„Wir erinnern uns, und Ihr?“ Erinnerungskultur im heutigen Russland
Welche Motivation gibt es für eine Nation, sich zu erinnern an jene verdrängten, dunklen Ereignisse in der eigenen Geschichte? - Eine fundamentale Frage, mit der sich jede neue Generation konfrontiert sieht. Die Verantwortung für die Vergangenheit wird weitergegeben von Generation zu Generation, ebenso wie die Aufgabe, sich mit ihr auseinander zu setzen und sie lebendig zu halten. Das kollektive Gedächtnis ist keine statische Instanz, die sich durch ein obligatorisches Geschichtscurriculum und staatlich verordnete Gedenktage zementieren ließe. Nein, es ist ein lebendiger Prozess, der Initiative erfordert, der auch immer wieder die eigene Motivation hinterfragt und diskursiv von jeder Gesellschaft neu geprägt wird.
Während einer von der Forschungsstelle Osteuropa und der Organisation Jugendmemorial organisierten Forschungsreise im Sommer 2009 nahm eine Gruppe junger deutscher und russischer Studenten und Wissenschaftler die Suche nach Spuren des stalinistischen Terrors in der russischen Region Perm auf. Im Zentrum standen der Besuch und die kritische Analyse ausgewählter Gedenkorte, die mit dem sowjetischen Lagersystem in Beziehung stehen. Im Folgenden einige Gedanken zu der sich entwickelnden russischen Erinnerungskultur und ihrer Bedeutung für gesellschaftliches Leben heute.
Derzeit steht die Erinnerungskultur in Russland sehr stark im Wechselspiel mit dem historischen Wandel des Landes und den jeweiligen, damit einher gehenden Veränderungen im kollektiven Geschichtsbewusstsein. Weil sich ein Geschichtsbewusstsein nicht allein durch Geschichtsbücher generieren lässt, ist das Museum, d. h. der real erfahrbare Gedenkort, eine sinnvolle Ergänzung und möglicher Katalysator für die Erinnerungskultur. Doch wie kann eine Gedenkstätte eine so verantwortungsvolle Rolle erfüllen? Welche Formen der (Re-)Präsentation der Vergangenheit sollten gewählt werden? Und wie kann sich die Gedenkstätte analog zum vorherrschenden Geschichtsbewusstsein weiterentwickeln?
In Russland sahen sich die jungen Deutschen gezwungen, ihre Vorstellung von Geschichtsaufarbeitung und die Erwartung an eine Gedenkstätte zumindest teilweise zu revidieren, wie auch das gängige deutsche Verständnis des Lagerbegriffs. Während in Deutschland unter „Lager“ meist ausschließlich Konzentrationslager und Vernichtungslager der Vergangenheit verstanden wird, handelt es sich dabei in Russland zunächst einmal um eine Straf- oder Arbeitskolonie, d. h. um ein Gefängnis. Einige dieser Lager wurden in Form von stalinistischen Gulags zu Orten grausamer Verbrechen. Zunächst einmal ist das Lager - auch „Цона“ (Zona) genannt - jedoch noch immer Teil der russischen Gesellschaft, sein Charakter und die Haftbedingungen abhängig vom jeweils herrschenden politischen System.
Im Laufe der deutsch-russischen Expedition wurden ehemalige politische Lager verschiedener Ausprägung, d. h. Straf- und Arbeitsbesserungsanstalten speziell für politische Gefangene, besucht. In der Nähe der Uralstadt Perm befindet sich heute die Gedenkstätte Perm-36 (Memorial’nyj Muzei političeskich repressij), das auch als „einziges Gulag-Museum auf ehemaligem sowjetischem Territorium“ gilt. Es handelt sich um einen authentischen Ort, an dem vorwiegend die Arbeitsbesserungsanstalt No. 6 (von 1946 bis 1972) thematisiert wird, obwohl es auf dem Gelände auch vor und nach dieser Periode Lager gab. Seine Authentizität wird von der Museumsleitung ausdrücklich betont, wenngleich fast alle Exponate Rekonstruktionen sind.
An diesem Ort wird exemplarisch deutlich, welch große Bedeutung Bildungsstand und Erwartungshaltung der Besucher für die Wirkkraft eines Ortes haben. Eigentlich ist es offensichtlich, dass eine möglichst authentische Rekonstruktion eines Ortes bei den Besuchern etwas anderes hervorruft, als z. B. ein authentischer Ort, der nur noch aus Ruinen besteht, welche höchstens erahnen lassen, was sich an diesem Ort abgespielt hat. Die Wirkung hängt ganz entscheidend davon ab, wie auf den Besucher eingegangen wird und wie die vorherrschende Geschichtspolitik im Land ihn vorgeprägt hat. Haben die Menschen die Geschichte nicht vor ihrem inneren Auge, dann möchten sie naturgemäß „wissen, wie es damals war“. Dazu sind visuelle Eindrücke unabdingbar. Eine Person mit solidem Hintergrundwissen braucht jedoch keine Inszenierung, sondern lediglich Anstöße zur Reflexion und Raum für eigene Interpretation. Das rekonstruierte Lager Perm-36 ist ein Ort, der Wissen vermittelt und den Leuten zeigt „wie es damals war“, doch ob er ein Ort des Gedenkens und der Besinnung ist, sei dahingestellt.
Die Museumspädagogen und -kuratoren stehen bei der Wahl der Darstellungsform vor keiner leichten Aufgabe. Perm-36 zeigt deutlich, dass eine reine Musealisierung oder Historisierung des staatlichen Terrors und des Gulag den Besuchern zwar Fakten vermitteln kann, die aber eventuell zu wenig Anstoß für Reflexion und Verinnerlichung geben und derer sie sich möglicherweise in den entscheidenden Momenten nicht entsinnen werden. Dieser fundamentale Aspekt des historischen Lernprozesses wurde insbesondere von Walter Benjamin gut beschrieben: „Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen‚ ‘wie es denn eigentlich gewesen ist’. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt“ (Walter Benjamin, These VI in „Über den Begriff der Geschichte“).
Die unterschiedlichen Ausprägungen von Vergangenheitsarbeit im heutigen Russland zeigen vor allem eines: sie sind alle wichtig und haben ihre Berechtigung. Es muss das Museum geben, das durch Inszenierungen Wissen vermittelt. Einstellungsänderungen können dabei aber nur durch Einsicht und Begreifen erfolgen, und nicht etwa durch Moralisieren, durch „absolute Wahrheiten“ oder emotionale Überwältigung suggestiv erzwungen werden. Es muss genauso den Gedenkort geben, der die Vergangenheit behutsam zurückholt, ihre fragilen Spuren so belässt, ernst nimmt und dem Besucher Raum für eigene Interpretation und Besinnung lässt. Auf dem Territorium des ehemaligen Politlagers „Stvor“, das sich abseits von jeglicher Zivilisation befindet und weit davon entfernt ist, ‚musealisiert’ zu werden, sticht jedem Besucher ein solcher „Raum“ sofort ins Auge. Auf einer Mauer steht in leuchtend roten Buchstaben: „мы помним, а вы?“ („Wir erinnern uns, und Ihr?“). Dieser konfrontierende Appell, der gleichzeitig Einladung zum Dialog ist, geht von einer neuen Generation aus, die das Schweigen der Eltern und Großeltern brechen möchte.
Diese Generation muss sich beeilen. In Russland und in Deutschland, wie überall eigentlich, sind bereits viele der ehemaligen Häftlinge verstorben. Somit können junge Menschen nur noch mittelbar in Kontakt mit der Geschichte treten. Es darf auch nicht übersehen werden, dass sich tendenziell mit der Zeit die Authentizität der Orte und die unmittelbare Begreifbarkeit vergangener Verbrechen reduzieren. Und je weiter die Zeit voranschreitet, desto mehr entzieht sie sich unserem unmittelbaren Zugriff. Somit wird sich auch die Motivation zur Erinnerung verändern: im Vordergrund steht nicht mehr die alleinige Rekapitulation vergangener Ereignisse, sondern eine Reflexion darüber, wie diese Ereignisse in der heutigen Zeit verstanden werden und was für Parallelen gezogen werden können.
Ein entscheidender Faktor bei der Interpretation der Vergangenheit bleibt die Freiheit des Einzelnen, sich sein eigenes Bild zu machen und die Geschichte für sich selbst zu deuten. Solange es diese Freiheit gibt, solange ist auch die Vergangenheit präsent, lebendig und gesellschaftsformend. Eine Erinnerungskultur ist insbesondere für das heutige Russland wichtig, als sie ein lebendiger und von der Gesellschaft selbst initiierter Prozess ist, der das Potenzial besitzt sich einer instrumentalisierenden Geschichtspolitik zu widersetzen. Museen und Gedenkstätten spielen eine wesentliche Rolle, indem sie zum Dialog anregen, aber auch selbst dazu lernen, sich unaufgefordert weiterentwickeln und sich schließlich selbst als im geschichtlichen Prozess befindlich begreifen.
Zum Weiterlesen:
Knigge, Volkhard/ Mählert, Ulrich (Hg.): Der Kommunismus im Museum. Formen der Auseinandersetzung in Deutschland und Ostmitteleuropa, Köln, 2005.