März 21. Donez Brückenkopf über den Donez. 75 m raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für mein MG. Anhand dieser und anderer Tagebucheintragungen, versucht der 1940 geborene Schriftsteller Uwe Timm zu verstehen, was seinen Bruder Karl Heinz dazu veranlasste, sich im Dezember 1942 freiwillig für den Dienst in der Waffen-SS zu melden.
Im September 1943 schwer verwundet und stirbt er in einem Lazarett der Wehrmacht auf dem Gebiet der Ukraine. In der Familie und ihren Nahkriegserzählungen bleibt der große Bruder jedoch anwesend, sei es als Ansatzpunkt für die Distanzierungserzählungen der Eltern gegenüber dem Nationalsozialismus oder in ihren Aufstiegsträumen der Nachkriegszeit als die phantastische Gestalt des erfolgreichen Machers.
Dieses Buch ist keine Familienbiographie oder ein Tatsachenroman. Am ehesten ist es eine Reportage über die Erfahrungen des Autors Uwe Timm bei einer Forschungsreise durch die Vergangenheit seiner Familie während des Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit. Und sie ist eine Bestandsaufnahme der eigenen Verflechtung, des heutigen Standpunkts.
Der Impuls, über den Bruder zu schreiben, sich ein Bild von ihm zu machen, von seiner Generation im Nazikrieg, erwächst bei Uwe Timm auch aus der Notwendigkeit, über die Voraussetzungen der eigenen Biographie Klarheit zu gewinnen. Es ist die Frage nach familiären Prägungen, nach Werten und Erziehungszielen, nach Liebe, Nähe und Respekt unter den Bedingungen des nationalsozialistischen Zivilisationsbruchs. Warum hat sich der Bruder freiwillig zur SS gemeldet? Wie ging er mit der Verpflichtung zum Töten um? Welche Optionen hatte er, welche Möglichkeiten blieben ihm verschlossen? Wo ist der Ort der Schuld, wo der des Gewissens bei den Eltern, die ihn überlebt haben?
Familiengeschichtlich arbeitende Auseinandersetzungen mit der Frage nach Täterschaft sind gerade im letzten Jahr häufiger publiziert worden. Die hohe Qualität dieser Reportage entsteht durch die genaue Beschreibung der alltäglichen Ereignisse sowie der unprätenziösen Art, zu erzählen, zu fragen und nicht zu richten. Timm entwickelt sich nicht zum Gegenbild eines irreal handelnden und unheimlichen Bruders. Als Chronist seiner Familie stellt er sich, seine Familienmitglieder und die Familienerzählungen neben den Bruder und versucht so eine Realität zu beschreiben, aus der heraus die Motivationen des Bruders nicht mehr unerklärbar wirken.
Uwe Timm erzählt an keiner Stelle mit erhobenem Zeigefinger, er verurteilt nicht, er geht auf Spurensuche und beschreibt die Motivation der Täter aus einer individuellen familiengeschichtlichen Perspektive. In dieser Individualisierung liegt gleichzeitig Vorteil und Schwierigkeit für die pädagogische Arbeit mit dem Buch. Der persönliche und nichtverurteilende Zugang erlaubt den Lesern weitaus weniger Distanz als dies gegenüber TäterInnen in anderen Publikationen möglich ist.
Die radikal persönliche Sichtweise verdeckt jedoch die Tatsache, dass der verheerende Weg des Bruders sich nicht ausschließlich aus dessen Person und seinem Leben in der Familie erklären lässt. Genauso verhält es sich mit dem gefährlich dumpfen Brüten des Vaters, das die Familie an die Vergangenheit bindet.
Kontextualisiert werden muss diese Lektüre mit Informationen über strukturelle, handlungsleitende Momente, sowohl in der Zeit des Nationalsozialismus als auch danach. Ob dieser Komplexität ist das Buch ausschließlich für die Arbeit in der gymnasialen Oberstufe geeignet. Hier bietet es jedoch nicht nur Anregungen, um über die Motivationen der Täterinnen und Täter und das Verdrängen der Nachkriegszeit zu sprechen oder zu eigener familienbiographischer Arbeit anzuregen.
Die Schwierigkeit Timms, geliebte und idealisierte Personen mit ihrem Verbrechen (Bruder) oder ihrem Unvermögen (Eltern) zu konfrontieren bietet einen Ansatz für eine intensive Auseinandersetzung mit den Schülerinnen und Schülern über diese, familienbiographischer Arbeit strukturell innewohnende, Problematik.
Uwe Timm veröffentlichte das Buch erst, nachdem Schwester und Mutter gestorben waren.