Lehrbücher hätten gerne, dass die Geschichte geradlinig von Ereignis zu Ereignis, von Datum zu Datum verläuft. Nur tut sie das gar nicht – eher ist sie ein Geflecht von gewundenen Pfaden, in dem sich miteinander konkurrierende Interessen verschiedener Menschen und Institutionen überschneiden. Und Historiker:innen versuchen die Geschichte in einer Erzählung zurechtzulegen, die sich chronologisch abspulen soll.
Mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands endete der Zweite Weltkrieg in Europa am 8. Mai 1945. War es wirklich der 8. Mai? Dieses Datum stellt einen gewissen Kompromiss dar. Die Kapitulation wurde bereits einen Tag früher in Reims unterschrieben. Die Spannungen zwischen den Alliierten waren damals schon offensichtlich, denn alle wollten den Krieg zu ihren eigenen Bedingungen beenden. Auf Initiative der Sowjetunion wurde der Akt der Kapitulation in Berlin-Karlshorst noch einmal wiederholt. Dies geschah am 8. Mai spätabends, doch in der sowjetischen Hauptstadt Moskau war es schon nach Mitternacht und somit der 9. Mai. An dem Ort, wo die Kapitulation ein zweites Mal vollzogen wurde, befindet sich heute ein Museum. Die Ausstellung lässt sich durch zwei Türen betreten (Katalog 2014) – entweder durch eine mit dem Datum 8. Mai oder durch die daneben mit dem Datum 9. Mai. Zwei unterschiedliche Eingänge in die Geschichte.
Die Geschichte kann sich gabeln, und die erzählende Person konstruiert eine Narration (Hastrup 1997: 22−28). Bevor das Gebäude, in dem die Kapitulationsurkunde unterzeichnet worden war, zu einem Museum wurde, war hier das sowjetische Hauptquartier untergebracht. Ein vielsagendes Zeichen, dass die Geschichte von den Siegern geschrieben wird.
Es gibt aber auch solche Türen, an die sich niemand erinnert, da sie nicht Teil der großen Geschichte waren; an ihnen ist selbige vorbeigegangen (Bubík 2024). Die Erzählungen der von Kriegen betroffenen Zivilist:innen sind im Schatten versunken, obwohl sie nicht minder wichtig sind. Man kann aber durchaus anders über die Geschichte denken, sich darauf konzentrieren, wie sie auch aus Erzählungen und Erinnerungen entsteht. Seit Langem werden Erzählungen von an bestimmten Ereignissen Beteiligten gesammelt – aber noch nicht allzu lang werden Interviews mit Zeitzeug:innen auch jenseits der Ethnografie als vollwertige Quellen anerkannt.
Bei einer Betrachtung von Erzählungen über das Kriegsende fällt unmittelbar auf, dass dieses für Polen nicht schlichtweg eine Rückkehr zum Vorkriegszustand bedeutete, bevor Deutschland und die Sowjetunion im Spätsommer 1939 das Land überfielen. Nach Kriegsende wurde Polen wortwörtlich nach Westen verschoben, es verlor seine östlichen Landesteile. Die auf Kosten Polens erkämpften Gebietsgewinne der Sowjetunion zogen die Notwendigkeit nach sich, die dortigen Einwohner:innen umzusiedeln, die, ohne dass sie sich vom Fleck bewegt hätten, plötzlich in einem neuen Staat aufgewacht waren (Hryciuk 2023). Zugleich wurde beschlossen, deutsche und deutschsprachige Bevölkerungsgruppen aus Polen und vielen anderen ostmitteleuropäischen Staaten auszusiedeln.
Die ehemaligen deutschen Gebiete, die 1945 Teil des polnischen Staates wurden, nannten staatliche Behörden offiziell „wiedergewonnene Gebiete“. Dabei ging es darum, an die mittelalterliche Eroberung eines Teils dieser Gebiete durch die erste polnische Herrscherdynastie, die Piasten, anzuknüpfen. Die „wiedergewonnenen Gebiete“ seien ursprünglich slawisch gewesen, polnisch, schließlich germanisiert und nach 1945 wieder dem Vaterland zurückgegeben worden, das in der polnischen Propaganda zärtlich „Mutter Heimat“ (macierz) genannt wurde. Tatsächlich handelte es sich um ein aus vielen unterschiedlichen Regionen bestehendes Mosaik. Folglich fanden sich dort solche Gebiete wieder, die seit Langem zu Polen gehörten, wie auch solche, die nur für kurze Zeit Teil Polens gewesen waren, dazu noch die jahrhundertealten Grenzgebiete, die mal unter polnische, mal unter deutsche Herrschaft fielen (Ćwiek-Rogalska 2024: 27–52).
Bei der Beschreibung der Zwangsumsiedlungen in der langen Nachkriegszeit sind die Stimmen derjenigen, die – mehr oder weniger freiwillig – anstelle der ausgesiedelten Deutschen in diese Regionen zogen, selten zu hören. Im Gegensatz zu diesen organisierten sie sich nie in Verbänden, und eine kohärente Erzählung ihrer Geschichte wurde zusätzlich dadurch erschwert, dass die sogenannten Siedler:innen aus verschiedenen Orten stammten und verschiedene Gründe für ihre Umsiedlung hatten.
In die „wiedergewonnenen Gebiete“ kamen Aussiedler:innen von jenseits der neuen polnischen Ostgrenze, freiwillige Migrant:innen aus Zentralpolen, zur Rückkehr verleitete Remigrant:innen aus Westeuropa, zudem Soldat:innen und Partisan:innen, die aufgrund ihrer antikommunistischen Haltung in abgelegenen Orten eine Zuflucht vor dem neuen Regime suchten. Für jede:n von ihnen bedeutete das Ende des Krieges etwas anderes. Oft lebten sie noch mehrere Monate mit den ehemaligen deutschen Eigentümer:innen der Häuser, in denen sie nun wohnten, zusammen. Nahezu immer waren sie von Gegenständen umgeben, die Letztere zurückließen, nachdem sie fortzogen (Maniak/Kurpiel 2023).
Ebensolche Geschichten, die oft schon von der zweiten oder dritten Generation erzählt werden, sammle ich. Ich suche Antworten auf die Frage, wie in den betreffenden Gebieten nach der Umsiedlung neue Gesellschaften entstanden, wobei ich mich als Anthropologin auf Mikrogeschichten konzentriere. Sehen wir uns gemeinsam eine Stadt an, in der sich eine dieser Mikrogeschichten vollzog – Wałcz, ehemals Deutsch Krone, eine kleine Stadt in der Woiwodschaft Westpommern, in der ich seit 2022 Feldforschung betreibe.
Nicht alle warteten auf das dekretierte Kriegsende. Die Familie eines Gesprächspartners fuhr bereits im April 1945 aus Vilnius in die „wiedergewonnenen Gebiete“ (Interview in Wałcz, 21.06.2024). Der Mai ist ein Frühlingsmonat, also begannen sie sofort mit der Gartenarbeit, um Gemüse anzubauen und Lebensmittelvorräte anzulegen. Als sie die Nachricht über das offizielle Kriegsende erreichte, waren sie gerade dabei, den Garten umzugraben. „Plötzlich, von Weitem, aus Richtung Piła [Schneidemühl], gewaltige Explosionen“, erinnerte er sich. Die ganze Familie war sich schon sicher, dass das deutsche Heer wieder anrückte, und machte sich augenblicklich daran, einen Schutzraum zu suchen. Sogleich aber ertönten auch von der anderen Seite Schüsse, von der Garnison in Wałcz. „Oh, unsere Armee eilt wohl zur Rettung“, rief einer der aufgeschreckten Siedler:innen. Eine auf sie zulaufende Person rief: „Der Krieg ist aus, der Krieg ist aus, Ende!“ Das Ende des Krieges – und ein neuer Anfang.
Aber wie ein neues Leben in einem Haus ohne Tür beginnen? Ein ebensolches hatte im Frühjahr 1945 der Vater einer meiner Interviewpartnerinnen bezogen. Auch er war mit dem ersten Transport der „Siedler“ aus Vilnius nach Wałcz gekommen. In der Anfangsphase kamen die Züge vor allem aus Osten, nach Vilnius waren dann die Umsiedler:innen aus Wolhynien an der Reihe. Die neuen Einwohner:innen fingen Seite an Seite mit den Deutschen, die weder geflohen noch evakuiert oder bereits ausgesiedelt worden waren, ein neues Leben an. Im Frühling befanden sich über zweitausend Deutsche in der Stadt. Allmählich tauchten Menschen aus anderen Teilen Polens auf – manche von ihnen zum Plündern, manche, um sich ein Bild von der Lage zu machen.
„Mein Vater erzählte, wie er am Hauptbahnhof von Wałcz ausstieg“, erinnert sich eine weitere Befragte (Interview in Wałcz, 15.07.2022). Von dort machte sich der Mann zu der einige hundert Meter entfernten Abteilung des Staatlichen Repatriierungsamtes (Państwowy Urząd Repatriacyjny, PUR) auf. Die Institution hatte ihre Tätigkeit schon 1944 aufgenommen und sich zu Beginn lediglich mit den Umsiedler:innen aus dem Osten befasst, den sogenannten Repatriant:innen. Dieses Wort kaschierte die Tatsache, dass diese nicht ins Vaterland zurückkehrten, sondern ihm hinterherliefen, als es gen Westen verschoben wurde. Auf dem PUR ruhte später die ganze Last der Organisation der Umsiedlungen. Nach Wałcz kam das PUR mit den ersten Siedler:innen im April 1945. „Alle gingen dorthin, um sich registrieren zu lassen“, erzählte die Befragte. „Dort sagte man ihm [ihrem Vater], dass in Wałcz noch Häuser stünden, von denen man sich eines auswählen könne, weil sie nicht zu sehr in Mitleidenschaft gezogen worden seien“, ergänzte sie. Warum erzählte sie auf diese Weise davon? Weil (auch wenn ihr Vater einer der ersten neuen Bewohner:innen war, die sich in der Stadt ansiedelten) seiner Ankunft bereits einige Plünderungswellen vorausgegangen waren, bei denen massenhaft Gegenstände entwendet worden waren, die in der von Mangel geprägten Nachkriegszeit einen besonderen Wert erlangten. Es wurde geplündert, um damit zu handeln, Gegenstände erschienen gegenüber Geld als die sicherere Währung, Kriegsverluste wurden kompensiert.
Nachdem er beim PUR war, entschied sich der Vater meiner Interviewpartnerin, einen Spaziergang durch die Stadt zu machen und sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Bei einer Besichtigung weiterer Stadtteile stellte er fest, dass die ihm genannten Häuser nicht zu seinen Lebensumständen passten: „Sie waren eher was für Landwirte. Und mein Vater hatte in Vilnius in einer Fabrik gearbeitet […].“ Auf der Suche nach einem neuen Zuhause trafen die materiellen Gegebenheiten, die von den Gewohnheiten der deutschen Bewohner:innen geprägt waren, die geplünderte Realität und schließlich die oft zusätzlich im Rahmen der staatlichen Propaganda angefachten Erwartungen der Pol:innen aufeinander. Verkündet wurde nämlich, dass in den ehemals deutschen Gebieten alles nur auf die neuen „Siedler“ warte. Der Vater der Befragten fasste letztlich doch den Entschluss, „eines dieser Häuser“ zu belegen.
Dieses Haus hatte keine Tür. Stattdessen fand sich in ihm ein Artilleriegeschoss, „zwischen dem ersten Stock und dem Erdgeschoss, das selbst den Fußboden in der Küche durchbrochen hatte“. Die neuen Siedler:innen lebten oft in Umständen, die vom Krieg gezeichnet waren und keineswegs den Versprechungen der Propaganda entsprachen. Ehemalige polnische Zwangsarbeiter:innen, soeben befreit, zogen aus den Dörfern in die Städte. In umgekehrter Richtung machte sich der Vater meiner Interviewpartnerin auf den Weg in die umliegenden Dörfer, um eine Tür zu finden. Er hatte nämlich erfahren, dass im Dorf Stadtmühl, direkt hinter der Stadt, ein Forsthaus stand, in dem es keinen Förster mehr gab. Der Ort trug damals noch keinen polnischen Namen – heute heißt er Pluskota. Es gab zwar keinen Förster mehr, dafür aber eine Tür. Genauso verhielt es sich in Lasserre, einem Gutshof nordwestlich der Stadt. Er fuhr dorthin und brachte eine weitere Tür mit. „Dass es hier mal deutsche Gehöfte gegeben hat“, erzählte meine Gesprächspartnerin, „davon zeugen heute nur noch die Pflanzen“. Wie ihr Vater berichtete, „stellten diese Häuser so ein Lager dar, aus dem man [Dinge] herbrachte […] – irgendeine Tür oder einen Fensterrahmen“. Die aus dem Umland der Stadt mitgebrachte Tür ist bis heute im Haus geblieben, und die um die Stadt verstreuten kleinen Gehöfte lassen sich nur noch im Frühjahr erkennen, wenn auf ihren Ruinen wilde Pflaumenbäume weiß blühen.
Die Funktionsweise der Räume und der Dinge in ihnen hat sich geändert, es sind einige ehemalige Pfade verschwunden, dafür sind neue ausgetreten. Die alte Tür führt in neue Räumlichkeiten. Die aus unterschiedlichen Teilen zusammengeklebte Realität ist zusammengewachsen – in den Häusern, in denen Gegenstände aufeinandertrafen, die dort aufgefunden oder mitgebracht worden waren, wohnt schon die dritte Generation. Immer noch aber mangelt es an einer Sprache, um diese Erfahrung in ihrer Gesamtheit zu erzählen, immer noch haben viele Menschen ihretwegen gebrochene Identitäten, immer noch bedarf es neuer Perspektiven. Die frühe Nachkriegszeit und die darauffolgenden Jahrzehnte sind eine offene Geschichte, die es wert ist, stets aufs Neue erzählt zu werden. Es führen viele Türen dorthin.
Interviews mit Bewohner:innen in Wałcz, 15.07.2022 und 21.06.2024.
Bubík, Magdalena: Drzwi do przy/eszłości, in: SpectralRecycling Project, 25.11.2024, URL: https://spectralrecycling.ispan.edu.pl/drzwi-do-przy-eszlosci/ [eingesehen am 27.02.2025].
Ćwiek-Rogalska, Karolina: Ziemie. Historie odzyskiwania i utraty, Warszawa 2024.
Hastrup, Kirsten: Przedstawianie przeszłości. Uwagi na temat mitu i historii, übers. v. Sławomir Sikora, in: Konteksty: Polska Sztuka Ludowa 51 (1997), S. 22–28.
Hryciuk, Grzegorz: Przesiedleńcy. Wielka epopeja Polaków 1944–1946, Kraków 2023.
Maniak, Katarzyna/Kurpiel, Anna: Porządek rzeczy. Relacje z przedwojennymi przedmiotami na Ziemiach Zachodnich (przypadek Wrocławia i Szczecina), Kraków 2023.
Museum Berlin-Karlshorst (Hrsg.): Katalog zur Dauerausstellung „Deutschland und die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg 1941–1945“, Berlin 2014.