Die von Digitalen Spielen abgedeckte Bandbreite von Themen ist ebenso groß wie ihre Möglichkeiten. Das Besondere bei der Nutzung von Digitalen Spielen ist die Interaktivität des Mediums, die sich in der Auseinandersetzung mit Spielmechaniken durch die Spieler*innen ausdrückt (Bassermann 2023). Dies führt dazu, dass Nutzer*innen sich intensiv mit Themen beschäftigen. Dieses Potenzial haben auch erinnerungskulturelle Institutionen erkannt und entsprechend begonnen, die Entwicklung von Digitalen Spielen in ihr methodisches Repertoire der Geschichtsvermittlung aufzunehmen. Aktuell loten sie Formen eines angemessenen, nicht bagatellisierenden Einsatzes aus, in dem durch digitale Interaktion nicht nur Geschichte, sondern auch Erinnerung vermittelt werden kann.
Um sich über die Möglichkeiten spielerischer Ansätze auszutauschen, fanden sich am 5. Juni 2023 auf Einladung der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen und gefördert durch die Alfred Landecker Foundation rund ein Dutzend Menschen in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme zusammen, die aktuell an Gedenkstätten und Erinnerungsorten Digitale Spiele entwickeln. Auf diesem ersten Vernetzungstreffen wurden Ideen diskutiert, wie sich Erinnern interaktiv darstellen, erfahren und fortführen lässt. Während des Austauschs wurden zudem Gemeinsamkeiten im Hinblick auf Herausforderungen und Problemfelder, die vor, während und nach der Entwicklung auftraten, erkannt.
Zum Treffen gehörte das individuelle Erproben von Spielsequenzen und Prototypen der folgenden Spiele: „Last Seen“, „Spuren auf Papier“, „Erinnern. Die Kinder vom Bullenhuser Damm“, „Mission 1929“, „Friedrich Ebert: Der Weg zur Demokratie“ und „Hidden Codes“. An Rechnerstationen konnten Teilnehmende Spiele selber ausprobieren und erste Fragen und Gedanken mit anwesenden Personen, die diese Spiele entwickelten, im direkten Austausch besprechen. Außerdem wurde aufgrund der Diskussionen um geschichtsrevisionistische Deutungen im Spiel „Gezeichnet – Unsere Flucht 1945“ dieses als „Let’s Play“, d.h. als Aufzeichnung eines Spielenden beim Spielen, gezeigt. Weitere Spiele wurden in der frühen Entwicklungsphase vorgestellt.
Das bereits erschienene Spiel „Spuren auf Papier“ konnte ausprobiert werden. © SHGL, Foto: Iris Groschek
Christian Günther (Bergische Universität Wuppertal und Arbeitskreis Digitale Spiele und Geschichtswissenschaft) richtete in seinem die Diskussion eröffnenden Impulsvortrag den Blick auf das Problem der Handlungsmacht, das er in Digitalen Spielen von Erinnerungsorten und Gedenkstätten ausmacht. Die Faktoren Teilhabe, Potenzial und Handlungsmacht seien für das Spielerleben und die Spielmotivation entscheidend. Bei „Gedenkstätten-Spielen“, so seine Analyse, seien diese Faktoren eingeschränkt, was Frustration bei den Nutzer*innen zur Folge habe.
Anhand des Spiels „Through the Darkest of Times” zeigte er beispielhaft, wie Handlungsmacht bei Spielen zum Thema NS-Verbrechen genutzt – oder aber vermieden – werden kann. Der Entzug von Handlungsmacht könne auch als „Schutzschild“ gegen eine zu starke Immersion durch Nutzer*innen interpretiert werden. Günther schlug vor, die Kategorisierung von Spielen in Makrostruktur (Kontext und Metatext) / Mikrostruktur (Narration) / Substruktur (Spielelemente) um den Faktor Handlungsmacht zu erweitern. Eine Neuverhandlung von Handlungsmacht bei Digitalen Spielen entsteht ihm zufolge durch das Erschließen von zusätzlichen Handlungs- und Zeitebenen. Dies könnte auch ein Ansatz sein, um die Kreation von möglichst immersiven Vergangenheitsatmosphären, die im Games-Bereich angestrebt wird, im Gedenkstättenbereich zu umgehen – mit Felix Zimmermann gesprochen: „atmosphärische Störungen“ (Zimmermann 2023) einzubauen.
Problemfelder und Perspektiven bei der Entwicklung von Digitalen Spielen von Gedenkstätten
In der anschließenden Diskussion wurde deutlich, dass in allen aktuellen Projekten Thema ist, wie der Verlust der spieletypischen „Heldengeschichten“ bei Spielen im Gedenkstättenkontext kompensiert werden kann. Im Gespräch sind dabei andere Erweiterungen der Handlungsmacht, indem etwa:
Als weitere gemeinsame Problemstellung entpuppte sich die Lenkung der Spielenden im Sinne eines „korrekten Wahrnehmens“. Zudem fiel auf, dass Hinweise wie „Triggerwarnungen“ häufig beim Spielen übersehen würden. Eine weitere Herausforderung ist die gleichzeitige Adressierung von verschiedenen Altersklassen.
Eine Empfehlung von Teilnehmenden, die allgemeine Zustimmung fand, war, bei der Entwicklung von Digitalen Spielen die Ratschläge erfahrener Spieler*innen stärker einzubeziehen – und zwar zusätzlich zum unbedingt zu empfehlenden Einsatz von Fokusgruppen bei der Spieletestung im Entwicklungsstadium.
Ein wichtiger weiterer Beitrag zur Diskussion war die Frage, auf welche Weise Entscheidungen, die im Laufe der Spielentwicklung getroffen wurden, als Hintergrund-Dokumentation zum Spiel kommuniziert werden können. Als eine Möglichkeit wurde vorgeschlagen, Designentscheidungen in einem „director’s cut“ zu dokumentieren. Dies sei relevant wegen der Transparenz, die eine solche Dokumentation schaffe. Diese Transparenz bilde eine wichtige Grundlage für weitere Forschung, für die Evaluation von Games im Bereich Erinnerungskultur und unterstütze zudem die Unterrichtsanwendung.
In Form von kurzen Werkstattberichten beantworteten die Teilnehmenden folgende Fragen:
Wieso und für wen wollten wir ein Digitales Spiel entwickeln?
Was war die größte Herausforderung für uns?
Was war die größte Überraschung im Entwicklungsprozess?
Welcher Aspekt hat beim Einsatz mit der Fokus- bzw. Zielgruppe gut funktioniert?
Welcher Aspekt hat nicht funktioniert?
Was würden wir heute anders, was genau so wieder machen?
Welchen Ratschlag haben wir?
Antworten zu den in den Werkstattberichten beantworteten Fragen wurden notiert. © SHGL, Foto: Iris Groschek
Die Antworten auf diese Fragen wurden in Stichpunkten notiert und geclustert. So konnten anschließend Ziele und Herausforderungen der einzelnen Projekte benannt und verglichen werden. Deutlich wurde, dass die Gründe, die zur Entwicklung eines Digitalen Games im Kontext von Erinnerungsorten führten, vielfältig waren: So wurde der Wunsch nach einer digitalen Erweiterung des Gedenkortes genannt, entweder, weil der reale Ort zu klein sei, und/oder weil eine Ergänzung oder Vertiefung eines inhaltlichen Aspekts damit intendiert war. Als weitere Gründe wurden mehrfach eine breite Ausstrahlung und das Erreichen der Zielgruppe Schüler*innen genannt. Die Präsentationsfolien bzw. Niederschriften der Werkstattberichte sind für Interessierte aus der Gedenkstättenarbeit auf der Arbeitsplattform Digital Collective Memory abrufbar.
Die teilnehmenden Institutionen nannten als Herausforderungen bei der Umsetzung der Projekte beschränkte personelle, finanzielle und zeitliche Ressourcen: Der Ressourcenaufwand sei erheblich, besonders bei der frühen Einbindung von Fokusgruppen und bei der pädagogischen Implementierung. Auch die administrative Verzahnung wurde als Herausforderung formuliert, was zum Teil mit den begrenzten Möglichkeiten flexibler Finanzplanung in den Institutionen begründet wurde. Gleichzeitig bestehen Erwartungen vonseiten der Dienstleister*innen. Alle Projekte verfolgten im Arbeitsprozess mit den Entwickler*innen ein interaktives Vorgehen, was kreative Möglichkeiten erweitere, aber zum Teil auch die Probleme im Ressourcenmanagement verstärke. Deshalb seien klare Zielvorgaben und zeitliche Rahmensetzungen in allen Projektphasen notwendig.
Die partizipativen Prozesse und den Austausch auf „Augenhöhe“ mit jugendlichen Zielgruppen erlebten die Teilnehmenden trotz des hohen Arbeits- und Zeitaufwands durchgängig als sehr gewinnbringend. Die Teilnehmenden beschrieben den Aufbau von Spielerfahrung und daraus folgend gute Kenntnisse von Spielelementen als zentral für den Entwicklungsprozess. Alle unterstrichen zudem die Freude an der kreativen Entwicklung und der interdisziplinären Zusammenarbeit.
Die Teilnehmenden waren sich einig, dass Planung und Entwicklung von pädagogischem Begleitmaterial und konkrete Vorschläge für Einsatzmöglichkeiten rechtzeitig erfolgen müssen. Auch sei es wichtig, sich frühzeitig für eine Plattform für das Digitale Spiel zu entscheiden. Als problematisch wurde empfunden, wenn sich der (pädagogische) Einsatz auf den schulischen Bereich beschränke. Alle Projekte kämpfen mit der Herausforderung, Text und damit beschreibende Inhalte zu reduzieren, ohne dass dabei zentrale Inhalte verloren gehen.
Abschließend besprachen die Teilnehmenden Themen für ein „Good to know“ – in der Hoffnung, mit einer solchen Praxishandreichung künftigen Projekten im Bereich Digitaler Spiele von Erinnerungsorten schon in der ersten Planungsphase zu helfen. Welche Empfehlungen würden sie den Mitarbeitenden anderer Gedenk- und Erinnerungsorte geben, die ein Digitales Spiel entwickeln möchten?
Literatur
Bassermann, Markus: Games und Erinnerungskultur. Interaktion als Schnittstelle, 29.6.2023, URL: https://www.stiftung-digitale-spielekultur.de/digitale-spiele-games-erinnerungskultur-interaktion-schnittstelle-markus-bassermann/ [1.9.2023].
Zimmermann, Felix: Vergangenheitsatmosphären als Herausforderung für KZ-Gedenkstätten und digitale Spiele. Erlebnis, Kognition und das Potenzial atmosphärischer Störungen, in: Digital Memory (Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung, Heft 4), Göttingen 2023, S. 61-78.