Ort/Bundesland: Brandenburg |
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Die "Geschichtshäuser zum Blättern" reihen sich ein in die Vielzahl der Veranstaltungen, Literatur-Handreichungen und Beratungsangebote der "Regionalen Arbeitsstellen für Ausländerfragen, Jugendarbeit und Schule e.V." (RAA Brandenburg) zur Initiierung lokalhistorischer Studien über das Jahr 1945 im Land Brandenburg.
Die "Geschichtshäuser zum Blättern" haben in diesem Gesamtprojekt, insbesondere für die Arbeit von und mit Kindern und Jugendlichen in Schulen und außerschulischen Einrichtungen, aber auch in der Lehrerfortbildung einen besonderen Stellenwert gewonnen. Es handelt sich um ungewöhnliche didaktische Materialien, die in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe "Pädagogisches Museum Berlin" für dieses Projekt entwickelt und produziert wurden.
Fünf selbst hergestellte Bilderlesebücher aus Pappe und Karton (siehe Bilder) in verschiedenen Beige- und Grautönen mit unterschiedlichen Formaten (ihre Größe bewegt sich innerhalb einer 50 x 80 cm-Grenze) erzeugen - wenn sie entsprechend aufgestellt werden - den Eindruck einer Ruinenlandschaft mit einer Straße davor. Ihren Umriss gestaltete die Kostüm- und Bühnenbildnerin Olga Lunow als Silhouetten unbeschädigter und halbzerstörter Häuser sowie einer Straße, dem Thema jeweils angemessen: eine Baracke für das Thema "Kriegsende", eine Mietshausruine für das "Überleben", ein halbzerstörtes Schulgebäude für "Schule in Trümmern" und ein weiteres Schul-Geschichtshaus zum Thema "Schule im Nationalsozialismus". Die Straße, dargestellt in Leporelloform, kann zum Thema Flucht und Vertreibung zu einem Flüchtlingsweg aufgeklappt werden. Fenster und Einbruchstellen in den Fassaden erlauben Einblicke nach drinnen und machen neugierig auf die Innenausstattung der Häuser.
Beim Blättern in den Häusern stellt sich heraus, dass jede Doppelseite einen speziellen inhaltlichen Aspekt vermittelt. Ihre Anzahl, maximal zehn Doppelseiten pro Buch, wurde so begrenzt, dass sich beim Blättern - und Verweilen - in einem "Geschichtshaus" das angebotene Thema in der Spanne einer Ermüdungsphase bequem verarbeiten läßt.
Wie beim Besuch einer Ausstellung können sich Jugendliche und Erwachsene zuerst einen Gesamteindruck über die verschiedenen Räume verschaffen oder - angezogen von einem Blickfang - sich sofort diesem zuwenden. Das Angebot ist, obwohl es nur aus Bildern und Texten besteht, dank der bis ins Detail durchdachten Anordnung und seiner ästhetischen Gestalt nicht nur für "Augenmenschen" ansprechend, sondern auch für "Lesewillige" und solche, die gerne etwas anfassen.
Bei den vielfältigen Angeboten zum Anfassen, Klappen, Ziehen und Herausnehmen handelt es sich nicht um technische Spielereien, sondern um Mittel zur Lenkung der Aufmerksamkeit, um Hilfen für das selbständige Aneignen der angebotenen Inhalte und für das Entwickeln eigener Fragen an die Geschichte. Die Gestaltung der Bücher ist - zumindest dem Anspruch nach - unmittelbar auf die Inhalte bezogen und verfolgt den Zweck, die angesprochenen Themen interessant zu machen. Das gilt zunächst für die Arbeit mit den "Geschichtshäusern" selbst.
Indem die sinnliche Wahrnehmung besonders angesprochen wird, kann einem einseitig kognitiven Erarbeiten oder nur distanzierten Betrachten der Bilder und Texte entgegengewirkt werden. Aus gefühlsbetonten Reaktionen wie Neugier auf Verborgenes, Freude am Entdecken verschlüsselter oder verfremdeter Informationen, Verblüffung über Bild-/Bild- oder Bild-/Text-Kontraste, Staunen und Verwirrung über bestimmte Bildaussagen oder Nachdenklichkeit könnte der Anreiz entstehen, mehr über diesen Abschnitt deutscher und europäischer Geschichte erfahren zu wollen: Interesse aus innerem Beteiligtsein, nicht weil der Lehrplan es verlangt. Von der Beschäftigung mit den "Geschichtshäusern" wird darüber hinaus ein Übertragungseffekt erwartet: Neugierverhalten und Entdeckergeist, einmal geweckt, führen zu selbständiger Recherche über die Kriegs- und Nachkriegszeit am eigenen Ort.
Zu den "Geschichtshäusern" wurde zur Vertiefung des jeweiligen Themas ein "Archiv" (ein Aktenordner mit Quellenangaben und Zusatzmaterialien) (siehe Bilder) zusammengestellt und zum Geschichtshaus "Kriegsende" zudem eine "Bücherkiste" mit zwölf ausgewählten Titeln bereitgestellt. Darüber hinaus gibt es eine umfangreiche "Bücherliste" mit Erzählungen und Romanen für Jugendliche über den Alltag im Nationalsozialismus, über Verfolgung, Widerstand, Kriegsende, Gefangenschaft, Flucht und Nachkriegszeit sowie Hinweise auf weiterführende Literatur.
Einerseits können die bereits aufgearbeiteten Informationen über das historische Geschehen in Form der "Geschichtshäuser" und in den "Archiven" als Materialbasis für eigene Fragestellungen benutzt werden; andererseits sind die angebotenen Materialien geeignet, die bei der eigenen Recherche gefundenen lokalen Dokumente und Berichte von Zeitzeugen in größere historische Zusammenhänge einzuordnen.
Eigenes Vorwissen, Erfahrungen und Meinungen von Zeitzeugen sowie Informationen zur Ortsgeschichte werden durch die Darstellung in den "Geschichtshäusern" entweder bestätigt oder mit gegenteiligen bzw. abweichenden Äußerungen, Daten und Fakten konfrontiert. Letzteres soll dazu anregen, bei der Erforschung der Geschichte den gleichen Sachverhalt aus unterschiedlicher Perspektive zu betrachten, sich die politischen Implikationen der verschiedenen Sichtweisen klar zu machen und Ausschnitte aus der Vergangenheit aus heutiger Sicht darzustellen.
Neben ihrer Funktion, lokalhistorische Studien anzuregen, haben die "Geschichtshäuser" eine Bedeutung als Hilfsmittel für die konkrete Arbeit mit Kindern und Jugendlichen: Sie erleichtern die Bearbeitung zeitgeschichtlicher Themen, demonstrieren methodisches Vorgehen, ermöglichen Arbeitsformen eines selbsttätigen und ganzheitlichen Lernens und geben Anregungen für die Form der Präsentation eigener Recherchen.
In den ersten sechs Monaten des Projekts wurden die "Geschichtshäuser" mit den Begleitmaterialien an 32 Schulen im Land Brandenburg ausgeliehen. Die Anzahl der Schulgruppen, die durchschnittlich 3-4 Stunden damit gearbeitet haben, liegt darüber, da die Materialien in den Schulen öfters "wanderten" und auch in Fachlehrergruppen und Elternversammlungen zum Einsatz kamen.
Wie beabsichtigt, bildeten die "Geschichtshäuser" in den Klassen- und Projektgruppen entweder Ausgangspunkt für eigene Recherchen und produktorientiertes Arbeiten oder reaktivierten schon vorhandene Projekte. Die Bandbreite erstreckt sich vom Nachbau der Häuser zu lokalhistorischen Themen, über Foto-/Text-Seiten (Collagen), Wandzeitungen, Zeitungsberichten von "damals", Ereignislandkarten, Betriebsdokumentationen, Dokumente über Lager, Straßen, Wohnhäuser, Kasernen, Bunker und Schicksale der örtlichen jüdischen Bevölkerung bis hin zur Nachbildung des Flüchtlingsweges aus Knetmasse. Es ist den Arbeiten anzusehen, dass die Jugendlichen mit Neugierde sowie Freude an den Recherchen und - trotz des teilweise erheblichen außerschulischen Aufwandes - mit nicht nachlassendem Eifer gearbeitet haben. Der Reiz der "Geschichtshäuser" liegt darin, dass sie ganz unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse ansprechen und offen lassen, wie die einzelnen Nutzer damit umgehen.