Liebe Leser*innen,
Sie sehen vor sich eine Magazinausgabe, die wie gewohnt ein historisches Thema aufgreift und es für die Bildungsarbeit aufbereitet. Dieses Mal haben wir es jedoch mit einem Thema von besonders aktueller Relevanz zu tun: Seit dem vollumfänglichen Ausbruch des Krieges in der Ukraine wird die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht politisch und medial kontrovers diskutiert. Mit dem diesjährigen Antritt der Regierung Merz, der wiederholt beschworenen „Kriegstüchtigkeit“ Deutschlands sowie der massiven Aufrüstung innerhalb der EU und der NATO stehen besonders junge Menschen hierzulande vor der konkreten Aussicht, Wehrdienst leisten und perspektivisch sogar aktiv als Soldat*in an einem zukünftigen Krieg teilnehmen zu müssen. Ein solches Szenario bedeutet für die jüngeren Generationen in Deutschland nicht nur einen temporären Eingriff in Biografien, sondern stellt auch potentiell eine schwerwiegende Einschränkung verfassungsmäßig garantierter Grundrechte dar − etwa des Rechts auf Selbstbestimmung, auf körperliche Unversehrtheit und letztlich auf das eigene Leben.
Angesichts – und trotz – der politisch vehement betonten Alternativlosigkeit eines Krieges in Europa sollte öffentlich breit diskutiert werden, wer den Preis für unsere Freiheit zahlen soll und ob ihn wieder die jüngeren Generationen entrichten müssen, deren Zukunft bereits durch die Erderwärmung mit allen vorhersehbaren und noch unbekannten Folgen ohnehin bereits massiv beeinträchtigt sein wird. Auf die Frage der Wehrgerechtigkeit folgt somit auch die Frage nach der Generationengerechtigkeit.
Das vorliegende Magazin lädt insbesondere schulische Lehrkräfte und Referent*innen der außerschulischen Bildungsarbeit dazu ein, junge Menschen über das Thema Wehrpflicht zu informieren, ihnen zentrale Fragen zu stellen und das Thema mit seinem Für und Wider gemeinsam fundiert zu erörtern. Der Blick in die historischen Zusammenhänge – etwa die Situation des Kalten Krieges in den 1970er und 1980er Jahren – hilft, gegenwärtige politische und gesellschaftliche Konstellationen einzuordnen und kritisch zu bewerten. Schüler*innen sollen befähigt werden, Angeboten der Bundeswehr informiert zu begegnen, Diskussionen auf Augenhöhe zu führen und reflektierte sowie souveräne Entscheidungen zu treffen.
Eine breitere gesellschaftliche Diskussion wird bestenfalls durch aufgeklärte Mitglieder dieser Gesellschaft geführt. Das LaG-Magazin betrachtet das Thema Wehrpflicht aus dezidiert zivilgesellschaftlicher Perspektive. Militärimmanente Argumentationsstränge stehen weniger im Mittelpunkt der Beiträge. Der Grundgedanke des „Staatsbürgers in Uniform“ und das Konzept der „Inneren Führung“, denen sich die Bundeswehr in kritischer Distanz zu den Verbrechen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg verschrieben hat, können und sollten jedoch gerade in zivilen Sphären diskutiert werden. Diese Konzepte wurden in den Nachkriegsjahrzehnten entwickelt und werden von verschiedenen Autor*innen in ihren Beiträgen aufgegriffen. Ein Grundsatz der sogenannten Inneren Führung ist, laut Website der Bundeswehr, das „Selbstverständnis der Bundeswehr als Parlamentsarmee“. Das heißt, der demokratisch gewählte Bundestag entscheidet über ihre Einsätze; politische Willensbildungen stehen über militärischen. Ein weiterer Grundsatz ist die Forderung nach dem „selbst denkenden Soldaten“, der nicht blind gehorchen, sondern verbrecherische Befehle verweigern soll. Wäre solch ein Grundsatz nicht eine Diskussion im Schulunterricht wert?
Das LaG-Magazin beleuchtet zunächst die historischen Ursprünge der allgemeinen Wehrpflicht. Im thematischen Schwerpunkt geht es um die Entwicklung der Wehrpflicht und ihrer Verweigerung im geteilten Deutschland nach 1945. Ein weiterer Fokus liegt auf geschlechterspezifischen Perspektiven.
Einführend beantwortet Ute Frevert unsere Fragen zur Entstehung der allgemeinen Wehrpflicht im 19. Jahrhundert: Der Staatsbürger in Uniform löste den bezahlten Söldner des frühneuzeitlichen Heeres ab.
Der Militärhistoriker Rüdiger Wenzke gibt einen Überblick über die Geschichte der Wehrpflicht in der DDR und geht dabei auch auf die begrenzten Möglichkeiten für Verweigerer ein.
Martin Singe zeichnet nach, wie das Recht auf Kriegsdienstverweigerung im Jahr 1949 als Menschenrecht Eingang in das bundesrepublikanische Grundgesetz fand – in der praktischen Behandlung von Verweigerern und auch durch spätere Gesetzgebungen erfuhr es dann jedoch eine Entkräftung.
Diesen Aspekt vertieft Guido Grünewald in seinem Beitrag. Er beschreibt, wie in der Bundesrepublik immer mehr Menschen den Wehrdienst verweigerten und welche sozialpolitische Bedeutung der Zivildienst gewann.
Sylka Scholz führt aus, wie militarisierte Männlichkeit seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in Deutschland hegemonial wurde. Während dieses Ideal nach 1945 noch gesellschaftlich diskreditiert war, erlebt es durch rechte und extrem rechte Kreise derzeit eine Renaissance.
Maja Apelt beleuchtet die Integration von Frauen in die Bundeswehr: Traditionell waren Frauen im medizinischen Bereich und im Musikkorps tätig, nicht jedoch im Dienst an der Waffe.
Am Lernort Keibelstraße in Berlin wurden Interviews mit ehemaligen Totalverweigerern in der DDR geführt, die für ihre Verweigerung in Untersuchungshaft kamen. Henrike Voigtländer und Jan Haverkamp berichten über die Bildungsarbeit mit Schulklassen zu diesem Thema.
Tobias Rischk diskutiert vier ausgewählte Unterrichtsmaterialien zum Thema Wehrpflicht. Er nimmt die Perspektive der Jugendlichen ein und stellt zum Schluss zentrale Fragen. Fachlich unterstützt wurde er hierbei von Karl-Heinz Lipp.
Sabrina Pfefferle rezensiert die Graphic Novel Gegen mein Gewissen von Hannah Brinkmann. Darin verarbeitet die Autorin die Wehrdienstverweigerung ihres Onkels in der alten Bundesrepublik – und die tragischen Folgen, die die Ablehnung seines Antrags für ihn hatte.
Wir danken allen Autor*innen sehr herzlich für ihre Beiträge zu dieser Magazinausgabe sowie für fachlichen Austausch, Rat und Geduld im redaktionellen Prozess. Da das Thema von aktueller Brisanz ist, haben einige Autor*innen persönliche Stellungnahmen und Positionierungen in ihre Texte eingefügt und verlassen dort bewusst den Pfad der Historiografie − darauf möchten wir ausdrücklich hinweisen. Unser Dank gilt außerdem der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, die diese Ausgabe des LaG-Magazins fördert.
Die nächste Ausgabe des LaG-Magazins erscheint am 24. September 2025. Darin werfen wir einen kritischen Blick auf den Tag der Deutschen Einheit und bringen ergänzend neue Perspektiven auf Feiertags- und Gedenkkulturen ein.
Wir wünschen Ihnen eine erhellende Lektüre!
Ihre
LaG-Redaktion