst initiiert. Sie wollten mehr über ein Thema – den Nationalsozialismus – wissen, von dem sie immer wieder spürten, dass es auch in der Gegenwart eine große gesellschaftliche Bedeutung hat. Darüber hinaus wollten sie ihren Kindern Antworten geben können, die mit vielen Fragen von Gedenkstättenbesuchen oder aus dem Geschichtsunterricht nach Hause kamen.
Eine Seminarreihe umfasst zehn Termine und eine Wochenendfahrt. Wir treffen Zeitzeugen und Zeitzeuginnen sowie ihre Nachkommen, besuchen Gedenkstätten und setzen uns mit Hilfe von filmischen und schriftlichen Materialien mit verschiedenen historischen Aspekten und Perspektiven auseinander. Während des Seminars erzählen die Teilnehmerinnen sich auch ihre jeweiligen eigenen Migrationsbiografien. Denn auch die Geschichten der eingewanderten Frauen gehören zur deutschen Geschichte dazu.
Das Besondere an diesen Bildungsprogrammen ist die dialogische Herangehensweise. Es geht nicht nur darum, Wissen über die Geschichte der Aufnahmegesellschaft bzw. ihre Gegenwartsbedeutung zu vermitteln, sondern darum, selbst von den Teilnehmerinnen zu lernen und den Ansatz der Multiperspektivität pädagogisch umzusetzen. Wir haben erfahren, welche Assoziationen die Beschäftigung mit der Shoah bei Frauen auslösen können, die selber traumatische Erlebnisse durch Bürgerkriege oder Flucht haben, ohne dass sie diese geschichtlichen Ereignisse gleich setzen. Wir haben erlebt, wie sehr die Frauen um die Anerkennung ihrer eigenen Geschichten in der deutschen Öffentlichkeit ringen. Und wir haben immer wieder gehört, wie wenig besonders muslimischen Migrantinnen in der deutschen Gesellschaft zugetraut wird.
Wenn die Stadtteilmütter Herkunftsdeutschen von ihrer Teilnahme an der Seminarreihe erzählen, stoßen sie häufig auf Verblüffung oder auch Ablehnung. Ihnen wird nicht zugetraut, dass sie sich für die deutsche Geschichte interessieren, auch wenn klar ist, dass Deutschland ihr Lebensmittelpunkt ist und auch bleiben wird. Eher wird vermutet, dass sie als Musliminnen zu antisemitisch seien, um sich empathisch mit der Verfolgung und Vernichtung der Juden zu beschäftigen. Oder dass ihre Männer ihnen eine Teilnahme an dem Seminar untersagen. Es kommt aber auch zu offener Ablehnung, etwa wenn ihnen gesagt wird, sie sollten sich um ihre eigene Geschichte kümmern. Gemeint ist damit immer die Geschichte des Herkunftslandes, unabhängig davon, welcher Nation oder Gesellschaft sich die Frauen zugehörig fühlen. In diesem Sinne findet im öffentlichen Alltagsdiskurs über Geschichte häufig ein Ausschluss von Migrant/innen statt bzw. wird fortlaufend eine Trennlinie gezogen zwischen Herkunftsdeutschen und Migrant/innen, zwischen ihrer und unserer Geschichte.
Wir werden häufig gefragt, ob der Antisemitismus unter muslimischen Migrant/innen nicht besonders stark ausgeprägt sei. In unserer Seminararbeit sind wir stellenweise mit antisemitischen Stereotypen bei den Teilnehmerinnen konfrontiert worden, besonders dann, wenn die Situation in Israel bzw. den palästinensischen Gebieten sich gewaltvoll zuspitzte und sich Diskussionen über die Verfolgung der Juden im Nationalsozialismus mit dem Verhalten des israelischen Militärs unzulässig überlagerten. Diese Diskussionen waren sehr emotional, kontrovers und blieben häufig jenseits eines Konsenses. Antisemitismus ist unserer Erfahrung nach unter Einwanderern vorhanden, teilweise speisen sich die Argumente aus spezifischen Quellen, etwa aus Medien der Herkunftsländer bzw. Foren der Einwanderungscommunities. Dennoch haben wir keine antisemitischen Äußerungen gehört, die wir nicht aus der deutschen Mehrheitsgesellschaft kennen. Die öffentliche Fokussierung auf einen spezifischen ‚muslimischen‘ Antisemitismus darf nicht die stetige bzw. Umfragen zufolge wachsende Gefahr der Judenfeindschaft unter Herkunftsdeutschen aus dem Blick verlieren.
Partizipation durch Bildung?
Dienen unsere Bildungsprogramme der Integration? Der Begriff der Integration ist durch den inflationären Gebrauch inhaltsleer geworden, politisch wird er häufig als Anpassung genutzt oder verstanden. Die Frage, ob die Beteiligung am Erinnerungsdiskurs einer Integration (oder Inklusion) dient, ist zu einseitig. Sie suggeriert auch, dass man eine Beteiligung ablehnen könnte, wenn sie nicht der Integration diene.
Wir haben die Initiative der Stadtteilmütter als starken Wunsch nach Partizipation verstanden; einem Wunsch, die Aufnahmegesellschaft, in der die Vergangenheit gegenwärtig ist, besser zu verstehen und an deren Debatten teilnehmen zu können. Dabei wurden einfache Wahrnehmungen, Interpretationen und Schlussfolgerungen aber immer wieder auf den Prüfstand gestellt bzw. durch andere Perspektiven erweitert. Frauen, die selbst Bürgerkriegserfahrungen haben, ziehen Parallelen zwischen ihren Traumata und dem Holocaust und diskutieren über die Singularität des Holocaust; die Distanzierung von Kindern von Nazitätern gegenüber ihren Vätern wurde als Verrat an der Familie wahrgenommen, Projektionen auf den Nahostkonflikt fanden immer wieder auf höchst emotionale Weise statt. Diese anderen Perspektiven sind aber nicht ‚typisch migrantisch‘, sondern finden dann Ausdruck, wenn vielfältige Meinungen im Raum sind. Diese anderen Perspektiven waren immer Anlass, sich in der Diskussion auszuprobieren, die Meinungen der anderen zu hören und daran zu wachsen.
Was mich, im Kontext der Frage der Partizipation, besonders bewegt und umgetrieben hat, war der Umstand, dass die intensive Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Geschichte bei vielen Teilnehmerinnen Ängste auslöste. Alle haben in unterschiedlicher Form Erfahrungen mit Rassismus gemacht und so drängte sich oft die Fragen auf: könnte uns das auch passieren? Wollen wir in einer Gesellschaft leben, die diese Gräueltaten hervorgebracht hat? Sind wir hier sicher?
Dies ist ein Dilemma, das sich nicht ausräumen lässt, solange es diese Formen der rassistischen Ausgrenzung gibt. Die Lösung ist nicht, von Rassismus besonders betroffene Gruppen von der Beschäftigung mit der schmerzhaften Geschichte auszuschließen. Es geht dann eher darum, in der Auseinandersetzung sensibel für Ängste und Unsicherheiten zu sein, ein Gespür für die heutige Gesellschaft mit ihren Kontinuitäten und Diskontinuitäten zu entwickeln und zu vermitteln und sich gemeinsam gegen Rassismus und für einen gleichberechtigten (erinnerungspolitischen) Dialog zu engagieren.
Redaktionelle Anmerkung
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- 28 Feb 2012 - 18:08