Nicolai Hannig ist Professor für Neuere Geschichte am Institut für Geschichte der Technischen Universität Darmstadt. Seine Forschungsschwerpunkte sind deutsche und europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Umwelt- und Stadtgeschichte, Historische Risikoforschung und Gewaltgeschichte seit 1800. Zuletzt veröffentlichte er 2023 den Sammelband „Deutsche Filmgeschichten. Historische Porträts“.
LaG: Lieber Herr Hannig, die Straße ist seit Jahrhunderten ein wichtiger Raum des Protests. Wir wollen uns einen Überblick verschaffen, wie sich Straßenproteste, Medien und Gewalt in den letzten 200 Jahren entwickelt haben und sich gegenseitig beeinflussten. Für welche Ziele gingen und gehen Menschen auf die Straße?
Nicolai Hannig: Hinter den einzelnen historischen Protestereignissen verbargen sich schon immer sehr unterschiedliche Ziele. Aber es lassen sich auch Gemeinsamkeiten feststellen. Im 19. Jahrhundert haben wir auf der einen Seite eine große Gruppe an Protestakteuren, die zum Beispiel in den Jahren um 1848 für die nationale Einigung und für mehr politische Partizipation auf die Straße gegangen sind. Gleichzeitig können wir auch klassische Formen des Subsistenzprotestes, zum Beispiel Hungerproteste beobachten, die in der Regel um ganz konkrete Notsituationen kreisten, in denen es aber häufig auch um politische Teilhabe ging.
LaG: Ich greife mal die Subsistenzproteste heraus. Was waren da typische Auslöser und wie verliefen solche Proteste auf der Straße?
Nicolai Hannig: Es sind existenzielle Nöte, die die Menschen auf die Straße bringen, wenn das, was sie zum alltäglichen Leben brauchen, für sie zu teuer geworden ist. Das können erhöhte Preise für Nahrungsmittel sein oder Mietkosten. Gezielt werden die Verantwortlichen angesprochen, etwa die Vermieter bei den Mieter*innen-Protesten 1911 in Wien, Bäcker oder Müller, vor deren Häusern man öffentlich protestiert. Proteste benötigen konkrete Ziele. Häufig haben sie auch Zielscheiben, Personen, Gebäude oder Objekte, denen man öffentlich seinen Protest zeigt. Das ist bis heute ein häufig wiederkehrendes Element des Protests.
Horace Vernet: Barrikade in der Rue Soufflot, Paris, 25. Juni 1848, © Wikimedia Commons.
LaG: Wie wurde denn der Straßenraum selbst als Protestraum umgestaltet?
Nicolai Hannig: Die Barrikade ist ein Paradebeispiel dafür, wie Protestakteure den städtischen Raum aktiv und bewusst umgestalten. Die Barrikade diente schon im 19. Jahrhundert bei Protesten zunächst einmal dazu, eine bessere Position im Straßenkampf zu haben – in der Auseinandersetzung mit Regierungstruppen zum Beispiel.
Man darf sich dies nicht als vereinzelte Blockade vorstellen, es sind vielmehr Hunderte von Barrikaden, die gleichzeitig im städtischen Raum angelegt werden, den Verkehr lahmlegen, Nachschubwege versperren und Nachteile von Protestakteuren im Straßenkampf ausgleichen.
Die Barrikade erfüllte darüber hinaus eine starke symbolische Funktion. Die Barrikade, die mit dem Material gebaut wurde, das in den Straßen zur Verfügung stand, war öffentlich sichtbar und wurde relativ schnell zum Gegenstand der Malerei. Zahlreiche Karikaturisten brachten unzählige Barrikadenbilder in Umlauf. Dadurch entfaltete sich eine zweite Ebene: eine mediale Ebene, auf der die Barrikade zum Symbol der Auflehnung gegen die Obrigkeit wurde.
LaG: Kann man in der Folge von einer zunehmend gewaltfreien Moderne sprechen, in der sich Straßenproteste immer mehr professionalisierten und Proteste gewaltloser und geplanter umgesetzt wurden?
Nicolai Hannig: Das ist eine sehr berühmte These, die stark mit der allgemeinen Modernisierungsthese in Verbindung steht. Dahinter verbirgt sich die Wunschvorstellung einer durch Modernisierung immer gewaltfreieren Moderne. Es gibt tatsächlich Tendenzen, die dafür sprechen. In der Geschichte der Arbeiterbewegung kanalisierten sich Subsistenzkrisen etwa in Gewerkschafts- und Parteigründungen. Gewisse Krisen mögen sich auch mit der Einrichtung von Sozialversicherungen abgemildert haben.
Das heißt aber noch lange nicht, dass sich das Gewaltpotenzial, das Protest immer in sich trug, einfach aufgelöst hat. Ganz im Gegenteil. Es gibt auch bis weit ins 20. Jahrhundert erbitterte Straßenkämpfe, etwa nach dem Ersten Weltkrieg oder vor der Machteroberung der Nationalsozialisten. Diese Straßenkämpfe waren ein Zeichen dafür, dass sich politische Polarisierungen herausgebildet haben, die zu erbitterten, ungemein blutigen Auseinandersetzungen geführt haben. Hier kämpfte man auf der Straße um die zukünftige Regierungsverantwortung.
Auch wenn wir in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts gehen, gibt es genügend Beispiele gewalttätiger Straßenproteste, etwa die Zusammenstöße in Paris 1961 zwischen algerischen Protestierenden und der französischen Polizei im Zusammenhang mit der fortschreitenden Dekolonisation. Diese gewalttätigen Proteste in europäischen Städten widerlegen die These einer vermeintlich gewaltfreien Moderne deutlich.
LaG: Welche Rolle spielten dabei Medien und wie beeinflussten diese den Verlauf von Straßenprotesten?
Nicolai Hannig: Es gibt meiner Meinung nach eine ganz enge Verbindung zwischen Medien, Protest und Gewalt. Medien haben nicht nur die Funktion eines Verstärkers, sondern Medien selbst werden zu einem festen Bestandteil von Protestgewalt. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, wie sich Protestpraktiken verändern, indem bestimmte Strategien gewählt werden, um Proteste möglichst medienaffin zu gestalten.
Man setzte stärker auf Choreografien und auf ritualisierte oder traditionelle Protestpraktiken. Schon Ende des 19. Jahrhunderts lebten frühneuzeitliche Rügebräuche wieder auf, also an einen Brauch gebundene inoffizielle Maßnahmen, mit denen Gruppen oder das Verhalten einzelner bestraft wurden, etwa in Form von Katzenmusiken bzw. Charivaris.
Meine These wäre: Diese Rituale werden auch deswegen wiederbelebt, weil sie sich sehr gut inszenieren lassen und medialen Aufmerksamkeitskriterien entsprachen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildete sich die moderne Massenpresse heraus und entwickelte für sich relevante Aufmerksamkeitskriterien. Und genau in dieser Zeit ist zu beobachten, wie sich Protestpraktiken daran anpassen. Proteste wurden etwas weniger gewalttätig, dafür aber sehr viel performativer. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren Proteste weiterhin stark mediatisiert. Die Möglichkeit, ständig zu fotografieren oder zu filmen, veränderte das Protestgeschehen. Die Präsenz von Medien prägte den Protest und war unmittelbar in den Protestereignissen spürbar.
LaG: Welchen Einfluss hatte die Präsenz von Medien, etwa von Kameras, bei Protesten?
Nicolai Hannig: Medien beeinflussen, gerade wenn es um Protest und Protestgewalt geht, das Verhalten vor Ort stark. Ich würde daher nicht nur auf das schauen, was durch die Medien an Text oder an Bildmaterial produziert und dann verbreitet wird. Vielmehr sollte die materielle Präsenz von Medien in diesen Protestereignissen stärker berücksichtigt werden. Was macht es mit Protestbeteiligten, wenn Foto- oder Videokameras ständig präsent sind? Das betrifft nicht nur Apparate von Journalist*innen, sondern auch die Geräte der Polizei, von Sicherheitskräften oder der Protestierenden selbst.
So können Kameras einen Verstärkungseffekt haben, wenn Protestierende, etwa bei den 1968er-Protesten, zunächst weniger aufrührerisch durch die Straßen schlenderten und erst laut zu protestieren anfingen, als eine Kamera in der Nähe war.
Zugleich sorgen Kameras dafür, dass die Anonymität bei Protesten gestört und aufgehoben wird. Hier kann man tatsächlich mit der Einführung von Kameras bei Protesten von einer Art Zäsur sprechen, weil sich Proteste nun anders gestalteten. Das konnte dazu führen, dass Polizisten teilweise ihre Kamera als eine Art Waffe verwendeten, weil sie bemerkten, dass sie mit ihr Gewaltpotenziale zerstreuen konnten. Auf der anderen Seite kann man ebenso beobachten, dass auch Protestakteure selbst dazu übergehen, mit Kameras zu operieren. So ergibt sich eine Art Kamerakampf zwischen Polizei und Protestierenden. Manche Protestakteure vermummen sich vor einer Kamera, andere filmen gezielt Polizist*innen. Dadurch kommt noch einmal eine ganz neue, eigene Dynamik ins Spiel.
Ebenso ist nicht zu vergessen, dass unsere Sicht auf Protestereignisse meist die Polizeisicht ist, von hinten auf das Gesamtereignis. Selten hat man die Sicht eines Protestierenden, da oftmals Journalist*innen die Proteste aus einer Perspektive hinter der Polizei filmten, weil ihnen andere Positionen nicht erlaubt waren.
LaG: Spielten Medien eine wichtige Rolle für die Demokratiegeschichte, etwa indem sie bei Straßenprotesten auf Belange von Bevölkerungsgruppen aufmerksam machten, die ansonsten ungehört geblieben wären?
Nicolai Hannig: Teilweise stimme ich zu, dass Medien in diesem Zusammenhang eine verstärkende oder stärkende Funktion für die Demokratie haben. Die Medienfreiheit und Abschaffung von Zensur spielten dabei eine ebenso wichtige Rolle, was übrigens häufig auch zu den Protestzielen zählte. Ich denke aber, dass die Rolle der Medien eben nicht in einer simplen Verstärkerfunktion aufgeht. Vielmehr sind die Medien selbst zum Bestandteil von Protest geworden und es wird von vornherein mit ihnen geplant. Manche Protestformen würden ohne Medien überhaupt nicht funktionieren.