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Antisemitismus ist als Herausforderung und Problemstellung im pädagogischen Alltag von Schulen und Jugendclubs kaum übersehbar. Die Berichte über kleinere und größere Vorkommnisse mit antisemitischer Grundierung, die mit der beschimpfend gemeinten Etikettierung „Du Jude“ des Gegenüber beginnen und bis zur Terrorisierung von realen oder fantasierten Mitschüler/innen als Juden reichen kann, sind inzwischen zahllos. In manchen Ballungsräumen scheint eine antisemitisch-antizionistische Haltung ein Merkmal von Zugehörigkeit zu verschiedenen Subkulturen zu markieren.
Gleichzeitig ist die Forschungslage zu Motivationen, Herkunft und Trägergruppen antisemitischer Ressentiment nach wie vor unübersichtlich bis widersprüchlich und zugleich begleitet von vereindeutigenden und engführenden Zuschreibungen in Feuilletons oder Internetblogs, die als Träger eines vermeintlich neuen Antisemitismus jugendliche Migrant/innen oder schlicht Muslime ausmachen.
Wolfram Stender, Guido Follert und Mihri Özdogan wollen mit der Aufsatzsammlung „Konstellationen des Antisemitismus“ einen Überblick über den Stand der aktuellen Forschung auf dem Themenfeld liefern. Die Aufsätze zeigen darüber hinausgehend „Grundlinien für eine antisemitismuskritische Kompetenz in der Sozialen Arbeit“ auf.
Der einleitende Problemaufriss im titelgebenden Aufsatz von Wolfram Stender führt fachkundig in die Thematik ein. Er bietet auch den Laien einen verständlichen Überblick über die unterschiedlichen Ansätze der Antisemitismusforschung und würdigt dabei die theoretischen und empirischen Grundlagenarbeiten der Kritischen Theorie im Umfeld von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer ausführlich. Im Rahmen eines eigenen Forschungsprojekts im Sommer 2008 haben die drei Herausgeber, allesamt in der Abteilung Soziale Arbeit der Fachhochschule Hannover lehrend, sechs Gruppendiskussionen an Haupt- und Realschulen einer norddeutschen Großstadt geführt.
Den Ergebnissen der Befragung ist im zweiten Teil des Bandes ein eigener Beitrag gewidmet. Stender legt dar, dass die Reaktionen auf antisemitische Äußerungen zwischen bagatellisieren, verschweigen, unsichtbar machen oder unangemessener Dramatisierung schwanken, in dem die Lehrkräfte „den Antisemitismus als ausschließliches Problem der 'muslimischen Schüler' darstellten“ (S. 20). Treffend wird die Situation in folgender Passage analysiert: „Tatsächlich kommt der Antisemitismus nicht von außen, sondern aus dem Innersten der Gesellschaft, und zwar in allen seinen Varianten. Auch der Antisemitismus 'muslimischer Migranten' kann nicht auf seine massenmedial importierten Varianten reduziert werden, sondern muss im Zusammenhang mit einem rassifizierten System der gesellschaftlichen Arbeitsteilung begriffen werden, das die europäischen Migrationsgesellschaften heute kennzeichnet“ (S. 27).
Das ausführliche Zitat rechtfertigt sich an dieser Stelle, da es die Leitlinie der Aufsatzsammlung vorgibt. Im theoretischen Teil nimmt der Sozialpsychologe Rolf Pohl eine psychoanalytische Perspektive ein, aus der heraus er die Attraktivität des Antisemitismus als Form der subjektiven Angstverarbeitung beschreibt und so die normalitätsstabilisierende Funktion des Ressentiments offen legt.
Darauf folgend zeigt Jan Weyand wie für die semantische Struktur des modernen Antisemitismus, in Anlehnung an das wissenssoziologische Konzept von Klaus Holz, der Totalausschluss der Juden aus der menschlichen Welt ein Wesensmerkmal ist.
Astrid Messerschmidt fokussiert sich in ihrem Beitrag auf die Konstellationen des Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft. Sie argumentiert gegen die Zuschreibungen, die in der Verortung von Antisemitismus als „spezifischem Gruppenphänomen“ (S. 94) von Migrant/innen als die „Anderen“ liegen. Antisemitismus ist für Messerschmidt als Bildungsproblem zu identifizieren, „dass alle angeht und nicht nur einige Gruppen der Gesellschaft betrifft“ (S. 94).
Auch Klaus Holz und Michael Kiefer wenden sich gegen eine „identifizierende Sicht auf den Antisemitismus als Wesensmerkmal des Islam“ (S.31). Vor allem Kiefer spricht an anderer Stelle zu recht von einem islamisierten Antisemitismus statt von islamischem Antisemitismus in der arabischen Welt. Bei dem islamisierten Antisemitismus handelt folglich um eine Art Rückimport via Medien, aber auch durch islamistische Organisationen.
Claudia Dantschke erörtert daran anschließend den funktionalen Charakter den der Antisemitismus für islamistische, aber auch türkische säkular-nationalistische, Gemeinschaftsideologien hat.
Zum Abschluss des theoretischen Teils beschäftigt sich Nicola Tietze mit Zugehörigkeitskonstruktionen von „Personen, die sich als Muslime oder Palästinenser beschreiben“ (S. 32). Dabei kommt ihre Aufmerksamkeit vor allem „den Bildern über Juden und Israel zu, die die Muslime in der Rechtfertigung ihrer Zugehörigkeitskonstruktionen aufrufen“ (S. 147).
Die folgenden Beiträge aus der Praxis befassen sich in der Mehrzahl mit Erscheinungsformen von Antisemitismus oder anders formuliert mit Antisemitismen.
Heike Radvan beschäftigt sich auf der Grundlage ihres Dissertationsprojekts damit wie „in der offenen Jugendarbeit mit gegenwärtigen Erscheinungsformen von Antisemitismus umgegangen wird“ (S. 165). Sie identifiziert nicht nur die Handlungsdefizite der Pädagog/innen, sondern diskutiert konstruktiv „welche Handlungskompetenzen Jugendpädagogen im Rahmen der Aus- und Weiterbildung sinnvoll vermittelt werden können“ (S. 176).
Das Modellprojekt „amira – Antisemitismus im Kontext von Migration und Rassismus“ ist mit zwei Beiträgen im Buch vertreten. Gabriel Fréville, Susanna Harms und Serhat Karakayalı stellen die Ergebnisse einer Befragung von Jugendclubs und Migrant/innen-Organisationen im Berliner Stadtteil Kreuzberg vor. Eine Sensibilisierung auf Seiten der Jugendarbeiter/innen und der Migrant/innenorganisationen scheint demzufolge durchaus gegeben. Zu den Ergebnissen gehört eine Sammlung an Bedürfnissen, die von den Befragten geäußert worden sind. Dazu gehören interne Fortbildungen zu Antisemitismus und zur Geschichte des Nahostkonflikts, Argumentationstrainings, niedrigschwellige, nicht kognitive Methoden ebenso wie spezielle „Ansätze für den pädagogischen Umgang mit palästinensischen Jugendlichen“ (S. 195).
In ihrem zweiten Beitrag formulieren Susanna Harms und Michal Kümper praktische Überlegungen, aber auch Grenzen von jüdisch-nichtjüdischen Begegnungen als pädagogisches Angebot gegen Antisemitismus.
Die Funktion von Antisemitismus als Fragment oder als komplette Ideologie des lebensweltlichen Alltags und als Funktion einer hermetischen Deutung der Wirklichkeit in einer extrem rechten Jugendkultur schildern David Begrich und Jan Raabe.
Mirko Niehoff, Mtarbeiter der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus, versucht die „Handlungsbedingungen einer Pädagogik gegen Antisemitismus im globalisierten Klassenzimmer“ zu skizzieren. Darin plädiert er für die Einbeziehung „nicht-rassistische(r), auf Diversity zielende und/oder Menschenrechts-Ansätze“ in eine antisemitismuskritische Pädagogik.
„Konstellationen des Antisemitismus“ fasst viele Diskussionen aus der Projektarbeit gegen Antisemitismus zusammen, die in den letzten Jahren geführt worden sind. Die Autorinnen und Autoren leisten somit einen Beitrag eine antisemitismuskritische Sicht verstärkt in die praktische pädagogische und didaktische Arbeit als Querschnittaufgabe zu integrieren.