Der Workshop beschäftigte sich mit geschlechterspezifischen Hafterfahrungen von Frauen in Berliner Haftanstalten. Im Fokus standen die Untersuchungshaftanstalt (UHA) am Präsidium der Volkspolizei in der Keibelstraße, die MfS-Untersuchungshaftanstalt Berlin-Pankow/Kissingenstraße, die Haftanstalt Berlin-Friedrichshain/Barnimstraße sowie die Strafvollzugsabteilung II Berlin-Köpenick/Grünauer Straße.
Zu der Thematik Hafterfahrungen von Frauen liegen einige Erfahrungsberichte von ehemaligen Gefangenen vor. Vor allem die Erlebnisberichte von Zeitzeuginnen aus Hoheneck, wie etwa die von Edda Schönherz oder Ellen Thiemann, sind hier zu erwähnen. Auch Sekundärliteratur zur Thematik Frauen in Haft lässt sich finden, wobei hier vor allem die Publikationen von Andrea Keller und Ines Veith hervorzuheben sind.
Durch die thematische Eingrenzung auf den Berliner Raum sowie explizit auf geschlechterspezifische Hafterfahrungen von Frauen schränkt sich das Angebot an Sekundärliteratur ein. In den bisher vorgelegten Publikationen zu den Untersuchungshaftanstalten des Ministeriums für Staatsicherheit in Berlin wird die Geschlechterspezifik meist nicht ausgearbeitet. Zu den reinen Frauengefängnissen in Berlin – dem Gefängnis in der Barnimstraße und zum späteren Gefängnis in der Grünauer Straße – gibt es kaum Studien. Daher stützten wir uns im Workshop vor allem auf zwei Texte: Zum einen auf den Artikel von Sandra Czech zur Grundlagenforschung zum ehemaligen Frauengefängnis in der Grünauer Straße und zum anderen auf das Buch von Claudia v. Gélieu zum Gefängnis Barnimstraße.
In Anbetracht der noch existierenden Gefangenenakten aus dem Gefängnis Grünauer Straße wäre eine Untersuchung der geschlechterspezifischen Hafterfahrungen von Frauen speziell in Berlin aber auch DDR-weit (hier unter Einbeziehung des Frauengefängnisses Hoheneck) wünschenswert.
Insgesamt wurden den Teilnehmerinnen sechsQuellen zur Analyse angeboten, die zu Beginn des Workshops kurz vorgestellt wurden. Bei den Quellen 1–3 handelt es sich um eine Quellensammlung zu Gabriele Stock. Gabriele Stock wurde am 13. Februar 1951 in Berlin geboren. Am 10. August 1969 unternahm sie einen Fluchtversuch in Bulgarien und wurde dabei festgenommen. Sie wurde verhaftet, saß zunächst in Bulgarien in U-Haft, wurde dann zur weiteren U-Haft in verschiedene Berliner Haftanstalten verlegt und saß dann ihre Haftstrafe bis 1971 in der Haftanstalt in Berlin/Barnimstraße ab.
Die Quellensammlung umfasst die Dokumentation „Haftanstalten und Bedingungen in der DDR im Zeitraum 1965 bis 1975“. Es handelt sich um einen Bericht von Gabriele Stock aus ihren eigenen Erfahrungen sowie aus Informationen von anderen Personen, zum größten Teil von ehemaligen Häftlingen. Es werden Erfahrungen von Frauen aus fünf Haftanstalten geschildert, inklusive der beiden, in denen Gabriele Stock selbst inhaftiert war. Des Weiteren wurden den Teilnehmerinnen Kopien der Akte von Gabriele Stock aus dem Stasi-Unterlagenarchiv des Bundesarchivs (BArch) sowie eine Sammlung ihrer Zeichnungen vorgelegt, die sie selbst zusammengestellt und kommentiert hat. Die Zeichnungen thematisieren ihre Haftzeit in den Gefängnissen Berlin/Barnimstraße und Berlin-Pankow/Kissingenstr. und sind mit persönlichen Anmerkungen versehen.
Als vierte Quelle wurden den Teilnehmerinnen verschiedene Haftakten aus dem Gefängnis Grünauer Straße aus dem Landesarchiv Berlin vorgestellt. Aus rund 45 Haftakten wurden exemplarisch sechs Akten aus den 1980er Jahren ausgewählt, die belegen, wie Frauen wegen des „Asozialen“-Paragraphs / § 249 StGB der DDR verurteilt wurden. Die Haftakten verfügen in der Regel über denselben Aufbau und beinhalten: Aufnahmebogen, Entlassungsschein, Standarduntersuchungsbogen, Dienst- bzw. Arbeitsunfähigkeits-Nachweiskarte, Begleitschein zur histologischen Untersuchung, Behandlungskarte, Effektennachweis für Verhaftete und Strafgefangene, Erziehungsprogramme sowie wesentliche Persönlichkeitsmerkmale, diverse Erklärungen der Frauen, Einschätzungen über die Häftlinge sowie Rechnungen/Zahlungsaufforderungen, die in der Haftzeit aufgelaufen sind.
Erweitert wurde die Quellenauswahl zur Grünauer Straße durch eine Akte einer Inoffiziellen Mitarbeiterin (IM) des Ministeriums für Staatssicherheit, die dem Stasi-Unterlagenarchiv des Bundesarchivs entnommen wurde. IM „Britta“ war selbst im Strafvollzug Grünauer Straße inhaftiert und wurde während ihrer Haftzeit gezielt vom Ministerium für Staatssicherheit angeworben, um andere inhaftierte Frauen zu bespitzeln.
Bei der letzten Quelle handelt es sich um ein Zeitzeuginnen-Interview mit Sylvia Teichgräber. Den Workshopteilnehmerinnen wurden das transkribierte Interview sowie ein biographischer Kurzfragebogen zur Verfügung gestellt. Sylvia Teichgräber war eine Woche in der Haftanstalt Berlin-Pankow/Kissingenstraße inhaftiert, von April bis August 1974 in der UHA II Keibelstraße und von August bis November 1974 in der Strafvollzugsabteilung Grünauer Straße.
Des Weiteren wurden den Teilnehmerinnen das Strafgesetzbuch der DDR von 1974 sowie ein Abkürzungsverzeichnis zum Umgang mit Akten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit ausgehändigt.
Nach der ersten Sichtung der Quellen erhielten die Teilnehmerinnen eine Übersicht zu den Quellen sowie Hintergrundinformationen zu ihrer Auswahl und zum Prozess der Findung. Mit Hilfe einer Mind-Map näherten sie sich der Frage: Was bedeutet „geschlechterspezifisch“ im Allgemeinen und in der Haft im Besonderen? Die Teilnehmerinnen erarbeiteten diverse Schlagwörter: Hygiene (Menstruation), Sexualität, Schönheit, Mutter-Kind-Beziehung, Gewalt zwischen Strafgefangenen und dem Strafaufsichtspersonal, Geschlechtskrankheiten, Unterschied zwischen U-Haft und Strafvollzug sowie Hierarchie in der Zelle. Nach diesen geschlechterspezifischen Themenkomplexen wurden die Quellen anschließend betrachtet und analysiert.
Die Workshopteilnehmerinnen wählten individuell aus, welche Quellen sie näher analysieren wollten. Sie befassten sich jeweils mit der Entstehungszeit und dem Entstehungsort, der Verfasserin bzw. dem Verfasser sowie mit der Überlieferungsgeschichte der ausgewählten Quelle. Auch die Frage der Glaubhaftigkeit der Quelle wurde dabei nicht außer Acht gelassen. Gerade die Quellensammlung von Gabriele Stock, im speziellen die Dokumentation „Haftanstalten und Bedingungen in der DDR im Zeitraum 1965 bis 1975“, wurde kritisch hinterfragt. Oft ist in der Narration dieser Dokumentation nicht klar zu unterscheiden, was ihrer persönlichen Erfahrung in der Haft und welche Details aus Berichten und Erzählungen anderer Insassinnen stammen. Dennoch sind die Schilderungen aus dieser Dokumentation sehr aufschlussreich und für die weitere Auseinandersetzung mit dem Thema von Relevanz.
Die Haftakten aus dem Strafvollzug Grünauer Straße wurden von den Teilnehmerinnen am gründlichsten betrachtet. Sie beinhalten u.a. Gerichtsurteile, Behandlungskarten, Erklärungen der Insassinnen und private Briefe. Diese Vielfalt an Dokumenten ließ eine differenzierte Betrachtung der Quellen nach geschlechterspezifischen Fragestellungen gut zu. Die IM Akte „Britta“ ergänzte das Bild zu den Haftbedingungen im Strafvollzug Grünauer Straße.
Neben Gabriele Stocks Zeichnungen fand in den Betrachtungen der Teilnehmerinnen das Interview mit Sylvia Teichgräber am wenigsten Beachtung, da die Hafterfahrungen in der Grünauer Straße nur einen geringen Raum in ihren Schilderungen einnehmen. Umfangreicher waren hier die Erfahrungsberichte zu den UHA Keibelstraße und Kissingenstraße. Da die Fokussierung auf dem Strafvollzug und nicht auf der U-Haft lag, wurde das Interview für die weiteren Betrachtungen weitestgehend vernachlässigt.
Im Anschluss an die Quellenanalyse präsentierten die Teilnehmerinnen ihre Ergebnisse sowie die quellenübergreifende Auswertung.
Zum Thema Hygiene fanden sich mehrere Hinweise in den Quellen. So befindet sich in einer Haftakte eine Schilderung über einen entwendeten Damenslip. Die Insassin gab laut Aktennotiz als Grund für die Entwendung an, sie habe keine saubere Unterwäsche mehr besessen. Auch in den Schilderungen von Gabriele Stock finden sich immer wieder Ausführungen über den Mangel an Hygieneartikeln wie Seife, Zahnpasta und ähnliches, da diese nur von dem wenigen „Taschengeld“ in Form von Marken erworben werden konnten. Des Weiteren geben die Behandlungskarten, die in jeder Haftakte zu finden sind, indirekt Aufschluss über die hygienischen Bedingungen der Frauen in Haft. Oft genannte Beschwerden der Frauen waren Blähungen, Schwindel, Zahnprobleme, Durchfall und Juckreiz, die zum einen auf die Mangelernährung und zum anderen auf die fehlenden Kosmetikartikel zurückzuführen sind. Zudem erscheinen in fast allen Haftakten Einträge über Geschlechtskrankheiten bei den Frauen, allerdings stammen diese Angaben aus Dokumenten, die bereits vor dem Haftantritt angefertigt wurden.
Immer wieder wird in den Quellen die Haftkleidung erwähnt, die als graue, farblose Einheitskleidung beschrieben wird. So versuchten die Frauen durch Veränderungen der Frisur, sich etwas Individualität zu bewahren; eine Haftakte enthält sogar eine Anleitung zum Haareschneiden. Auch das Fehlen von Spiegeln oder Nagelscheren wird oft beklagt.
Zum Thema Sexualitätist einiges in den Quellen zu finden, die wiederholt Beziehungen zwischen inhaftierten Frauen dokumentieren. In einer Haftakte etwa ist von einer Beziehung zwischen zwei Frauen in Form einer „Vorkommnismeldung“ zu lesen. Eine Frau ließ sich über Nacht in der Zelle ihrer Partnerin einschließen und beging damit einen Disziplinarverstoß. Des Weiteren finden sich viele private Briefe in den Akten. In einem Fall handelte es sich um Liebesbriefe einer Insassin an eine ehemalige Insassin. Aus der IM-Akte „Britta“ ergab sich, dass IM „Britta“ speziell aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und körperlichen Attraktivität angeworben wurde.
Zum Thema Mutter-Kind-Beziehung und/oder Schwangerschaft wurde in den vorliegenden Akten kaum etwas gefunden. In einer Haftakte wird eine Schwangerschaft zwar erwähnt, aber nähere Angaben und klärende Umstände nicht weiter schriftlich erläutert. Ähnlich verhält es sich mit der Thematik Hierarchie in der Zelle. Auch hier konnten in den exemplarisch untersuchten Akten kaum Anhaltspunkte ausgemacht werden.
Alle ausgewählten Quellen enthalten Schilderungen zu geschlechterspezifischen Hafterfahrungen von Frauen, wie sie eingangs anhand von Schlagwörtern vermutet wurden. Vor allem die Themen Hygiene, Schönheit und Sexualität traten in der Betrachtung der Quellen deutlich hervor. Die hygienischen Bedingungen in Haft waren für die Frauen kaum zu ertragen. Der Mangel an Unterwäsche und Hygieneartikeln ist hier nur ein Aspekt. Hinzu kam der Verlust jeglicher Individualität durch die vom Strafvollzug ausgegebene Einheitskleidung.
Viele Frauen gingen in ihrer Haftzeit Liebesbeziehungen zu mitinhaftierten Frauen ein. Zahlreiche Briefe in den Akten sowie Aktenvermerke über Beziehungen zwischen den Insassinnen belegen dies. Dabei unterhielt zwar mindestens eine Insassin schon vor ihrem Haftantritt gleichgeschlechtliche Beziehungen, doch die Mehrheit der Frauen ging diese sexuellen Beziehungen wohl eher in Ermangelung männlicher Sexualpartner bzw. aus Sehnsucht nach körperlicher Nähe ein.
Das Thema Geschlechtskrankheiten ist in fast allen untersuchten Akten äußerst präsent. So wurde bei fast allen nach Paragraph 249 verurteilten Frauen im Urteil auch ein Verstoß gegen das „Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten“ vermerkt. Hier wird eine Geschlechterspezifik erkennbar, da bei verurteilten Männern der Paragraph 249 vergleichsweise selten im Zusammenhang mit dem Gesetz bzgl. Geschlechtskrankheiten angewendet wurde.
Auch die Zeit nach und vor der Haft muss näher beleuchtet werden. Lässt sich hier eine Geschlechterspezifik auch bereits vor der Haftzeit feststellen d.h. gab es eventuell geschlechterspezifische Haftgründe und geschlechterspezifische Urteile? Die Quellen belegen die These von Steffi Brüning, laut der Frauen, die sich nicht in das sozialistische Arbeitsleben einfügten und nicht in einer langjährigen monogamen Beziehung lebten, eher mit der Bezeichnung „häufig wechselnde Geschlechtspartner (HWG)“ diffamiert wurden, während derartiges bei Männern zwar nicht gern gesehen, aber wohl als normal angesehen wurde. Interessant wäre auch weiterführend zu untersuchen, wie diese Urteile in ihrer Kombination sich auf die Zeit nach der Haft und gegebenenfalls speziell auf den Prozess der Wiedereingliederung auswirkten.
Die Frage nach geschlechterspezifischen Hafterfahrungen von Frauen lässt sich in umfassenderer Form nur im Vergleich beantworten. Das Heranziehen von Haftakten männlicher Insassen im Strafvollzugssystem der DDR wäre hier angebracht und als notwendig zu erachten. Auch eine Gegenüberstellung zu den Haftbedingungen von Insassinnen in Gefängnissen der Bundesrepublik bis 1989/90 wäre wünschenswert. Auf den Unterschied zu den Untersuchungshaftanstalten und dem DDR-Strafvollzug konnte im Workshop noch einmal hingewiesen werden. Im Gegensatz zum Frauenstrafvollzug gab es in den Einrichtungen des Ministeriums für Staatssicherheit männliche Wärter. Warum diese in den Untersuchungshaftanstalten zugelassen waren, im Strafvollzug jedoch nicht, musste bei der vorliegenden Quellenlage zunächst offenbleiben.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass weitere Quellen herangezogen werden müssen, um fundiertere und umfassendere Aussagen zu geschlechterspezifischen Hafterfahrungen treffen zu können. Insbesondere die Problematik der Langzeitfolgen einer Inhaftierung auf das weitere Leben der Frauen wäre eine nähere Untersuchung wert. Hatte die Haftzeit unter Umständen gerade bei jungen Frauen Auswirkungen auf die spätere Familienplanung? Gab es gegebenenfalls körperliche Folgewirkungen durch die hygienischen und medizinischen Bedingungen in der Haft, wie etwa das Ausbleiben der Menstruation, Folgen der Vergabe von Medikamenten, die sich erst später beispielsweise in Form von Kinderlosigkeit zeigten? Im Workshop konnte eindeutig herausgearbeitet werden, dass in den Erfahrungsberichten der Frauen wie auch in den vorliegenden Akten die Bereiche Kosmetik, Haare, Kleidung einen besonderen Stellenwert einnehmen. Ob es sich hier um explizit geschlechterspezifische Erfahrungen handelt, die bei Männern keine größere Rolle spielten, kann nur unter Heranziehung weiterer Quellen in vergleichender Perspektive abschließend bewertet werden.
Robert-Havemann-Gesellschaft/Archiv der DDR-Opposition/unterzeichnete Sammlung Gabrielle Stock
Landesarchiv Berlin/ C Rep. 329
Steffi Brüning: Prostitution in der DDR. Staatliche Repressionen gegen unangepasste Frauen, http://lernen-aus-der-geschichte.de/Lernen-und-Lehren/content/14971, letzter Zugriff am 29.03.2022
Sandra Czech: Das DDR-Frauengefängnis in der Grünauer Straße in Berlin-Köpenick – Erkenntnisse der ersten Grundlagenforschung, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat, Nr. 46/2020, S. 26–40
Claudia v. Gélieu: Frauen in Haft. Gefängnis Barnimstraße. Eine Gefängnisgeschichte, Berlin 1994.
Andrea Keller: „Ich kann von dieser Zeit nicht schwarz, nicht weiß erzählen“: Frauen in Bautzen zwischen 1940 und 1950, Bautzen 1996.
Edda Schönherz: Die Solistin. Roman einer Frau, die von Deutschland nach Deutschland wollte, Berlin 2013.
Ellen Thiemann: Stell Dich mit den Schergen gut. Erinnerungen an die DDR. Meine Wiederbegegnung mit dem Zuchthaus Hoheneck, München 1990.
Ines Veith: Klipp, Klapp, Holz auf Stein. Frauen in politischer Haft, Hoheneck 1950–1989, Berlin 1996.