Seit dem Zusammenbruch des „Ostblocks“ bildet sich eine gemeinsame europäische Erinnerungskultur heraus. Diese Europäisierung des Gedenkens kann als ein Prozess der relativierenden Transformation der nationalen Perspektiven und Opfermythen verstanden werden, als Veränderung der Geschichtsbilder im Sinne einer Anreicherung mit europäischen Bezügen. Die in der Nachkriegszeit vorherrschenden nationalen Opfer- und Widerstandserzählungen werden von der Frage nach der Verantwortung der eignen Nation an begangenen Verbrechen abgelöst.
Diese Europäisierung des Gedenkens ist eng verbunden mit der zunehmenden Bedeutung der Erinnerung an den Holocaust, der als „negative Ikone“ der Epoche ins Bewusstsein trat – jedenfalls in „Westeuropa“ und anderen „westlichen“ Ländern. Die neue Entwicklung stammt auf zweifache Weise aus den USA: Zum einen transformierte die amerikanische Medienlandschaft den Holocaust in ein konsumierbares Produkt (Beispiel: Schindlers Liste); und zum anderen wurde der Holocaust zu einem universellen Bezugsrahmen. Gerade das Unvorstellbare des Holocaust trug zu seiner Entkontextualisierung bei, sodass er zum moralischen Maßstab der Unterscheidung zwischen gut und böse wurde. Er steht als Sinnbild für die Opfererfahrung schlechthin, da sich soziale und ethnische Gruppen weltweit auf den Holocaust berufen, um ihren Diskriminierungserfahrungen politische Geltung zu verschaffen. Das individuelle Opfer rückt dabei so stark in den Fokus des Gedenkens, dass der historische Kontext der jeweiligen Ereignisse eine immer geringere Rolle spielt.
In Europa besitzt diese Entwicklung noch eine zusätzliche, identitätsstiftende Komponente: Der Holocaust wird zu einem negativen europäischen Gründungsmythos. Das geeinte Europa nach 1945 wird als „Schicksalsgemeinschaft“ begriffen, die aus dem „Zivilisationsbruch Auschwitz“ eine Lehre gezogen und gemeinsame Strukturen entwickelt habe, um Ähnliches zu verhindern. In einer Zeit, in der nach einer europäischen Identität des neuen, vereinigten Europas gesucht wird, die über eine Wirtschafts- und Währungsunion hinausgeht, erfüllt dieser Gründungsmythos eine identitätsstiftende Wirkung. Am 27. Januar 2000, dem Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, fand in Stockholm eine große internationale Holocaust-Konferenz statt, an der erstmals Regierungschefs und -chefinnen aus 46 Ländern teilnahmen. Ein Ergebnis war die Empfehlung, alle Staaten sollten den 27. Januar oder ein anderes, national bedeutsames Datum als Holocaust-Gedenktag einführen. Damit wurden erste Ansätze unternommen, europäische Erinnerungsstandards zu entwickeln, die auch bei der EU-Osterweiterung zwar nicht offiziell, aber letztlich dennoch eine Rolle gespielt haben. So wurde in Budapest 2004 knapp vor dem EU-Beitritt das Holocaust Memorial Center eröffnet, obwohl die Ausstellung nicht rechtzeitig fertig geworden war und man somit ein fast leeres Gebäude eröffnete.
Der Versuch, dem Holocaust einen aktuellen Sinn, die moralische Legitimierung der EU, zuzuweisen, birgt mehrere Gefahren. Das komplexe Ereignis wird in der identitätsstiftenden Betrachtung aus dem historischen Kontext gelöst. Dabei wird meist von den konkreten Opfern, Täterinnen und Tätern ebenso abstrahiert wie von der besonderen Rolle Deutschlands und Österreichs. Die Fokussierung der Erinnerung auf das individuelle Opfer befördert ferner die Tendenz, alle im Zweiten Weltkrieg Getöteten ohne Rücksicht auf den Kontext als „gleichermaßen“ unschuldige Opfer zu deuten – etwa die deutschen Vertriebenen und Bombenopfer. Die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges werden also einerseits „enthistoriert“ und andererseits als moralische Lehre begriffen: Weil man aus dem Holocaust gelernt habe, begreift man Opfer heutiger Konflikte, etwa „die Muslime“, „die Bosnier“ oder „die Palästinenser“ als „Juden von heute“. Damit wird aus der sinnlosen Vernichtung eine lehrreiche, sinnvolle Erfahrung, die somit auch einen positiven Effekt gehabt habe: ein neues, geeintes Europa. Die Haltung, dass man seine eigene Vergangenheit nun selbstkritisch „bewältigt“ habe, erlaubte es Deutschland, die Devise „Nie wieder Auschwitz“ für gegenwartspolitische Zwecke zu gebrauchen. So wurde im Zuge der Jugoslawien-Kriege mit Ausdrücken wie „Rampe von Srebrenica“ und „ein neues Auschwitz im Kosovo verhindern“ der Nato-Krieg im Kosovo 1999 legitimiert, der ohne ein Mandat der UNO stattfand.
Parallel zu dieser „Europäisierung des Holocaust“ kam es in den post-sozialistischen Staaten nach 1989 zu einem Neuaushandeln von Geschichte. Zusammen mit der staatssozialistischen Gesellschaftsordnung wurde auch die Geschichtserzählung vom heldenhaften antifaschistischen Kampf delegitimiert. Im Zentrum der Erinnerung steht dort das Trauma der kommunistischen Verbrechen. Symbole, die hierzulande automatisch mit der Shoa assoziiert werden, wie etwa Eisenbahngleise, stehen in diesen Ländern für die Deportation in den Gulag. Vertreter und Vertreterinnen post-sozialistischer Staaten fordern heute, die staatssozialistischen Verbrechen „in gleichem Maße“ zu verurteilen wie den Holocaust. Im „Haus des Terrors“ in Budapest werden die „Pfeilkreuzler“, welche mit dem Dritten Reich kollaboriert haben, mit den danach an die Macht gelangten Sozialisten gleichgesetzt.
In diesem Sinne erklärte im Sommer 2009 das EU-Parlament den Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes von 1939, den 23. August, zum Tag des Gedenkens an die Opfer von Nationalsozialismus und Kommunismus. Damit wird nicht bloß das Gedenken an die Opfer des Stalinismus in den europäischen Kanon aufgenommen, sondern es werden ausdrücklich die Opfer beider Regime gleichgesetzt. Das ‚eigene Volk’ wird erneut als ein unschuldiges Opfer grausamer Unterdrückung von außen (durch Stalin und Hitler) begriffen. Dadurch wird die Beteiligung der eigenen Gesellschaft am staatssozialistischen Herrschaftssystem geleugnet, die Verantwortung für die begangenen Verbrechen von sich weggeschoben.
Der Versuch, eine europäische Erinnerungskultur zu schaffen, kann in zweierlei Richtungen gehen. Einerseits wird in Brüssel ein Europamuseum eröffnet und es gibt Versuche, ein europäisches Geschichtsbuch zu entwerfen. Dabei stellt sich jedoch die Frage, ob die Festschreibung einer Geschichte auf europäischer Ebene nicht die gleichen Gefahren mit sich bringt, wie dies nationale Geschichtserzählungen tun: Zum Zwecke der Schaffung einer gemeinsamen Identität wird ein minimaler Konsens über einen Geschichtskanon erzielt, der für alle, die ein Mitspracherecht haben, tragbar ist. Dabei müssen zwangsläufig die Erinnerungen bestimmter ethnischer Gruppen und gesellschaftlicher Schichten ausgeblendet werden. Nötig wäre es hingegen gerade, diesen Ausgrenzungsmechanismen entgegenzuwirken. Außerdem bleibt die Gefahr, dass das Erinnern bei einem derartigen Vorgehen in einen Kampf um Opferhierarchien umschlägt, der zu einer Verschärfung der Gegensätze zwischen „Ost“ und „West“ führen kann.
Eine andere Strategie könnte damit beginnen, dass man sich in Ost- wie Westeuropa um eine bessere wechselseitige Kenntnis der Leidens- und Opfererfahrungen im 20. Jahrhundert bemüht. Dabei müssten jedoch Tendenzen wie die Gleichsetzung von Opferschicksalen (mit dem Holocaust) und die damit gegenwärtig verbundene Hierarchisierung der Opfer kritisch beleuchtet werden. Eine „europäische Erinnerungskultur“ könnte dann als selbstkritische Auseinandersetzung eines jeden Landes mit seiner eigenen Vergangenheit unter Ausrichtung an gemeinsamen europäischen Normen gedacht werden – als bewusste Distanzierung von traditionellem Nationalismus: im Sinne einer Vereinheitlichung von Praktiken und selbstkritischen politischen Positionierungen, nicht im Sinne einer Gleichmacherei von historisch-kulturellen Inhalten. Jede Geschichte ist EU-beitrittsfähig – aber nicht jede Art von Umgang damit.