"Zuerst nahm man ihnen die Dokumente, die Kleider und die Wertsachen ab. Die Pässe, Dokumente und Fotografien wurden sofort ins Feuer geworfen. Den Frauen wurden die Kleider heruntergerissen und auf einen riesigen Haufen geworfen. Die nackten Frauen, Kinder und Alten wurden in geschlossene Autos getrieben und nach Babi Jar gebracht. Es ist unmöglich zu beschreiben, was an diesem Ort vor sich ging - Hysterie und Terror, Weinen und Verzweiflung, Betteln von Müttern um Gnade für ihre Kinder. Viele verloren das Bewusstsein. An diesem Ort wurde ich für immer von meiner Mama und meiner Schwester getrennt. Sie wurden in Vergasungswagen weggebracht, und ich wurde am Kragen gepackt und in die Reihe gesteckt, wo die Männer, Jugendlichen und die Alten standen, die noch gehen konnten. Sie stellten Gruppen von 100 bis 150 Leuten zusammen und führten sie kolonnenweise, zu Fuß, unter Bewachung von Soldaten nach Babi Jar zur Erschießung. Von den ersten Schritten unseres Weges an begann ich nach irgendeiner Möglichkeit zu suchen, um aus der Kolonne zu flüchten. Aber wie und auf welche Weise? Die Kolonne wurde von bewaffneten Hitlermännern geführt und als es nur noch 250 oder 300 Meter bis Babi Jar waren (man konnte schon Schreie und Schüsse hören), sprang ich unauffällig aus der Kolonne in den Straßengraben, kroch in ein Wasserabflussrohr unter der Straße und saß dort bis zum Einbruch der Dunkelheit."
So beschreibt Ruwim Schtein den Beginn seiner Flucht vor den Deutschen. Zuerst für Monate versteckt bei einer ukrainischen Familie schließt er sich später der Roten Armee an, um gegen die Deutschen zu kämpfen.
Diese und 85 weitere Berichte von Überlebenden der Ghettos in der Ukraine hat Boris Zabarko, selbst Überlebender des Ghettos von Schargorod gesammelt. Und in jedem der Berichte schwingt die Trauer und Klage mit: "Nur wir haben überlebt".
Als Kinder oder Jugendliche wurden sie Zeugen, wie ihre Eltern, Geschwister und alle Familienangehörigen ermordet wurden. Ihr Überleben verdanken sie zumeist glücklichen Umständen - helfende Ukrainer oder Deutsche blieben Einzelfälle. Viele der Geschichten erzählen von denselben Akteuren, den Mitgliedern der deutschen Einsatztruppen, die zielgerichtet die Exekutionen der jüdischen Bevölkerung durchführen und beaufsichtigen, die ukrainischen Hilfspolizisten, die die Juden zusammentreiben, ihre Häuser plündern und in betrunkenem Zustand auch Frauen vergewaltigen, aber auch jene Ukrainer und manchmal sogar Deutsche, die den Bedrängten helfen, sie verstecken, verpflegen, ihnen die Flucht ermöglichen - kurzum, die sie retten.
"Die Menschen sterben aus, und wir bestehlen unsere eigene Geschichte." Dies war die Motivation des ukrainischen Historikers Boris Zabarko, die Interviews mit den Überlebenden zu führen und so ihre Geschichten zu erzählen, die lange unerwähnt geblieben war. Auf einem internationalen Menschenrechtskongress 1993 in Wien, so Zabarko, war ihm aufgefallen, dass in der Geschichte des Holocaust eine eklatante Lücke klafft. "Die dort vorgelegte Enzyklopädie enthielt wenig Fakten zur Verfolgung der Juden in der ehemaligen Sowjetunion", erzählt der Hochschullehrer. Dabei ermordeten die Nazis und ihre Helfer allein in der Ukraine über 1,5 Millionen Juden. Doch nichts erinnerte bis in die 90er Jahre daran. Jahrzehnte lang war das Thema in der Sowjetunion ein Tabu. Die Archive waren geschlossen, und in der Erinnerungspolitik gab es keine jüdischen, sondern nur sowjetische Opfer.
Seit Mitte der neunziger Jahre versucht Zabarko zu retten, was sich noch retten lässt. Er begann Erinnerungen von Überlebenden zu sammeln, die 1999 auf Ukrainisch und im Herbst 2004 dank der Unterstützung des deutschen Ehepaares Margret und Werner Müller auch auf Deutsch erschienen.
Die Stärke des Buches ist die Vielzahl der Erzählungen, aus denen sich mosaikartig ein Bild des Vorgehens der Einsatzgruppen und Sonderkommandos der Sicherheitspolizei und des SD mit ihren einheimischen Helfern in verschiedenen Gegenden ergibt. Die Berichte schildern anschaulich und überzeugend die Verhältnisse zwischen Juden, Besatzern und einheimischer Bevölkerung. Sie erzählen von Tätern, Retterinnen und Rettern, Kollaborateurinnen und Kollaborateuren und beschreiben so ein komplexes Bild des historischen Geschehens.
Wünschenswert wäre gewesen, im Buch auch den aktuellen Forschungsstand zum Holocaust in der Ukraine wiederzugeben.
Diese Lücke schließt, zumindest im Ansatz eine Publikation der Friedrich Ebert Stiftung, die Ausschnitte aus dem Buch Zabarkos wiedergibt und diese mit einer Auswahlbibliographie zum Thema versieht. Die Publikation findet sich unter der Adresse: http://library.fes.de/pdf-files/historiker/02619.pdf