Zeitzeugengespräche gelten allgemein in der pädagogischen Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus als besonders wirkungsvoll. Nur durch Konfrontation mit einem lebenden Zeitzeugen sei Interesse und emotionale Betroffenheit bei heutigen Jugendlichen zu bewirken.
Erzählungen persönlicher und emotionaler Wahrnehmung des Zeitgeschehens sind meist mit der Erwartungen verbunden, nur von den Zeitzeugen sei zu erfahren, "wie es wirklich gewesen ist". Doch je länger der Abstand zur erlebten Zeit ist, umso häufiger sind Zeitzeugenberichte vermischt mit nachträglich gelesener Sachliteratur, eigenen Konstrukten oder Darstellungen anderer Zeitzeugen. Insofern ist das, was Zeitzeugen als Erinnerung mitteilen, subjektiv, selektiv und oft leider auch nicht übereinstimmend mit erwiesenen Fakten. Keiner wird auch auf direkte Nachfrage von Erlebnissen sprechen, die er nicht preisgeben will.
Das Gedenkjahr 2005 ist gewiss eines der letzten, in dem wenige hochbetagte Überlebende noch direkt befragt werden können. Demnächst jedoch wird man beim Geschichtslernen über die Epoche des Nationalsozialismus ganz ohne die direkte Begegnung mit Überlebenden auskommen müssen. Die allerdings oft geäußerte Sorge, ohne die Zeitzeugen würde diese Geschichte vergessen, ist unsinnig. Zeitzeugenberichte gibt es in Hülle und Fülle in Büchern, Archiven, und unzähligern digitalen Aufzeichnungen von Interviews. Man muss freilich in Zukunft sich die Mühe machen zu recherchieren und vor allem bereit sein zu lesen.
Die jüngeren Zeitzeugen, die sich nun zu Wort melden, wurden zwischen 1930 bis 1945 geboren und erlebten das damaligen Geschehen als Kinder und Jugendliche, sei es als Opfer von Diskriminierung, Verfolgung und Genozid, sei es, dass sie durch Krieg, Zerstörung ihrer Lebenswelt, Verschleppung, Gefangenschaft oder Vertreibung unfreiwillig traumatisierenden Erlebnissen ausgesetzt waren. Diese Zeitzeugen haben eine andere Erinnerung und auch eine andere Art, das Erlebte auszudrücken, als die damals schon Erwachsenen.
All die Jahre hatten Kinder nicht als Überlebende gezählt und ihre Erinnerungen nicht als Zeugnisse gegolten. Einer von ihnen ist der heute in Jerusalem lebende Schriftsteller Aharon Appelfeld, dessen Lebenserinnerungen mit dem nüchternen Titel "Geschichte eines Lebens" im Januar 2005 in deutscher Übersetzung im Rowohlt Berlin-Verlag erschienen sind.
Appelfeld wurde 1932 in Czernowitz geboren, der Hauptstadt der Bukowina, ehemals Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie. In den dreißiger Jahren lebten dort Russen, Polen, Deutsche, Ukrainer Huzulen und Juden neben- und miteinander. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung war jüdisch. Von den seinerzeit 150.000 Einwohnern der Stadt kamen 100.000 um. Von den ca. 55 000 Czernowitzer Juden überlebten etwa 18.000 den Holocaust.
Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges war Appelfeld sieben Jahre alt und hieß mit Vornamen Erwin. In den ersten Kapiteln schildert er Begebenheiten seiner behüteten Kindheit in einer wohlhabenden, assimilierten jüdischen Familie und als erstes einschneidenden Erlebnis den Tod des frommen Großvaters noch kurz vor der Katastrophe. Seine Mutter und Großmutter wurden gleich zu Kriegsanfang von Deutschen und Rumänen ermordet. Er und sein Vater kamen ins Ghetto und anschließend in ein Arbeitslager in Transnistrien, wo der Vater starb. Dem Zehnjährigen gelang 1942 die Flucht. Bis zum Kriegsende lebte er allein in den ukrainischen Wäldern, fand Unterschlupf bei Bauern, Prostituierten und Dieben und schloss sich 1944 als Küchenjunge der Roten Armee an.
Auf abenteuerlichen Wegen gelangte er über Jugoslawien und Italien 1946 nach Palästina. Dort musste der Vierzehnjährige allein auf sich gestellt und ohne Sprache ein neues Leben anfangen. Er, der mit vier Sprachen aufwuchs – Deutsch war die Sprache seine Mutter, Jiddisch die der Großeltern, Ruthenisch und Rumänisch die seiner Umgebung – musste Hebräisch als neue Sprache lernen und Schulbildung nachholen, bevor er anfing, Tagebücher, Erzählungen und Romane zu schreiben.
Sowohl das Einleben in Israel als auch das Erlernen der Sprache fiel ihm nicht leicht. Von dem schwierigen Neuanfang und Weiterleben in Israel handelt der überwiegende Teil des Buches. Appelfeld erzählt nicht chronologisch sondern reiht eher ungeordnet Erinnerungssplitter aneinander, bedrückende, anrührende bisweilen spröde Schilderungen von Kindern, Helfern und Tätern. Man merkt seiner Sprache an, wie schwer es ihm fällt, die geeigneten Worte für Gefühle zu finden. Appelfeld will nicht als „Dichter der Shoah“ verstanden werden, sondern als Schriftsteller, der über jüdische Menschen schreibt und nicht über den Holocaust.
In seinen mehr als zwanzig Büchern konzentriert er sich vor allem auf die Zeit nach dem Krieg und die Folgen der traumatischen Erlebnisse. Schreiben ist, wie er sagt, für ihn eine Notwendigkeit geworden, mit den Erinnerungen zu leben.
Als Lektüre sehr zu empfehlen für den Geschichts- und Literaturunterricht.