LaG: Im Jahr 2001 haben Sie das Buch Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland veröffentlicht. Warum haben Sie dieses Thema gewählt?
Dazu haben mich die Debatten der 1990er Jahre über Sinn und Unsinn der Wehrpflicht nach dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung der Blockkonkurrenz inspiriert. 1989/90 schien damals wie der Anbruch einer neuen Zeit, in der man kein Militär mehr brauchen würde, erst recht keine Wehrpflicht – die ohnehin längst ausgehöhlt war durch geringe Rekrutierungsquoten und hohe Verweigerungsraten.
LaG: Sie haben die Entwicklung des Militärs und der Wehrpflicht im „langen 19. Jahrhundert“ in Deutschland untersucht. Können Sie diese Entwicklung kurz skizzieren: Wo kam die Wehrpflicht her und warum wurde sie eingeführt?
Der Ursprung der allgemeinen Wehrpflicht liegt in der Französischen Revolution; sie beendete das System stehender Heere (die zum großen Teil aus Söldnern bestanden) und führte den Grundsatz ein, dass jeder (männliche) Bürger sein Vaterland in der Not zu verteidigen habe. Wer Bürgerrechte genießen wollte, musste auch Bürgerpflichten leisten. Dieses Prinzip wurde kurz darauf auch in Preußen eingeführt, übrigens gegen massive Widerstände. Die Armeeführung war nicht an Bürgersoldaten interessiert, die das Kriegshandwerk erst mühsam erlernen mussten, und wollte lieber mit Berufssoldaten arbeiten. Bürgerliche Eltern fürchteten, ihre Söhne würden unter der Fahne verwildern und Bildung und Kultur verlieren. Diejenigen, die die Pflicht zur Vaterlandsverteidigung akzeptierten, verstanden nicht, warum sie auch in Friedenszeiten ihre „besten Jahre“ beim Barras vergeuden sollten. Erst ganz allmählich schliffen sich die Widerstände ab. Mit der Reichsgründung 1871, nach dem militärischen Sieg über Frankreich, gewann das Militär eine öffentliche Wertschätzung, die es vorher nicht hatte. Sie machte den Militärdienst, wenn nicht gerade populär, so doch akzeptabel.
Preußischer Soldat und junge Frau mit Schirm, Datum unbekannt © Adolf Schrödter (1805–1875), Zeichnung Q93184, Städel-Museum Frankfurt am Main / PDM-owner, Preußischer Soldat und junge Frau mit Schirm (SM 6300z)
LaG: In welchen politischen Konstellationen ist jeweils die allgemeine Wehrpflicht eingeführt oder ausgesetzt worden? Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen der Einführung der Wehrpflicht, der Militarisierung von Gesellschaften und dem Ausbruch von Kriegen?
Theodor Heuss, der erste Bundespräsident, hat die Wehrpflicht einmal als „Kind der Demokratie“ bezeichnet. Das ist so nicht richtig: In Frankreich war sie das, in Preußen nicht. Auch das nationalsozialistische Deutschland, gewiss keine Demokratie, führte die Wehrpflicht wieder ein, nachdem sie in der demokratischen Weimarer Republik auf Geheiß der Alliierten abgeschafft worden war. Die USA und Großbritannien, in denen die Demokratie viel früher zuhause war als auf dem europäischen Kontinent, kannten die Wehrpflicht, wenn überhaupt, dann nur in Zeiten des Krieges. Noch im Ersten Weltkrieg verließ man sich in England bis 1916 auf Freiwillige; erst als diese ausblieben oder nicht in genügender Zahl auftauchten, führte man die Wehrpflicht ein, aber auch nur bis zum Ende der Kriegshandlungen. Tatsächlich benötigten die modernen Kriege, wie sie seit dem 19. Jahrhundert geführt wurden, ein riesiges „Menschenmaterial“, das sich nur durch einen verpflichtenden Kriegsdienst rekrutieren ließ. Die Vorbereitung darauf erfolgte in den Kasernen der Nation; hier erlernten die Soldaten nicht nur das militärische „Handwerk“, sondern erfuhren auch eine patriotische Erziehung an Kopf, Herz und Körper.
LaG: Wie blickten im besiegten Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Alliierten auf die Wehrmacht und ihre Angehörigen, wie war die Situation des Militärs nach dem Krieg?
Zunächst war man sich einig, dass die Wehrmacht ein zentrales Werkzeug in den Händen des nationalsozialistischen Staates gewesen war; manche bemühten auch das in vielen Köpfen verankerte Klischee des „preußischen Militarismus“ und begründeten damit die endgültige Zerschlagung Preußens. Unter den 24 „Hauptkriegsverbrechern“, die 1945 in Nürnberg vor Gericht gestellt wurden, befand sich aber nur eine Handvoll hoher Wehrmachtsoffiziere. Dass Deutschland vollständig entmilitarisiert werden sollte, war gleichwohl das gemeinsame Ziel der vier alliierten Mächte. Dementsprechend sahen die Gründungsdokumente beider deutscher Staaten 1949 keine Aufstellung von Streitkräften vor. Das änderte sich im Kalten Krieg. Sowohl die Bundesrepublik als auch die DDR fingen in den frühen 1950er Jahren mit der Planung militärischer Verbände an, die in die jeweiligen Bündnisse (NATO und Warschauer Pakt) eingebunden waren. 1951 gab der amerikanische General und Oberkommandierende der NATO in Europa, Dwight D. Eisenhower, eine „Ehrenerklärung“ für die „Mehrheit der deutschen Soldaten und Offiziere“ ab, die angeblich nichts mit Hitlers Machenschaften zu tun gehabt hätten. Mit dieser Reinwaschung der Wehrmacht – die bis in die 1990er Jahre andauerte – ebnete er den Weg zur Aufstellung der Bundeswehr, die ihr Offizierskorps zunächst vorwiegend aus ehemaligen Wehrmachtsangehörigen rekrutierte. Auch die DDR griff bei der Aufstellung nationaler Streitkräfte anfangs auf Wehrmachtspersonal zurück, allerdings in geringerem Maße.
LaG: Für die Zeit nach 1945 schreiben Sie von einem „schleichenden Werte- und Mentalitätswandel“ in der Bundesrepublik, gemäß dem die Institution des Zivildienstes zunehmend als nützlicher und sinnvoller erachtet wurde als der Militärdienst. Wie blickte die bundesdeutsche Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg auf Soldaten und auf das Militär? Und welche Rolle spielte dabei die 1968er Bewegung?
Die Wiederbewaffnung stieß in der Bundesrepublik anfangs auf erbitterten Widerstand; Gewerkschaften, Kirchen, Sozialdemokraten wehrten sich mit Demonstrationen, Manifesten und Unterschriftenlisten. In Umfragen aus den frühen 1950er Jahren sprachen sich 70 % der Befragten gegen die Aufstellung eigener Streitkräfte aus; die Schrecken des Krieges saßen allen noch in den Knochen, seine Folgen waren überall und in jeder Familie sichtbar. Das änderte sich nach den Volksaufständen in der DDR 1953 und in Ungarn 1956, die jeweils von sowjetischen Truppen gewaltsam niedergeschlagen wurden. Danach blieb nur eine Minderheit bei ihrer pazifistischen Einstellung. Als die Wehrpflicht 1956 eingeführt wurde – in der DDR wartete man damit bis nach dem Mauerbau, um die Fluchtbewegung nicht weiter zu verstärken –, hielten sich die Proteste in Grenzen. Mit den Jahren aber stieg die Zahl derer, die sich auf das im Grundgesetz verankerte Recht auf Kriegsdienstverweigerung beriefen und lieber einen „zivilen Ersatzdienst“ leisten wollten. Die Jugend- und Studierendenbewegung der 1960er Jahre trug dazu mit ihrer kritischen Haltung zu Krieg und Militär nicht unerheblich bei. In der DDR gab es kein gesetzlich verbrieftes Recht auf Kriegsdienstverweigerung, und es war sehr viel schwieriger, Kritik an der Remilitarisierung zu äußern. Die Nationale Volksarmee wurde mit großer Propagandafanfare als Friedenstruppe vermarktet; wer sich ihr entziehen wollte, galt automatisch als Verräter an der Sache des Friedens und des Sozialismus und konnte strafrechtlich belangt werden. Lediglich in kirchlich gebundenen Kreisen der Bevölkerung fand der Unmut über die NVA und die paramilitärischen Verbände – dazu zählte etwa die Gesellschaft für Sport und Technik – eine hörbare Stimme. Als die DDR 1978 einen obligatorischen Wehrunterricht für Schüler der 9. und 10. Klasse einführte, hagelte es Proteste der evangelischen und katholischen Kirche – die allerdings auf taube Ohren stießen.
LaG: Einer der Befunde in Ihrem Buch ist, dass die NVA in der DDR in der militärisch-preußischen Verfasstheit blieb und das Militär nicht „zivilisiert“ wurde? Sie schreiben, „die Verzivilisierung des Soldaten wurde bewusst unterbunden“. Angesichts antifaschistischer und auch sozialistischer Verfasstheit von Staat und Gesellschaft – wie ist das erklärbar?
Interessant ist, dass sowohl die Bundesrepublik als auch die DDR bei der Wiederbewaffnung auf preußische Traditionen aus dem frühen 19. Jahrhundert zurückgriffen. Für die Bundeswehr sollten Offiziere wie Gerhard von Scharnhorst und August von Gneisenau Pate stehen, und auch die NVA stellte sich in diese Traditionslinie. Maßgebend war für beide Systeme die enge Verbindung, die diese frühen Militärreformer zwischen bürgerlichen Rechten und Pflichten gezogen hatten. In der Bundesrepublik aber lag das Schwergewicht auf den Rechten, und daraus folgten Konsequenzen für die interne Struktur der Bundeswehr und ihre Rolle als „Parlamentsarmee“. Diese liberalen Konsequenzen zog die DDR nicht. Stattdessen betonte sie die Kontinuität deutsch-russischer Waffenbrüderschaft, die sie im gemeinsamen Kampf gegen Napoleon begründet sah – auch deshalb war der Hinweis auf die preußischen Reformer wichtig.
LaG: In den 1950er Jahren wurden in der Bundesrepublik die Konzepte des „Staatsbürgers in Uniform“ und der „Inneren Führung“ aufgegriffen bzw. entwickelt. Was besagten diese Konzepte im Unterschied zur preußisch-deutschen Militärtradition? Konnten sie in der Bundeswehr umgesetzt werden oder blieben sie vielmehr theoretisch?
Mit diesen Konzepten radikalisierte die Bundeswehr die frühe preußische Tradition, in die sie sich stellte, und brachte sie in Einklang mit den demokratischen Prinzipien, denen sich der junge westdeutsche Staat verpflichtet sah. Nunmehr hatte der Staatsbürger Vorrang, nicht die Uniform; das Militär musste sich demokratischen Gepflogenheiten anpassen, nicht umgekehrt. Soldaten hatten das Recht, sich über übergriffiges Verhalten der Vorgesetzten zu beschweren, und diese Beschwerden mussten gehört werden. Sie bekamen auch das Recht, sich Befehlen zu widersetzen, sofern diese den Grundsätzen der Verfassung, vor allem dem Artikel 1 (Wahrung der Menschenwürde), widersprachen. Wie schwer es war, diese Rechte durchzusetzen, zeigen allerdings die zahlreichen Bundeswehr-Skandale, die seit den 1960er Jahren publik wurden. Zugleich spricht die Skandalisierung dafür, dass Öffentlichkeit und Medien ein kritisches Auge auf die Interna der Bundeswehr warfen und darauf achteten, dass junge Soldaten dort wie Staatsbürger behandelt wurden.
LaG: Sie beschreiben das Militär auch als „Schule der Männlichkeit“, die bis in das frühe 20. Jahrhundert eine Trennlinie zwischen den Geschlechtern gezogen habe, wogegen andere Bereiche, wie etwa Bildung oder Politik, sich für Frauen allmählich öffneten. Wie kann diese Entwicklung für die Zeit nach 1945 in beiden deutschen Staaten charakterisiert werden: Kam es auch im Militär zu einer Öffnung?
Keine andere gesellschaftliche Institution war derart – und derart lange – geschlechterexklusiv wie das Militär, wobei interessanterweise gerade der Nationalsozialismus, bekannt für die radikale Trennung von Männer- und Frauensphären, mit der Figur der Wehrmachtshelferin Grenzen verschoben hatte. Nach 1945 sollten diese Grenzen wieder festgezurrt werden. Sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR galt die Wehrpflicht nur für Männer. Daran wurde bis in die 1990er Jahre hinein auch nicht gerüttelt. Selbst Feministinnen teilten die Position, dass Frauen im Militär nichts zu suchen hatten und der Gesellschaft auf andere Weise „dienten“. Wenn Frauen freiwillig eintraten, war das kein Problem; sie landeten dann entweder im Sanitätsdienst oder im Musikkorps. Aber für eine allgemeine Wehrpflicht, die Frauen einschloss, gab es keine politischen Mehrheiten.
LaG: Im Jahr 2011 wurde die allgemeine Wehrpflicht ausgesetzt. Heute haben wir eine Situation unter umgekehrten Vorzeichen: Kriegsherde in und am Rand von Europa, mediale Bedrohungsszenarien und der Ruf nach „Kriegsertüchtigung“ des Landes. Wie äußern Sie sich heute zum Thema Wehrpflicht und was würden Sie den politischen Entscheidungsträger*innen raten?
Die Aussetzung der Wehrpflicht empfand ich 2011 als logische Folge aus den vielen Widersprüchen, in denen sich die Bundeswehr damals befand. Für die neuen Kriege – etwa in Afghanistan oder Mali – benötigte man keine Wehrpflichtigen mehr; innenpolitisch war von Wehrgerechtigkeit keine Spur, weil nur wenige Wehrpflichtige überhaupt eingezogen wurden. Das größte Problem mit der Aussetzung der Wehrpflicht hatten jedoch die Sozialverbände, die fortan ohne „Zivis“, die Zivildienstleistenden, auskommen mussten. Aber auch dafür gab es eine Lösung, zumindest teilweise: den Bundesfreiwilligendienst.
Doch mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 hat sich die Bedrohungswahrnehmung massiv geändert; immer wieder schwadronierten Politiker im Umkreis des russischen Präsidenten Wladimir Putin davon, dass die imperiale Gier mit der Ukraine nicht befriedigt sei, sondern vielleicht sogar bis Berlin oder an die Elbe reiche. Zugleich veränderte sich mit der zweiten Regierungszeit Donald Trumps die globale geopolitische Situation, und es gibt ernste Zweifel, ob die USA noch zu ihren Bündnisverpflichtungen gegenüber den NATO-Partnern stehen. All das macht eine „Remilitarisierung“ notwendig, so teuer sie uns auch zu stehen kommt und so drastisch sie die gewohnten Denkmuster herausfordert. Ob wir dafür tatsächlich eine allgemeine Wehrpflicht – dann für beide Geschlechter – brauchen? Neun Monate Wehrdienst machen aus künftigen Krankenschwestern oder Bankangestellten vermutlich keine Soldaten, die sich auf den hochautomatisierten Krieg der Zukunft verstehen. Das Personal dafür sollte sich freiwillig melden und mit entsprechenden Anreizen rekrutiert werden.