Die Weimarer Republik war eine der produktivsten und einflussreichsten Phasen der deutschen Filmgeschichte. Bis heute bekannte Klassiker wie „Das Cabinet des Dr. Caligari“, „Nosferatu“ und „Metropolis“ entstanden in dieser Periode, die geprägt war von sozialen und politischen Umwälzungen. Dabei nahm der Film als Massenmedium eine zentrale Rolle in der politischen Kultur und Meinungsbildung ein: Mit über 5.000 Lichtspielhäusern im Jahr 1928 und jährlich rund 350 Millionen Kinobesuchen in einem Land mit „nur“ 60 Millionen Einwohner:innen wurde das Kino auch zu einer Bühne gesellschaftlicher Konflikte (Kunst- und Ausstellungshalle der BRD/Deutsche Kinemathek, 2018: 6). Mit den Worten „Die Filme sind der Spiegel der bestehenden Gesellschaft“ verweist Siegfried Kracauer (1977: 279) auf zwei zentrale Funktionen des Films: Er war sowohl Mittel des Ausdrucks als auch der Analyse der gesellschaftlichen Verfassung der Weimarer Demokratie.
Ein besonderes filmisches Motiv jener Zeit war die Straße – sie prägte ein ganzes, von Kracauer mit dem Namen „Straßenfilm“ bezeichnetes Subgenre des Stummfilms. Die Straße wurde im Kino der Weimarer Republik zu einem Raum der Darstellung privater wie politischer Kämpfe. Hier offenbarten sich die Hoffnungen, Ängste und sozialen Spannungen zwischen den verschiedenen Gesellschaftsschichten. Mit diesem Gehalt können entsprechende Filme auch in der historisch-politischen Bildung eingesetzt werden, um die Straße als Ort der Demokratie in der Weimarer Republik zu untersuchen. Im Folgenden sollen mit „Die Straße“ (1923), „Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“ (1927) und „Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt?“ (1932) drei Beispiele aus verschiedenen Phasen der Weimarer Republik vorgestellt werden, in denen die Straße der Großstadt auf unterschiedliche Weise inszeniert und funktionalisiert wird.
Ein Mann bewegt sich träge ans Fenster einer dunklen Stube: Er wird angezogen von vibrierendem Licht, das in die Wohnung fällt. Im Hintergrund bereitet seine Frau sorgsam Suppe und Abendbrottisch vor. Beim Blick nach draußen zeigt sich sein sehnsüchtiges Lächeln: Die vorbeieilenden Menschen, Autos, Straßenbahnen, Fahrräder ziehen ihn magisch an. Er wirft einen zögerlichen Blick zurück in das bürgerliche Zimmer – und stürzt sich dann ins Chaos. Mit dieser dramatischen Eingangsszene wird der zentrale Topos des Films „Die Straße“ (1923) von Karl Grune eingeführt: Die Straße als Ort der Verführung und des moralischen Verfalls. Im Laufe der Geschichte verschärft sich dieses Bild. Der Kleinbürger verspielt all sein Geld, ihm wird von zwei Kleinkriminellen und einer Prostituierten ein Mord angehängt, bald darauf verhaftet steht er kurz vor dem Selbstmord. Am Ende flüchtet er reumütig zurück in sein sicheres Zuhause – ein seltsames Happy End.
Der Filmsoziologe Siegfried Kracauer interpretiert diese Rückkehr retrospektiv – er verfasste „Von Caligari zu Hitler“ in den 1940er Jahren – als Unterwerfung unter das häusliche Regime, als „Rückzug ins Gehäuse, der symptomatisch für die Nachkriegsjahre war“ (Kracauer 2012: 148). Die Straße dient im Film Grunes als Durchgangsstation, die zurück in einen Zustand privater Passivität führt und die Verantwortung für das öffentliche Leben an eine externe Autorität zurückgibt. Die Botschaft an den Zuschauer ist klar: Er ist der modernen Welt nicht gewachsen. Schutz findet er in der Monotonie des Alltags und unter staatlicher Kontrolle. Dieses Motiv wird durch die Darstellung der Polizei nochmals unterstrichen: Wo sie auftritt, kehrt Ruhe, Ordnung und Sicherheit ein. „Die Straße“, ein Film der frühen Weimarer Republik, zeigt das Misstrauen gegenüber der Situation in der instabilen Weimarer Republik – und die Sehnsucht nach einer Rückkehr zur autoritären Ordnung und der Abgabe persönlicher Verantwortlichkeit.
„Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“ (1927) von Walter Ruttmann bricht mit der narrativen Struktur klassischer Spielfilme: Sie ist eine experimentell-dokumentarische Darstellung des Lebens in der Großstadt.
Filmplakat „Die Sinfonie der Großstadt“, 1927. Quelle: DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum, Frankfurt am Main / Plakatarchiv.
Der Film zeigt den „Querschnitt eines Berliner Arbeitstages im Spätfrühling“ (Kracauer 2012: 222), beginnend mit dem morgendlichen Erwachen der Stadt und endend in der Nacht. Die Kamera konzentriert sich auf den Rhythmus der vielartigen Bewegungen der Straße, folgt den Schritten der Menschen(-massen) und erschafft so den Eindruck einer chaotischen Gleichförmigkeit. Durch den Verzicht auf individuelle Charaktere und durch die Verwendung rhythmischer Schnitte stellt Ruttmann die Stadt als mechanisiertes System dar. Menschen werden in der Stadt zu einem Teil der urbanen Maschinerie. Im Mittelpunkt: die Straße. Sie erscheint selbst als eine Art lebendiges Wesen, in der das Individuum verschwindet. Sie ist belebt von Massen an Fußgänger:innen, Straßenbahnen und Autos – gleichzeitig zeigen sich Pausen zwischen diesen Strömen, in denen die Straße leer und verlassen erscheint.
Ziellos streift die Kamera durch das Geschehen – ziellos und sinnlos erscheinen die Bewegungen der Menschen. Sie folgen alle dem gleichen strikten Takt und treiben wie fremdgesteuert durch die Stadt. In der stabilisierten Republik erscheinen sie als „ein substanzloses Konglomerat von Parteien und Idealen“ (Kracauer 2012: 224). Diese in „Die Sinfonie der Großstadt“ sichtbar werdende Indifferenz gegenüber dem Individuum und seinen Beziehungen erzeugt ein Gefühl der Ohnmacht, das viele Menschen gegenüber der modernen Großstadt beschreiben. Ruttmann kreiert eine Straße, die zum Repräsentanten kollektiver Lähmung wird: Sie verschlingt den individuell Handelnden und wird damit zum Symbol der Entfremdung und Entindividualisierung in der modernen Massenkultur.
„Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt?“ (1932) – ein Film von Slatan Dudow unter Mitwirkung von Bertold Brecht – beginnt ebenfalls mit einer Straßenszene: Junge Menschen versammeln sich, um auf die Ankunft tagesaktueller Stellenangebote zu warten. Sie reißen sich um die verteilten Zettel, eilen auf Rädern durch die Straßen zu den möglichen Beschäftigungsorten und stehen schließlich vor verschlossenen Toren. Wie extrem die in der Wirtschaftskrise empfundene Hoffnungslosigkeit ist, zeigt der Film mit dem Selbstmord eines jungen Arbeitssuchenden, der – wieder einmal – ohne Arbeit zu seiner Familie zurückkehren muss. In „Kuhle Wampe“ offenbart die Straße das Ausmaß der alltäglichen Existenznöte: Arbeitslosigkeit, Armut und Hoffnungslosigkeit dominieren das Berlin der frühen 1930er-Jahre, das hier gezeigt wird.
Die Familie des Verstorbenen muss in die Zelt- und Gartenkolonie „Kuhle Wampe“ am Berliner Stadtrand umziehen, die Tochter Anni wird ungewollt schwanger, was ihre Lage noch prekärer macht. Doch mit der Reaktion Annis auf das „eigene Schicksal“ wird ein zweiter Topos eingeführt: Sie fertigt politische Plakate an, nimmt an einem Arbeitersportfest teil und marschiert als Teil einer Arbeiterdemonstration durch die Straßen Berlins. Das eigene politische Engagement – die Verknüpfung des privaten Schicksals mit dem der Vielen – gibt ihr Hoffnung. „Kuhle Wampe“ illustriert so, wie die Straße zum Ort kollektiven politischen Handelns und der Mobilisierung der Arbeiterklasse wird. Dabei entstand der Film in einer Zeit, die gleichermaßen von politischen Straßenkämpfen und von Repressionen geprägt war: Einige Szenen des Films wurden von der Zensur gestrichen und seine Vorführung im Frühjahr 1932 mehrfach untersagt (Kunst- und Ausstellungshalle der BRD/Deutsche Kinemathek 2018: 133). Vor diesem Hintergrund stellte „Kuhle Wampe“ auch das Programm der aktiven Solidarität dem Autoritarismus gegenüber.
In den skizzierten Filmen wird das Motiv der Straße auf sehr unterschiedliche Weise genutzt: Sie ist gefährliche Verführerin, Symbol gesellschaftlicher Entfremdung und Ort des politischen Aufbruchs.In der historisch-politischen Bildung kann eine solche Analyse aufzeigen, wie Filme als Reflexionsmedium für gesellschaftliche Ängste, Hoffnungen und Konflikte dienen. Die in den untersuchten Filmen dargestellten Motive – der Rückzug ins Private, die Lähmung durch die urbane Masse und politische Selbstermächtigung – verdeutlichen dabei, wie die Straße als Symbol der demokratischen Verfasstheit interpretiert werden kann. So wird nicht nur der Film, sondern auch die Straße zum Spiegel der (Weimarer) Gesellschaft. Der visuelle Zugang kann dabei auf mehreren Ebenen zur Diskussion über die Weimarer Demokratie anregen: Sowohl die filmischen Narrative selbst als auch die Entstehungsbedingungen und -kontexte der Filme erlauben eine differenzierte Betrachtung der Weimarer Demokratie. Nicht zuletzt regt die Analyse auch zu einem kritischen Blick an, wie der öffentliche (Straßen-)Raum in aktuellen Filmen wie beispielsweise in „Victoria“ (2015) von Sebastian Schipper oder „Ellbogen“ (2024) von Aslı Özarslan dargestellt wird.
Dudow, Slatan: Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt?, Berlin 1932.
Grune, Karl: Die Straße, Berlin 1923.
Ruttmann, Walter: Berlin – Die Sinfonie der Großstadt, Berlin 1927.
Kracauer, Siegfried: Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt/Main 1977.
Kracauer, Siegfried: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films, Berlin 2012.
Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland/Deutsche Kinemathek Berlin (Hrsg.): Kino der Moderne. Film in der Weimarer Republik, Dresden 2018.