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Im Herbst 2020 eröffnete das Jüdische Museum Frankfurt (JMF) einen Neubau, den renovierten Altbau und eine neue Dauerausstellung. Es handelt sich um einen Neustart des 1988 als erstes Museum für jüdische Geschichte und Kultur nach der Schoa in Deutschland eröffneten Hauses. Das JMF hat zwei Standorte, zum einen ein ehemaliges Stadtpalais der Familie Rothschild aus dem 19. Jahrhundert und zum anderen einen archäologischen Ort, an dem Fundamente aus der frühneuzeitlichen Judengasse zu sehen sind.
Die beiden Standorte des Jüdischen Museums sind von herausragender Bedeutung für die jüdische Stadtgeschichte. Die permanenten Ausstellungen im Museum Judengasse und im Rothschild-Palais unterstreichen die Bedeutung Frankfurts als eines der Zentren jüdischen Lebens in Europa vom Mittelalter bis zur Vernichtung in der Schoa. Das JMF möchte die Vielfalt des Judentums in Geschichte und Gegenwart erfahrbar machen. Seine didaktische Konzeption geht von der Überlegung aus, dass die Geschichte von Jüdinnen und Juden in der Diaspora von zentraler Bedeutung für die europäischen Gesellschaften ist. Sie bietet die Chance, über das Zusammenleben von Minderheiten und Mehrheit an einem prominenten Beispiel zu lernen. Die jüdische Erfahrung von Diskriminierung und Gewalt wie auch des Ringens um Gleichberechtigung und gesellschaftliche Teilhabe ist von unverminderter Aktualität. Es ist also überflüssig, nach Möglichkeiten der „Aktualisierung“ zu suchen. Die jüdische Geschichte und Gegenwart ist aktuell – und das nicht etwa in erster Linie als Verfolgungsgeschichte, sondern als zentrale Erfahrung von Vielheit in unterschiedlichen historischen Konstellationen.
Die Dauerausstellung ist auf die beiden Standorte aufgeteilt. Der Neubeginn nach der Schoa und die Gegenwart jüdischen Lebens in Frankfurt bilden den Ausgangspunkt an beiden Orten. Denn die Fundamente der Judengasse waren Gegenstand einer politischen Auseinandersetzung im Jahr 1987. Eine Platzbesetzung und eine öffentliche Debatte führten zur Durchsetzung des Museums. Es ist unmittelbar mit dem Alten Jüdischen Friedhof verbunden, in dessen mittelalterlicher Umfassungsmauer die Gedenksteine für die in der Schoa ermordeten jüdischen Frankfurter*innen eingelassen sind. Die Gegenwart und die Schoa sind also auch beim Besuch dieser Ausstellung der Beschäftigung mit den Relikten und den Erzählungen aus der jüdischen Geschichte vor 1800 vorangestellt. Erst recht ist diese Anordnung der Themen bei der Erzählung über die jüdische Geschichte von 1800 bis heute eine didaktische Grundentscheidung.
Die Gegenwart von Jüdinnen und Juden ist zentrales Thema für das Museum. Damit steht es im Kontext der aktuellen Veränderung des Verständnisses darüber, was ein Museum ist. Die noch umstrittene neue Definition des ICOM (International Council of Museums) wird sicher die Öffnung zu öffentlichen Debatten und die Intervention in Verständigungsprozesse der Gesellschaften betonen. Die Dauerausstellung bietet für diese vor allem kommunikativen Aufgaben des Museums die Grundlage. Angebote der Vermittlung sollen sich auf die Inhalte und Interpretationsvorschläge dieser anschaulichen Erzählung beziehen können. Dabei ist nicht zu vergessen, dass ein Museum von den Dingen ausgeht, oft von Alltagsdingen, die sich in „Objekte“ verwandeln, wenn sie im Museum gesammelt und gezeigt werden. Jüdische Museen sind – wie die Direktorin des JMF immer wieder betont – „Resterampen“ der europäischen jüdischen Kultur. Die große Mehrzahl der Objekte hat eine Geschichte, die eng mit der Schoa verbunden ist. Auch wenn dies nicht immerzu formuliert wird, steht es im Raum.
Um die didaktische Konzeption der Dauerausstellung des JMF zu beschreiben, möchte ich die Lesenden auf einen Rundgang mitnehmen. Allerdings werde ich eine Etage aussparen, nämlich „Tradition und Ritual“. Diese Thematik wird in einem Beitrag von Manfred Levy in diesem Heft vorgestellt.
Der Rundgang beginnt in der dritten Etage des ehemaligen Stadtpalais der Bankiersfamilie Rothschild mit einem durch den Lichtschutz etwas verschwommenen Blick hinaus auf den Main, der direkt vor dem Gebäude fließt. Eine Video-Installation spricht die Besucher*innen an: Es sind Jüdinnen und Juden aus Frankfurt, die mit einladenden Gesten die Gäste begrüßen. Der erste Raum der Ausstellung dokumentiert die Zeit zwischen 1945 und heute in zwei Zugängen. Eine chronologische Darstellung behandelt Schwerpunkte der jüdischen Geschichte in Frankfurt. Sie beginnt mit der prägenden Rolle der US-Besatzungsarmee für die Neugründung der Jüdischen Gemeinde, dazu gehören GI’s mit Frankfurter Wurzeln ebenso wie das DP-Camp in Frankfurt-Zeilsheim. Im Mittelpunkt steht der Thora-Schrank aus der Chapel der US-Army. Der Schrank konnte ohne großen Aufwand in einen Altar für den christlichen Gottesdienst verwandelt werden – er steht für den Pragmatismus, für die Bereitschaft, Diversität als Selbstverständlichkeit zu organisieren. Eine ungeheure Chance für die deutsche Nachkriegsgesellschaft, nicht nur für die Jüdinnen und Juden. Weitere Themen sind in dieser Chronologie z.B. die Rolle der jüdischen Zeug*innen im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess, aber auch verschiedene Auseinandersetzungen mit dem aktuellen Antisemitismus. Dabei ist es eine grundsätzliche Entscheidung, immer von jüdischen Akteur*innen zu berichten und ihre Perspektive beizubehalten.
Der zweite Zugang zur jüdischen Gegenwart ist thematisch organisiert und basiert auf Interviews. Die Interviewten erzählen ausgehend von Gegenständen über ihre Erinnerung und über ihre Lebenspraxis. Es sind auf den ersten Blick sehr erstaunliche Dinge: Ein Foto der jüdischen Eishockey-Nationalmannschaft vor der Westmauer des Tempels in Jerusalem, Erinnerungsstücke an das Exil von Angehörigen in Shanghai, eine Studierendenzeitschrift, die auf dem Cover Hammer und Sichel mit dem Davidstern kombiniert, ein Pali-Tuch, Übungs-Gebetsriemen aus Papier. Aus den Erzählungen und den Objekten setzt sich ein Bild zusammen von der Vielheit jüdischen Lebens heute.
Der Rundgang macht nun einen Sprung zurück in das frühe 19. Jahrhundert, also in die Zeit der Emanzipation. Juden waren eine der rechtlosen Gruppen in der europäischen Gesellschaft, die um ihre Freiheits- und Bürgerrechte kämpften. Dieses komplexe Thema muss in dieser Überblicksdarstellung radikal vereinfacht behandelt werden. Es wird zunächst mit einem Flug über einen historischen Plan der Stadt Frankfurt erschlossen, der in einer Animation zeigt, wie die Befreiung aus dem Ghetto zu einem Aufblühen der Möglichkeiten für Jüdinnen und Juden führte. Am Beispiel von Moritz Daniel Oppenheim, des ersten Juden, der eine Ausbildung als Maler an der Akademie absolvieren konnte, wird gezeigt, was es hieß, die Chance der Emanzipation nutzen zu können. Oppenheim hat als erfolgreicher Maler nicht zuletzt daran gearbeitet, das Bild von Juden und Jüdinnen als einer bürgerlichen, biederen Gruppe der deutschen Gesellschaft zu vermitteln. Seine „Bilder aus dem altjüdischen Familienleben“ wurden in hoher Auflage gedruckt und waren vor allem an das nichtjüdische Publikum adressiert.
Gegen die bürgerliche Gleichstellung der Juden, die in Frankfurt erst 1864 erreicht wurde, gab es massiven Widerstand. Diese neue Judenfeindschaft verband sich mit dem rassistischen Konzept von Differenz. So waren die jüdischen Europäer*innen gezwungen, sich zur Wehr zu setzen. An verschiedenen Beispielen zeigt die Ausstellung diesen – wie wir wissen vergeblichen – Abwehrkampf. Das zentrale Objekt ist ein Chanukka-Leuchter des Bildhauers Benno Elkan, der ein Monument der physischen Stärke von Jüdinnen und Juden ist. Selbstbewusstsein und Wehrhaftigkeit kennzeichnen auch die Schriften, die im Kampf gegen die Judenfeindschaft publiziert wurden. Hier und an den analog konzipierten Dokumentationen zur Zeit nach 1945 werden sich die Bildungsangebote des JMF zum Thema Antisemitismus anschließen.
Nach einem kurzen Blick in die Jahre des Aufbruchs seit dem Ende des 19. Jahrhunderts begegnen die Besucher*innen jüdischen Frankfurter*innen, die in der Zeit des Nationalsozialismus lebten. Die Biografien sind so ausgewählt, dass ausgesprochen unterschiedliche Schicksale gezeigt werden. Sieben Personen werden ausführlich mit Objekten und je einem biographischen Kurzfilm vorgestellt, etwa 100 weitere sind mit einem Portrait und einer kurzen Biografie präsent. Die Hinwendung zu den Menschen ist als Haltung der Inszenierung dieser beiden Räume realisiert. Die Besucher*innen können sich setzen, die Tablets mit den biografischen Filmen zur Hand nehmen und der Erzählung lauschen. Die kurzen Biografien sind auf Acrylplatten gedruckt, die in die Hand genommen werden können, um sie umzudrehen und zu lesen. Die Ausstellung verzichtet auf eine allgemeine historische Erzählung über die Geschichte der Schoa in Frankfurt. Diese ist in den Biografien enthalten.
Das Jüdische Museum wird oft als eine Institution zur Vermittlung von NS-Geschichte betrachtet. Dem verweigert sich diese Ausstellung bewusst. Sie dient der Erinnerung an die ermordeten, an die durch die Verfolgungen vertriebenen und verletzten Frankfurter*innen. Das ist auch ihre politische Aufgabe, denn das JMF hat sich um die Vermittlungsarbeit an der „Erinnerungsstätte Großmarkthalle“ zu kümmern. Dort steht bereits seit einigen Jahren im Mittelpunkt, wie die Deportationen mitten im täglichen Leben der Stadt vor aller Augen abliefen. Für die Vermittlungsarbeit in der neuen Dauerausstellung wird es Workshops geben, die eine weitere Vertiefung der Beschäftigung mit den Lebensläufen ermöglichen.
Das Thema Biografien wird in der Variation der Familiengeschichte auf der ersten Etage des Hauses wieder aufgenommen. Dabei ist die Grundidee, dass jüdische Kultur im Kreis der Familie gepflegt und weitergegeben wird. Die transgenerationelle Perspektive ist also ein wichtiger Aspekt, um zu verstehen, was eigentlich jüdisch ist. Drei Familien aus Frankfurt werden vorgestellt. Um die berühmten Rothschilds führt in einem Palais, das ein Zweig der Familie bewohnte, kein Weg herum. Anne Frank ist die berühmteste Tochter der Stadt, ihre Familie war seit vielen Generationen verwurzelt. Und die Familie Senger bildet das Gegengewicht zu den beiden bürgerlichen und wohlsituierten anderen Familien. Ihre Geschichte ist von der Migration aus Osteuropa zu Beginn des 20. Jahrhunderts und von kommunistischen Überzeugungen geprägt.
Die Vermittlungsarbeit kann unterschiedliche Schwerpunkte nutzen. Es gibt die naheliegenden Angebote für Leser*innen des Tagebuchs der Anne Frank, für die das reichhaltige Archiv der Familie genutzt wird, das dem JMF als Dauerleihgabe zur Verfügung steht. Der Name Rothschild wird fast selbstverständlich mit Reichtum bis hin zu vielfältigen Verschwörungsideologien verbunden. Hier kann durch die Nutzung von Originalen und die Information über das Funktionieren wirtschaftlicher Prozesse Faktenwissen an die Stelle von Phantasmen gesetzt werden. Die Begegnung mit den Sengers wiederum bietet die Chance, einer Familie beim Erzählen ihrer Geschichte zuzuhören und zugleich zu entdecken, dass diese Leute jüdisch sind, ohne dabei eine religiöse Praxis zu leben. Ein Workshop wird diese drei Familien als Ausgangspunkt für Fragen von Zugehörigkeit und Differenz, Verwurzelung und Migration nutzen – ein thematisches Feld, das für die Jüdinnen und Juden Europas schon immer von zentraler Bedeutung war. Hier ist die Arbeit mit den multidirektionalen Erinnerungen so naheliegend, dass sie sich eigentlich von selbst entfalten muss.
Wenzel, M./Kößling, S./Backhaus, F. (Hg.): Jüdisches Frankfurt. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Katalog zur Dauerausstellung des Jüdischen Museums Frankfurt. München: C.H. Beck 2020.
Gross, R./Semmelroth, F. (Hg.): Erinnerungsstätte an der Großmarkthalle. München: Prestel 2016.
ICOM: Museum Definition, https://icom.museum/en/resources/standards-guidelines/museum-definition/
Kößler, G./Schmidt, S.: Lernen über den Holocaust in der heterogenen Gesellschaft, in: Bildung und Erziehung, 73. Jahrgang 2020, Heft 3, S. 212 – 225.