Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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In ihrem Ausmaß sind die nationalsozialistischen Verbrechen an Millionen von Menschen beispiellos. Von 1933 und von 1939 an wurden Menschen ausgegrenzt und in Konzentrationslager verschleppt, zu Kriegszwecken in nahezu allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens als Zwangsarbeiter*innen ausgebeutet und für medizinische Experimente missbraucht. Vor allem Juden*Jüdinnen, Sinti*zze, Rom*nja und Angehörige weiterer ethnischer und gesellschaftlicher Gruppen fielen massenhaften, teils industriellen Tötungen zum Opfer. Den Herrschafts- und Vernichtungspraktiken der Nationalsozialisten lag ein radikalisiertes, menschenverachtendes und ideologisch weitgehend geschlossenes Denken in pseudo-wissenschaftlichen Kategorien von „Rasse“ und „Volk“ zugrunde. Die vielen Orte dieser Verbrechen, Überreste und Spuren davon finden sich besonders auch in den ländlichen Räumen Brandenburgs, Mecklenburg-Vorpommerns und des heutigen Polens.
In den vergangenen beiden Jahren der Pandemie waren diese Orte nur zeitlich beschränkt und in kleineren Gruppen, während der Lockdowns auch gar nicht zugänglich. Lange vor der Pandemie begannen Projekte wie zeitlupe | Stadt.Geschichte & Erinnerung im mecklenburgischen Neubrandenburg und überLAGERt in Potsdam, die lokalen Ausprägungen und die Vielzahl an Verflechtungen des Nationalsozialismus in den Fokus einer regionalen Bildungsarbeit zu nehmen. Denn die Erinnerung und die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus sind nicht erst seit dem Ausbruch von Covid-19 im Verändern begriffen, endet doch in unserer heutigen Zeit die Präsenz der Zeitzeug*innenschaft für immer.
Die Erfahrungen von Ausgrenzung, Zwangsarbeit und (versuchter) Vernichtung zu bezeugen, bleibt den Orten des Nationalsozialismus als stummen Zeugen und ihren Ausgestaltungen durch uns Nachlebende überlassen und natürlich den überlieferten biographischen Zeugnissen und medial vermittelten Erfahrungen (Bernhard 2021). Wie lässt sich heute, drei Generationen später, in unserer pandemischen, von sozialen und digitalen Medien dominierten Zeit an die Verbrechen der Nationalsozialisten in Deutschland und Europa und an das von ihnen verursachte Leid erinnern? Welche Bedeutung haben die Erfahrungen und das Leid der in die Zwangsarbeit und Konzentrationslager gezwungenen, missbrauchten und getöteten Menschen auch über 75 Jahre nach Kriegsende für unsere neuen gesellschaftlichen Realitäten und unsere Zukunft vor Ort?
Die Entscheidung, wie und für wen die Geschichte des Nationalsozialismus erzählt wird und bedeutsam sein kann, liegt mehr denn je in der Verantwortung aller gesellschaftlichen Kräfte. Sie wird vor allem dort ausgehandelt, wo die Reichweite von Information und Meinung am höchsten ist – im digitalen Raum. Der vor allem von der Neuen Rechten ins Feld geführte Begriff vom „Schuldkomplex“ (Tatjana Festerling, PEGIDA, 2015), Alexander Gaulands verharmlosende, opferverhöhnende und geschichtsrelativierende Formel des „Vogelschisses“ (Bundeskongress Junge Alternative, 2018) und ein Wahlplakat eines AfD-Kreisverbands mit dem Slogan „Sophie Scholl würde AfD wählen“ von 2017 sind erschreckende Beispiele dafür, dass es Versuche von Parteien wie der AfD und der NPD gibt, die öffentliche Erinnerung an den Nationalsozialismus sprachlich zu vereinnahmen und mithilfe sozialer Medien zu dominieren (Hillje 2021, 119; Frei et al. 2019, 207f.).
Die Wirkmächtigkeit von historisch-politischen Bildungsstandards und -angeboten in digitalen Medien ist begrenzt, die Reichweite tendenziöser Geschichtsdeutungen deutlich höher. Dies wirkt sich auch auf gesellschaftliche Debatten aus. Umso wesentlicher ist deshalb die Frage nach der Attraktivität von Bildungsangeboten für einzelne Zielgruppen. Hoffnung machen hier etwa die Ergebnisse der aktuellen Studie des rheingold-Instituts „Mutprobe NS-Zeit“ zur Haltung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zum Nationalsozialismus. Demnach zeigten sich diese an den Themen des Nationalsozialismus interessierter als ihre Elterngeneration. Sie erwarteten für sich einen freieren und deutungsoffeneren Zugang zum Thema und verständliche digitale und(!) analoge Bildungsangebote vor Ort (Arolsen Archives/rheingold institut 2022, 5).
In der Diskussion über entsprechende Erinnerungsformate haben digitale Zugänge und Angebote nicht erst seit Beginn der Covid 19-Pandemie Hochkonjunktur. Infolge der Besuchsbeschränkungen 2021 und 2022, von denen auch NS-Museen und NS-Gedenkstätten betroffen waren, hat die Bedeutung von digitalen Angeboten für die Bildungsarbeit zum Nationalsozialismus jedoch noch einmal stark zugenommen. Bekannt und umstritten zugleich ist etwa der Instagram-Kanal „ichbinsophiescholl“, der erst kürzlich nach 42 Wochen inszeniertem influencing mit einem letzten Videopost der virtuellen Sophie zu ihrer Verhaftung zu Ende ging. Der Kanal, so Céline Wendelgaß von der Bildungsstätte Anne Frank, berichte jedoch einseitig und folge einem Opfernarrativ. Es fehlten auch eine verantwortungsvolle Begleitung durch die Betreiber*innen des Kanals und schlicht Kontext – etwa in Form einer informativen Webseite (Schwarzer 2021).
Die Diskussionen zu digitalem Erinnern und Re-Enactment in Videos verlaufen nicht nur in der Debatte um „ichbinsophiescholl“ im Spannungsfeld zwischen Emotion und Kognition. Gern führen insbesondere Medienmacher*innen die notwendige emotionale Identifikation als Grundlage für den Erfolg filmischen oder visualisierten Erzählens an. So argumentierte Guido Knopp schon in den Nuller-Jahren mit dem Schlagwort der sinnlichen Erfahrbarkeit, warum nachgestellte Filmszenen eine eigene, historisch nur selten haltbare Dramaturgie benötigten (Fischer/Schuhbauer 2016, 100). Aber ermöglicht bloße gute Unterhaltung auch ein historisches Nachdenken bei den Zuschauern*innen? Mit Rainald Grebes Song Dr. Guido Knopp lässt sich darauf knapp entgegnen: „Ich will’s immer wieder anschauen / und nichts mehr drüber lesen“.
Ja, es braucht einen emotionalen Zugang zu Geschichte, um „nachfühlen“ zu können. Diese bereits von Wilhelm Dilthey stammende Erkenntnis und ihre motivierende Kraft für das Geschichtsbewusstsein wird seit den 1990er Jahren endlich auch in der bundesdeutschen Geschichtsdidaktik wieder verstärkt betrachtet (Brauer, Lübke 2013). Bis heute findet aber eine Debatte über das Potential von kreativen und künstlerischen Zugängen für die historisch-politische Bildungsarbeit und deren Methodik kaum statt. Wie ein 2020 im Historisch-Technischen Museum in Peenemünde realisierter Kunst-Workshop zeigte, können fehlende didaktische Kenntnisse schlimmstenfalls sogar dazu führen, dass Teilnehmer*innen Tätererzählungen reproduzieren und Opfererfahrungen verharmlosen oder gar banalisieren.
Die Künstlerin Pat Binder, aus Argentinien stammend und seit 1996 in Berlin lebend, hat mit dem Projekt „Stimmen aus Ravensbrück. Lyrische und bildnerische Zeugnisse aus dem Frauen-KZ Ravensbrück und dessen Außenlagern“ diesen Prozess seit Ende der 1990er Jahre verfolgt und einen vielversprechenden Ansatz für eine künstlerische sowie digitale Annäherung an das Thema vorgelegt. Ihr Zugang, künstlerische Selbstzeugnisse der Frauen aus dem Lager neu zu arrangieren und digital aufzubereiten, lässt sich auch als Antwort auf eine wissenschaftszentrierte Debatte in der Geschichtsdidaktik verstehen. 2021, im Zuge der Pandemie, entschloss sich Pat Binder, die Seite mit einer gemeinsamen Förderung der Landeszentrale für Politische Bildung Brandenburg und der Regionalen Arbeitsstelle für Bildung, Integration und Demokratie e.V. neu aufzusetzen und um die Thematik „Zwangsarbeit und KZ-Außenlager in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg“ zu erweitern. Das Portal verfügt nun über ein responsives Webdesign und kommt so den Surfgewohnheiten von Nutzern*innen mit Smartphone und Tablet nahe. Selbsterklärtes Ziel der Webseite ist es, einen „virtuellen Raum der Begegnung“ zu schaffen, „um die vielfältigen Stimmen jener Frauen aus ganz Europa wahrzunehmen, die in der Kunst Stärkung, Trost und ein geistiges Überleben suchten“ (Binder 2021).
Im Zentrum ihrer Arbeit steht dabei die Lagerpoesie, von der Constanze Jaiser schreibt: „Die Sprache der Lagerpoesie ist eine mündliche.“ (Jaiser 2005, 20) Weiter heißt es bei Jaiser „Die Verse entstanden aus dem Moment heraus und stellten eine Verdichtung des jeweiligen Augenblicks im Leben der Einzelnen dar, der für andere, im Wiederholen der Reime immer wieder nachvollziehbar war.“ In ihrem auf Englisch und Deutsch zugänglichen Portal arrangiert die Künstlerin Gedichte und Zeichnungen zu Bildcollagen, kombiniert diese mit eigenen Video- und Tonaufnahmen zu Filmen und digitalen Installationen. Die einzelnen Slides und die zeitlichen Abstände dazwischen versehen die gezeigten Reime oder Verse mit einem Takt – ein Lesemodus, der von der Künstlerin erwünscht ist und den mündlichen Stil der Gedichte und ihren situativen Charakter unterstreicht.
Daneben bietet die Seite die Möglichkeit, Alltagsgegenständen, oder, wie Pat Binder schreibt, den für uns „unansehnlichen kleinen Dingen“ wie einem Zahnbürstenstiel, einem bestickten Taschentuch, oder einer Brieftasche mit handgeschriebenen Versen darauf und ihrer für die Gefangenen so wichtigen Bedeutung nachzuspüren. Diese setzt sie in Beziehung zu den Gedichten und Zeichnungen. Beispielsweise gelingt es ihr, den Text des aus dem Polnischen übersetzten Gedichts Wesz (Laus)von Maria Kociubska mit Zeichnungen u.a. von Maria Hiszpańska so anzuordnen, dass die daraus entstehende Animation die humoristische Kraft des Gedichts auch visuell hervortreten lässt. Indem sie eigene Film- und Tonaufnahmen sowie Fotografien von den Ereignisorten in die einzelnen Arrangements einflechtet, verknüpft Pat Binder die Verse, die Zeichnungen und die Gegenstände mit dem Ort, in dem sie entstanden sind.
Lebensweltliche Bezüge ins Hier und Jetzt zu knüpfen – etwa zu den Erfahrungen von jungen Menschen – ist ausdrückliches Ziel des Portals. So eignet sich die mündlich dominierte Dichtkunst der Frauen aus Ravensbrück und Neubrandenburg hervorragend, sie mit Mitteln des modernen Hip-Hop, Rap oder anderen Reimformen neu zu interpretieren oder zu variieren. Weitere Potentiale einer Bildungsarbeit zu den Gedichten stellt Pat Binder selbst vor und präsentiert Arbeiten von Teilnehmer*innen eines land art-Workshops in Waldbau im November 2019 wie Fenster zur Vergangenheit, Einklang und Verborgen, die sich Gedichten der Frauen des Außenlagers Waldbau widmen. Mit pädagogischer Unterstützung ließe sich dank der Stimmen aus Ravensbrück auch in Zukunft eine partizipative und lokale Bildungsarbeit gestalten.
Es ist der empathische und offen vorgetragene Blickwinkel der Künstlerin, der die Seite zu einem besonderen Erlebnis macht und durch den die Besucher*innen von ihren Geräten auf den Entstehungsort der Zeugnisse blicken. Diese Meta-Erzählung dient als Überbrückung zwischen der (erzählten) Erfahrung der Frauen von Ravensbrück und dem großen zeitlichen und räumlichen Abstand der Nutzer*innen in ihren jeweiligen Orten. Pat Binder folgt dabei nicht der Logik der sozialen Medien von range und like, sondern entwickelt ein vielschichtiges und vielsprachiges Porträt der Frauen von Ravensbrück, begleitet von detaillierten Hintergrundinformationen und zahlreichen Audio-Interviews mit überlebenden Autorinnen. Die künstlerischen Selbstzeugnisse der Frauen von Ravensbrück, Neubrandenburg, Retzow-Rechlin und von anderen Außenlagern waren Akte der Selbstbehauptung und ihres (literarischen) Überlebens. Dank Pat Binder haben sie eine würdevolle und digitale Form erhalten. Nun warten sie darauf, entdeckt zu werden und mit ihnen weiterzuarbeiten.
Das digitale Kunst-, Bildungs- und Gedenkprojekt von Pat Binder (in Deutsch und Englisch) „Stimmen aus Ravensbrück. Lyrische und bildnerische Selbstzeugnisse aus dem Frauen-KZ und Ravensbrück und dessen Außenlagern“ ist online erreichbar unter: https://universes.art/de/stimmen-aus-ravensbrueck
Brauer, Juliane/Lücke, Martin: Emotionen, Geschichte und historisches Lernen. Einführende Überlegungen, in: Dies. (Hg.): Emotionen, Geschichte und historisches Lernen: geschichtsdidaktische und geschichtskulturelle Perspektiven, Göttingen 2013, S. 11-26.
Fischer, Thomas/Schuhbauer, Thomas: Geschichte in Film und Fernsehen. Theorie – Praxis – Berufsfelder, Tübingen 2016.
Frei, Norbert/Maubach, Franka/Morina, Christina/Tändler, Maik: Zur rechten Zeit, Berlin 2019.
Hillje, Johannes: Wie rechte Populisten unsere Demokratie angreifen, Bonn 2021.
Jaiser, Constanze: Dichten im KZ, in: Dies./Pampuch, Jacob David (Hg.): Europa im Kampf 1939-1944. Internationale Poesie aus dem Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück, Berlin 2009², S. 13-20.
Abstract. Die Gen Z und die NS-Geschichte: hohe Sensibilität und unheimliche Faszination. Ergebnisse der tiefenpsychologischen rheingold-Studie zur Haltung der Gen Z zum Nationalsozialismus im Auftrag der Arolsen Archives, in: Arolsen Archives, https://arolsen-archives.org/content/uploads/sites/6/abstract_arolsen-archives_studie-genz-1.pdf, Zugriff: 8.3.2022.
Binder, Pat: Presseinformation „Stimmen aus Ravensbrück“, in: Stimmen aus Ravensbrück. Lyrische und bildnerische Selbstzeugnisse aus dem Frauen-KZ und Ravensbrück und dessen Außenlagern, https://universes.art/fileadmin/user_upload/Ravensbrueck/_Stimmen-aus-Ravensbrueck-PR_30-6-2021.pdf, Zugriff: 11.3.2022.
Bernhard, Henry: Geschichte ohne Zeitzeugen. Neue Wege der Erinnerungskultur, in: Deutschlandfunk, https://www.deutschlandfunk.de/geschichte-ohne-zeitzeugen-neue-wege-der-erinnerungskultur-100.html, Zugriff: 8.3.2022.
Nägel, Verena Lucia/Stegmaier, Sanna: Lernen auf Entfernung: Digitale Angebote über Nationalsozialismus und Holocaust, in: Bundeszentrale für Politische Bildung, https://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/werkstatt/309719/lernen-auf-entfernung-digitale-angebote-ueber-nationalsozialismus-und-holocaust/, Zugriff: 8.3.2022.
Schwarzer, Matthias: „Ich bin Sophie Scholl“: Ein umstrittenes Instagram-Projekt endet, in: Redaktionsnetzwerk Deutschland, https://www.rnd.de/medien/swr-und-br-ich-bin-sophie-scholl-umstrittenes-instagram-projekt-endet-2RLJHWRG5VDLXIM6VTQ6W4TC6U.html, Zugriff: 8.3.2022.
überLAGERt – lokale Jugendgeschichtsarbeit an Orten ehemaliger KZ-Außenlager in Brandenburg (Landesjugendring Brandenburg), https://www.ljr-brandenburg.de/zeitwerk/ueberlagert-lokale-jugendgeschichtsarbeit-an-orten-ehemaliger-kz-aussenlager-in-brandenburg-2/, Zugriff: 7.3.2022.
Voices from Ravensbrück. Poems and Artistic Testimonies from the Women’s Concentration Camp Ravensbrück and Subcamps, https://universes.art/en/voices-from-ravensbrueck, Zugriff: 7.3.2022.
zeitlupe | Stadt.Geschichte & Erinnerung (RAA MV e.V.), https://zeitlupe-nb.de/, Zugriff: 7.3.2022.