Christina Wolff ist zentrale Gleichstellungsbeauftragte und Leiterin des Koordinationsbüros für Chancengleichheit an der Universität Potsdam sowie Vorstandsfrau bei der Bundeskonferenz der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten an Hochschulen (bukof). Sie ist Mitherausgeberin des 2023 erschienenen Bandes „Geschlechter in Un-Ordnung“.
Sigrid Roßteutscher ist Professorin am Institut für Soziologie an der Universität Frankfurt mit dem Schwerpunkt sozialer Wandel und sozialer Konflikt. Sie forscht unter anderem über den Zusammenhang von Populismus, Polarisierung und die damit verbundene abnehmende demokratische Legitimität.
Hannah Lotte Lund ist Historikerin und Literaturwissenschaftlerin am Zentrum für Antisemitismusforschung sowie Projektleiterin am Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) der Technischen Universität Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen an der Schnittstelle zwischen Geschlechtergeschichte und jüdischer Geschichte sowie im Bereich Kulturgeschichte und Erinnerungspolitik.
LaG: Wir wollen darüber sprechen, ob Debatten zum Thema Gender sich zu unterschiedlichen Zeiten ähnelten. Sind ähnliche Mechanismen, Themen oder Argumente erkennbar – und wie und warum haben sie sich möglicherweise im Laufe der Zeit verändert? Außerdem wollen wir diskutieren, warum das Thema Gender ein solches Erregungs- und vielleicht sogar gesellschaftliches Spaltungspotenzial birgt. Um das greifbar zu machen, haben Sie konkrete Debattenbeispiele aus Ihrem jeweiligen Arbeitsbereich mitgebracht.
Christina Wolff: Ich möchte die Diskussion mit dem Beispiel der dritten Geschlechtsoption und der damit verbundenen Debatte zu Geschlechtervielfalt an Hochschulen eröffnen und mit der politischen Komponente starten: 2017 fiel das Urteil des Bundesverfassungsgerichts und 2018 gab es dann die Änderung des Personenstandsgesetzes. Damit gibt es eigentlich eine klare gesetzliche Vorgabe, dass es mehr als nur zwei Geschlechter gibt. Aber das Festhalten an einem binären Geschlechterverständnis stabilisiert Machtstrukturen, auch und vielleicht gerade an der Hochschule. In der Wissenschaft kriegen wir Gelder hauptsächlich über Drittmittel oder aus dem Landeshaushalt. Und wenn man sich anschaut, wie die Förderrichtlinien der DFG z.B. oder auch des Bundes sind, dann ist das häufig zweigeschlechtlich geteilt. Man bekommt eben Geld – ich sage es jetzt so polarisiert – für Frauenförderung, aber wenn man versucht, auch TIN* [trans*, inter*, nicht-binäre]-Personen zu fördern, wird das häufig erst einmal in Frage gestellt bzw. benötigt es eine aufwendige Begründung. Mit Freude habe ich die Novelle des brandenburgischen Hochschulgesetzes zur Kenntnis genommen, welche von Geschlechtern, und nicht mehr von der Gleichstellung von Männern und Frauen spricht. Das eröffnet neue Räume zur Deutung von Geschlecht und der Förderung der Geschlechtervielfalt, z.B. sprachlich, indem inklusiv der Gender-Stern verwendet wird. Zur sprachlichen Gleichbehandlung gehört aber auch, dass man Diskriminierungsstrukturen abschafft und auch verhindert, dass in den IT-gestützten Systemen der Hochschule ununterbrochen gemisgendert wird, weil Geschlechts- und Namensanpassungsprozesse nicht funktionieren. Diese Prozesse ändern sich zwar, aber sehr langsam und nur mit sehr viel Arbeit. Wie das gut funktionieren kann an Hochschulen, wird zum einen in der bukof-Kommission für queere* Gleichstellungspolitik erarbeitet und zum anderen haben wir das auch in unserem Buch „Geschlechter in Un-Ordnung“ ausführlich besprochen. Hier ist Austausch und Netzwerken wichtig für das Handeln der Gleichstellungsakteur*innen an Hochschulen.
Jenseits einer geschlechtergerechten Sprache brauchen wir außerdem Räume im Sinne von Infrastruktur – ich spreche tatsächlich über All-Gender-Toiletten und Umkleidekabinen. Ich mag es zwar nicht, wenn meine Arbeit auf Toiletten reduziert wird, aber es passt gut als Veranschaulichung. Denn ich muss häufig legitimieren, wenn gefragt wird: Wie viele betrifft das denn? Brauchen wir jetzt für diese Personen, die sich als divers (keine Selbstbezeichnung, sondern als Personenstandskategorie) eingetragen haben, eine All-Gender-Toilette auf jedem Campus? Da zeigt sich ein gewisser Widerstand gegen Veränderungsprozesse und ein Unverständnis, welche strukturellen Hindernisse es aktuell gibt. Es wird sich nicht intersektional mit Ausgrenzung, Abwertung und Privilegien auseinandergesetzt.
Am Thema Gender werden häufig auch rechtskonservative und antifeministische Debatten aufgezogen. Ich erinnere mich an den Auftakt unseres Queer-at-Work-Netzwerks [in Potsdam]. Das ist ein Netzwerk für queere Beschäftigte, mit dem wir einen Safe Space schaffen wollten. Das war ein großes Event, wir haben die Regenbogenfahne gehisst. Und es gab vorher von der Jungen Alternative einen Aufruf, sich dagegen zu wehren, den ganzen Pride-Monat in Frage zu stellen. Wir brauchten Polizeischutz auf dem Campusgelände für diesen Tag. Diese offene Queerfeindlichkeit und der damit verbundene Antifeminismus ist beängstigend und nimmt in unserer Wahrnehmung öffentlich zu. Aber auch innerhalb der Hochschule beobachte ich eine Zunahme von Widerständen: Wenn ich z.B. gefragt werde, ob Safe Spaces für queere Personen oder für BIPoC-Studierende [Black, Indigenous and People of Colour], nicht eigentlich „Diskriminierung“ gegenüber denjenigen ist, die nicht dabei sein dürfen, also z.B. weiße Personen. Das ist provokant, antifeministisch, antidemokratisch, es fehlt ein Verständnis von diskriminierenden Strukturen, von gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Da brauche ich Verbündete – gerade in der Forschung –, die es zu wenig gibt. In ganz Deutschland braucht es mehr interdisziplinäre Geschlechterforschung, Postcolonial Studies, Diversitäts- und Antidiskriminierungsforschung. Wir brauchen mehr Unterstützung durch die Forschung, aber auch politisch und durch entsprechende Netzwerke, um mit Expertise und Kompetenz gegen diskriminierende und antifeministische Angriffe vorzugehen.
Sigrid Roßteutscher: Ich würde gerne als Politikwissenschaftlerin die Perspektive der Parteien- und Wahlforschung einbringen. Die gendergerechte Sprache, das ist das heiße Thema, das wir im Moment diskutieren. Auf Länderebene gibt es Koalitionsverträge, die das Gendern sogar verbieten, etwa in Sachsen und Hessen. Ich bin sehr gespannt, wie die Unis in Hessen reagieren, wenn da tatsächlich ein Beschluss von oben kommt. Aber warum ist das ein Thema für demokratisch-konservative Parteien? Zum Beispiel scheint die CDU/CSU sich ja irgendetwas davon zu versprechen – etwa, dass sie durch das Verbot von gendergerechter Sprache mobilisieren kann. Und empirisch betrachtet kann sie das auch.
Es gibt diese zwei Aspekte von gender issues: Der eine ist ganz klassisch, Sie haben es angesprochen Frau Wolff, das Binäre, das ist die Gleichstellung von Mann und Frau. Hier ist die deutsche Gesellschaft mehrheitlich progressiv und stimmt zu. Das ist kein Aufregerthema mehr, sondern höchstens ein Nischenthema für manche Extreme. Dann gibt es aber diese zweite Dimension – das lässt sich empirisch ganz klar zeigen –, die mit der klassischen Gleichstellungsdimension zwar korreliert, aber nur sehr bescheiden, und das ist genau dieser Diversitätsaspekt. Da geht es um gendergerechte Sprache, um All-Gender-Toiletten und grundsätzlich darum, ob man glaubt, dass es neben Mann und Frau überhaupt noch ein drittes Geschlecht geben kann. Und hier zeigt sich statistisch eine ganz andere Dimension: Wir haben in der deutschen Gesellschaft ganz viele Leute, die sehr progressiv sind hinsichtlich Gleichstellung und Gleichberechtigung der Frauen – und gleichzeitig traditionell und höchst skeptisch gegenüber diesen neuen nicht-binären Genderthemen. Kurz gesagt: Wir haben auf der einen Seite eine ganz große Mehrheit für Gleichstellung und wir haben eine ganz große Mehrheit gegen diese non-binären Geschichten. Und das ist – denken die Konservativen – ein fruchtbarer Boden für die Mobilisierung von Mehrheiten. Das ist politisch gegebenenfalls auch spalterisch.
Was wir außerdem sehen: Extrem konservative, traditionelle oder rechte Positionen zu diesem Thema sind stark verknüpft mit antimigrations- und muslimfeindlichen Einstellungen. Wenn also die CDU/CSU auf diesen gender issues mobilisiert und kognitiv sowie emotional mit geschlechterneutraler Sprache und All-Gender-Toiletten etc. gleichzeitig aktiviert: „Ich bin auch gegen Migration, ich mag Muslime nicht“, dann mobilisiert sie eigentlich für eine ganz andere Partei, die mit diesen Themen das Feld besetzt, die AfD. Wir nennen das issue ownership. Und deshalb ist die Frage, ob sich die CDU/CSU nicht ein Eigentor damit schießt, indem sie denkt, mit „Anti-Gender“ ein traditionalistisches Thema abzugreifen, gegen das es Mehrheiten gibt, und ob sie dabei auf dem Schirm hat, dass sie damit etwas aktivieren kann, was wiederum Wähler und Wählerinnen eher zur AfD treibt.
Hannah Lotte Lund: Es ist leider nicht nur die CDU. Wir sind gerade hier in Berlin plakatiert – wegen der zu wiederholenden Wahl – „für kontrollierte Migration“ – FDP, das heißt wohl auch für kontrollierte Vielfalt. Also scheinen noch andere Parteien auf diese Kombination von Anti-Vielfalt und Migration zu setzen. Dieses Mobilisierungspotenzial, das Sie ansprachen, habe ich bei der Frage nach der Funktion der Geschlechterdebatten vielleicht unterschätzt, es wird aber in der Wahl jetzt deutlich.
Mit der Frage, welche anderen Funktionen Geschlechterdebatten haben und hatten, versuche ich jetzt, den Bogen in die Geschichte zu schlagen, exemplarisch in eine Zeit, in der Binarität verteidigt wurde, zu Ungunsten der Frauen. Eine Zeit, in der die Geschlechterfrage mit der politischen Frage insofern gemeinsam diskutiert wurde, als dass die Geschlechterordnung am Nationalismus hing. Denn um 1900, als es darum ging, Frauen von Studium und Berufstätigkeit fernzuhalten, war es auch immer der deutsche Mann, der durch die Bestrebungen der Frau gefährdet war. Dazu habe ich ein Zitat mitgebracht: „Das Recht zur tätigen Teilnahme am öffentlichen Leben ist unlösbar verquickt mit der Pflicht des Waffendienstes. Und solange wir keine Mann-Weiber und Amazonen züchten wollen, solange hat die Frau auf dem Markte oder der Rednertribüne und natürlich auf der Universität zu schweigen“. Man hat in Europa 50 Jahre darüber diskutiert, ob man Frauen an die Universität lässt. Das Interessante ist: Es handelt sich hier um die Wiederaufnahme von Argumenten aus einer vorhergehenden Debatte. Es werden immer Geschlechterqualitäten verhandelt, entweder das Gehirn, also etwas Anatomisches, das heißt: Sie können gar nicht, oder aber auch, als sittliche Argumentation: Sie sollen gar nicht, weil dann sozusagen die Kultur verliert. Und natürlich: Sie dürfen gar nicht. Privilegien werden verteidigt, weil Frauen die bestehenden Hierarchien hinterfragt haben. Und Argumente kehren wieder, wie z.B. die kleineren Gehirne oder der Geschlechtscharakter der Frau und des Mannes, die bereits um 1800 entwickelt wurden. Eine Sprache kehrt wieder, die bereits zuvor, im postrevolutionären Zeitalter, entwickelt wurde, um die Welt zu sortieren. Das Geschlecht wird genutzt, um Ordnung in der Welt zu schaffen. Man hält um 1800 an der Natur und an den Geschlechtern fest, weil die Revolution gerade alles durcheinandergeworfen hat und die Religion nichts mehr zählt. Man sucht ein neues Ordnungssystem – und das wurde dann die Natur und die Geschlechter. An diesen Geschlechterdebatten zeigt sich eine Haltbarkeit von Argumenten. Und zum anderen eine starke Beunruhigung, die mit großem rhetorischen Aufwand niedergekämpft wird. Und man fragt sich damals wie heute: Warum? Warum sind die Leute so beunruhigt von dem, was landläufig mit Gendertoiletten abqualifiziert wird? Warum haben die Menschen Angst davor? Warum kann man mit so einem Sternchen mobilisieren?
Wolff: Ich fand sehr interessant, wie Sie die Verbindung gezogen haben zu Biologisierung und Pathologisierung. Mir wird häufig von Trans- oder von nicht-binären Personen rückgemeldet, wie sie immer wieder gefragt werden: „Wer bist du denn nun wirklich?“ Ich denke, dass diese Respektlosigkeit – und für die Fragenden selbst Reduktion von Komplexität –, aus einer großen Handlungsunsicherheit entspringt. Ich stelle aber auch fest, dass es oft verallgemeinernd im Kollektiven passiert. Wenn aber ein Mensch, der verunsichert ist, z.B. eine Transperson kennenlernt und man dann einmal kurz über Pronomen gesprochen hat, über den Namen und vielleicht auch von eigenen Erfahrungen der Abwertung berichtet – dann verändert sich etwas. Sie sehen einen Menschen und vielleicht weniger das Geschlecht. Es gibt einen Unterschied zwischen individuellem Handeln und kollektiver Angst. Angst, Strukturen zu hinterfragen, sich selbst und die eigenen Erfahrungen und Privilegien zu hinterfragen. Auch Macht abzugeben und damit Veränderungen, Ausdifferenzierung von Gesellschaft zu akzeptieren. Zum Beispiel, als Frauen studieren und arbeiten gingen, konnten sie weniger im Haushalt tätig sein. Damit hat sich das gesellschaftliche Gefüge verändert. Räume mussten fortan geteilt werden. Es geht aber noch weiter: Ich nehme als Beispiel den weißen, privilegierten an der Uni tätigen Mann. Und der muss jetzt plötzlich im Bewerbungsgespräch Angst haben, dass jemand mit Migrationsgeschichte, egal welches Geschlecht, irgendwie Vorteile erhält, denn das Narrativ des Privilegierten ist: Der ist nur wegen irgendwelcher Quoten hier – eine rassistische Zuschreibung. Die Personen waren aber schon immer da, nur hatten sie bisher weniger Zugang zu den homogenen Räumen. Und ähnliches passiert bei der Kategorie des dritten Geschlechts, Abwertung und Aberkennung, u.a. aus Angst, Räume zu teilen.
Streit um die Hosen zwischen Eheleuten, kolorierter Holzschnitt von Deckherr nach Montbéliard, um 1810. © Hannover, Wilhelm Busch – Deutsches Museum für Karikatur und Zeichenkunst, B 0563
Roßteutscher: Darf ich widersprechen? Macht und Abgabe von Privilegien, ja – für die binäre Dimension. Hier geht es tatsächlich darum, Frauen an die Macht zu lassen, durch Quoten usw. Die zweite, nicht-binäre Dimension ist eine kulturelle und, wie Frau Lund andeutete, in Zeiten von großen Umbrüchen, Revolutionen oder Krisen, ist das letzte, was bleibt zur Stabilisierung: Identität. Es gibt Frauen und Männer und dazwischen gibt es nichts mehr. Nicht-binäre Personen nehmen uns keine Macht oder Privilegien. An den Universitäten, bei der Besetzung von Posten, bei dem Kampf, der aus gewissen Ecken gegen Quoten geführt wird, geht es um Machtkämpfe zwischen Männern und Frauen. Das andere ist kulturell und macht Angst. „Wir haben schon akzeptiert, dass es Schwule gibt und Lesben gibt, was kommt da jetzt noch?!“ Das sind Weltbilder, die zusammenkrachen, und das hat wenig mit Machtkampf und sehr viel mit Identitäten zu tun.
LaG: Ist Biologisierung für konservative Parteien auch ein Bindeglied zwischen dem Migrations- und dem Gender-Thema?
Roßteutscher: Vermutlich, aber ich kann es nicht genau sagen. Da haben wir die Zahlen nicht. Der Mechanismus ist einfach: Ihr gehört zu uns, ihr gehört nicht zu uns und wir schließen das Fremde aus. Denn das Fremde, Unbekannte ist gefährlich. Und das ist eben die nicht-binäre Person genauso wie die nicht-deutsche, angeblich nicht in unseren Kontext passende Person.
Lund: Ich habe eine Frage hinsichtlich der Interpretation der Debatten. Ich glaube, dass die Tendenz, dass wir zwischen dem Binären und dem Vielfältigen trennen, aus Gründen der Abwehr geschieht und wichtig ist. Sehr oft werden die Punkte aber auch vermischt und alles in einen Topf geschmissen. „Gender? Ach, das sind diese Toiletten“. Oder, wenn ich als Frau solche Dinge diskutieren will, die Haltung: „Was wollt ihr eigentlich noch? Ihr könnt doch schon arbeiten und studieren, was kommst du mir mit Geschlechterthemen?!“ Und dann muss man das mühselig auseinandersortieren.
Und daran anschließend habe ich eine Frage zu einer historischen Debatte aus der Weimarer Zeit. Da gab es ein Diversitäts-, ein Vielfaltsmodell von Magnus Hirschfeld. Der hat in Berlin das Institut für Sexualwissenschaft gegründet und eine Theorie entwickelt von den sexuellen Zwischenstufen. Deren Grundidee ist, dass jeder Mensch eine Mischung aus männlich, weiblich in beliebiger Zusammensetzung, ist, und dass es deshalb beliebig viele Geschlechter gibt, weil sich jede*r aus verschiedenen sexuellen und Genderaspekten zusammensetzt. Diese Theorie wurde intensiv diskutiert und von konservativen Kräften schon bekämpft, lange bevor Hirschfelds Institut von den Nazis zerstört wurde, weil es das absolute Feindbild war. Aber: Wir hatten das schon mal, eine Idee der geschlechtlichen Vielfalt. Sie blieb aber auch nach der NS-Zeit vergessen und wird erst jetzt wieder im Zuge der Queer Studies ausgegraben. Warum wurde das in den 1920ern akzeptiert und dann so nachhaltig zerstört?
Roßteutscher: Das historische Beispiel zeigt, dass die Debatte nicht neu ist, sondern wiederkehrt. Aber natürlich haben sich Gender-Themen historisch immer verändert. Kein Mensch würde heute mehr sagen, Frauen sind zu blöde zu wählen, sie haben nicht das Hirn dazu, ihre Emotionen und Gene erlauben ihnen nicht den rationalen Blick. Heute reden wir darüber, ob Frauen in führenden Positionen ordentlich vertreten sind und ob man da mehr machen muss. Aber viele Dinge sind mehrheitlich konsensuell. Und dann kommt diese Identitätsfrage: „Jetzt wollt ihr auch noch ein drittes Klo haben. Für welche 0,04 Prozent der Gesellschaft?“. Das sind ja die Nachfragen, die Frau Wolff auch schildert, „was machen wir hier für eine Politik, für welche irrelevanten Subgruppen der Gesellschaft?!“. Und da kommen im Moment noch – genau wie es für die Männer im 19. Jahrhundert unvorstellbar war, dass die Frauen wählen – komplette Abwehrreaktionen. Ich habe vorhin gesagt, die Genderfrage habe nichts mit Macht zu tun. Das muss ich ein bisschen revidieren. Sie hat aber vor allem mit einer Vorstellung von der richtigen Welt, von der Sortierung der Welt, zu tun.
Wolff: Zu Ihrer Frage, Frau Lund, warum so viel vermischt wird im Diskurs: Wir lassen zu selten TIN*-Personen selbst zu Wort kommen. Auch wir hier sind ein weißer Raum, wir haben uns nicht mit Pronomen vorgestellt, sind aber wahrscheinlich alle weiblich sozialisiert. Hätten wir eine größere Vielfältigkeit an Sprecher*innen, würde sich die angesprochene Dualität stärker auflösen. Ich finde es allerdings auch nicht unbedingt sinnvoll, die Debatten zu trennen. Ich spreche oft von intersektionaler Gleichstellungsarbeit. Man muss schauen, wie Klassismus, Rassismus und Sexismus ineinander verwoben sind und sich in Machtkonstruktionen widerspiegeln. Und man kann das, wenn ich Frau Roßteutscher richtig verstanden habe, ja auch nicht trennen. Es gibt Menschen, die auf diesen Antimigrations-Zug aufspringen, was durch eine Gender-Anti-Haltung ausgelöst werden kann.
Und zu dem historischen Beispiel: Die 1920er Jahre waren eine sehr aufregende Zeit, es ist wahnsinnig viel passiert in Deutschland und es entwickelte sich offensichtlich auch ein Widerstand gegen vieles, was passierte. Vielleicht beobachten wir heute ähnliches: Dass es, wenn viele gesellschaftliche Veränderungsprozesse zeitgleich geschehen, zu komplex wird. Und zugleich ist das Thema rund um Geschlechtervielfalt komplex. Wenn ich an der Hochschule gebeten werde, das Thema Vielfalt, Antidiskriminierung und Geschlechtergerechtigkeit verständlicher zu erklären, frage ich mich: Wird dieser Anspruch auch an eine Physiker*in gestellt? Zu den Themen Gendern, Migration etc. haben alle eine Meinung, die allerdings nicht mit Expertise gleichzusetzen ist. Aber deshalb wird schnell vieles in einen Topf geworfen, es gibt einen Mangel an differenziertem Wissen.
Roßteutscher: Aber wir haben 50 Prozent Frauen, 50 Prozent Männer ....
Wolff: Nein.
Roßteutscher: ... und dann haben wir da ein, zwei Prozent Diverse?
Wolff: Das wissen wir doch gar nicht. Wir haben kaum Daten. Und genau diese Debatte, wie viele Trans- oder Intermenschen es gibt, führe ich nicht, weil es gibt sie und dann muss Diskriminierungsschutz geboten sein.
Roßteutscher: Aber das ist ja das widerständige Argument: Brauchen wir wegen zwei Prozent eine Toilette?
Wolff: Ja! Ich mache dieses Beispiel nicht gerne, aber: Jedes öffentliche Gebäude hat behindertengerechte Toiletten. Und es gibt Hochschulen, die haben vielleicht eine Person, die im Rollstuhl fährt, und doch hat jedes Gebäude eine Behindertentoilette. Es muss ein inklusiver Raum geschaffen sein. Zudem: Im Zug haben wir doch auch kein Problem auf dieselbe Toilette zu gehen.
LaG: Möglicherweise hängen Erregungspotenzial und Krisenwahrnehmung zusammen, ohne jedoch historisch parallelisierbar zu sein. Die Weimarer Zeit war krisenhaft, dennoch gab es, wie das Beispiel von Frau Lund zeigt, zumindest einen etwas offeneren Debattenraum über dieses Thema. Der ist offensichtlich, wenn wir die Zahlen von Frau Roßteutscher sehen, heute weniger gegeben: Es gibt eine große gesellschaftliche Mehrheit, die das dritte Geschlecht so stark ablehnt, dass sie potenziell rechts mobilisierbar ist. Brechen Krisen also emanzipative Debatten ab? Sind sie die Folie, auf der Widerstand mobilisiert und Ängste aktiviert werden? Und ist Sprache hier möglicherweise ein Faktor, der zur Spaltung beiträgt?
Lund: Möglicherweise rührt das Erregungspotenzial auch daher, dass es so unterschiedliches Wissen gibt. Vielleicht ist Wissen eher ein Faktor als Akzeptanz. An meinem Institut spricht eine ganze Generation von Studierenden selbstverständlich alle Geschlechter mit. Da draußen, der Taxifahrer, aber auch Professoren anderer Fachbereiche und die ältere Generation spricht nicht so. Es sind unterschiedliche Wahrnehmungsräume. Und natürlich auch Gewohnheiten, die nicht mit mangelnder Akzeptanz gleichgesetzt werden können.
Wolff: Ich habe den Eindruck, dass man sich in unseren Fachbereichen – Geschlechterforschung, Soziologie, Politikwissenschaft – in einer Bubble befindet. Es hängt außerdem davon ab, welche Medien konsumiert werden und mit wem jemand befreundet ist. Hinzu kommt: Es gibt sehr viele große Themen gerade, die Nachhaltigkeitsdebatte, die Klimakrise, den Rechtsruck. Gender und Diversity muss immer ein Querschnittsthema sein, d.h., es sollte in den großen Debatten immer mitgedacht werden. Doch dafür braucht es ausreichend Ressourcen in der Politik, in den Landeshaushalten, in den Hochschulen und in der Wissenschaft. Und die Kompetenz um das Wissen muss anerkannt werden.
LaG: Ist Gender, zugespitzt gefragt, gesellschaftlich gesehen also eine Stellvertreter-, eine Huckepack-Debatte?
Wolff: Ja, für mich schon. Dadurch wird leider oft vom Wesentlichen abgelenkt. Ja, geschlechterinklusive Sprache ist wichtig, Sprache schafft auch Realität – aber sie schafft keine Gleichberechtigung. Ich rede gerne mit Menschen über Sprache, aber es gibt Wichtigeres.
Roßteutscher: Da stimme ich zu. Das ist ein Ablenkungs-, ein Erregerthema. Es hängt mit vielen anderen Themen zusammen und wird dann stellvertretend diskutiert. Die mehrheitliche Zustimmung zur Gleichstellung von Mann und Frau und die mehrheitliche Ablehnung von Diversität: Das hat ganz viel mit Bildung und Alter zu tun. Ich mache die gleiche Erfahrung wie Frau Lund und bin überrascht, wie die Studierenden dieses Binnen-I und Sternchen sprechen können. Ich kann es nicht, ich werde es nie lernen, ich gehöre zu den Leuten, die sich irgendwann angewöhnt haben, von Wählern und Wählerinnen zu sprechen, obwohl das, wenn man es schreibt, Texte länger macht. Aber wir sollten, glaube ich, versuchen, uns alle mit dem Thema entspannt zu geben. In 20 Jahren werden wahrscheinlich alle non-binär sprechen können, aber wir sollten es nicht erzwingen, weil das im Moment den Widerstand erzeugt, weil in Krisensituationen Identität und Geschlecht so wahnsinnig eng verwoben sind. Lasst die Leute langsam lernen. Wenn an den Unis und von den jungen Leuten geschlechtersensibel gesprochen wird – das diffundiert, das war schon immer so. Sprache ist veränderbar – aber, bitte, keine Gesetze und sonstigen Regelungen, die nur Widerstand und Gegenfeuer erzeugen.
LaG: Zeigt das Ihre empirische Forschung: dass sich mit der Zeit, mit einem Generationswechsel, mit veränderten Identitätsdebatten, Mehrheiten verändern?
Roßteutscher: Ja, absolut! Man kann mit jeder Generation sehen, wie Themen sich verändern und mehrheitsfähiger werden. Wir brauchen Geduld. Wenn wir jetzt eine Richtung erzwingen, produzieren wir nur Konflikte, weil wir eben Identitäten berühren.
Wolff: Das ist ein interessanter Punkt. Gesetzliche Veränderungen wie eine dritte Geschlechtsoption schaffen zunächst neue Unsicherheiten: Wie soll das jetzt gesagt und geschrieben werden? Und diese neue Unordnung, die in ein System reinkommt, das „funktioniert“ hat, muss neu bedacht und ausgehandelt werden. Und das verändert natürlich etwas in der Einstellung von Menschen, die sich gerade daran gewöhnt haben, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu sagen.
Lund: Ich finde den Hinweis auf die Größe der Debatte wichtig und dass das Thema auch groß gemacht wird. Das ist ein Phänomen, das man – Lernen aus der Geschichte – in der Geschichte öfter sieht: dass Themen diskursiv hochgehalten werden. Das sieht man auch im 19. Jahrhundert beispielsweise – ohne das vergleichen zu wollen – an „der Judenfrage“. Das war eine kleine Zahl von Menschen, die einen riesigen Diskurs ausgelöst haben, in dem Feindbilder entwickelt wurden. Und heutzutage haben wir die Klimakrise. Dinge werden hochgehalten, im Diskurs angefeuert – mit Absicht. Und das kann ungünstige politische Allianzen auslösen. Man könnte stattdessen aber auch entspannter bleiben oder, wie Frau Wolff vorgeschlagen hat, auf mehr Beteiligungen und Gespräche setzen statt auf Gesetze.
Wolff: Ja, Sprache sollte kein Zwang sein, sondern sie wird sich von alleine verändern. Das zeigt sich auch historisch. Durch die eingangs angesprochenen Verbote, die politisch motiviert sind, erzeugt man wiederum Angst, zu etwas gezwungen zu werden. Aber: Dinge gehen auch nicht immer gänzlich ohne Zwang und die Notwendigkeit, Gesetze anzupassen, und anzuerkennen, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt. Ich vertraue auf gewisse Zwänge im Sinne von rechtlichen Rahmungen – kombiniert mit gesellschaftlichen Veränderungen, Anpassungsprozessen und sehr viel Geduld und Dialog. Dass wir Menschen zu Wort kommen lassen, die Expertise haben, und die queere Community sichtbar machen. Ich glaube, dann werden wir in 20 Jahren andere Debatten haben.