Christina Herkommers Studie widmet sich dem öffentlich-medialen Diskurs zu Frauen und den ihnen zugeschriebenen Rollen im Nationalsozialismus sowie der Frage, inwieweit heteronormative Bilder und Vorstellungen von Geschlecht(errollen) den Erinnerungsdiskurs an den Nationalsozialismus und den Holocaust bestimmten. Beispielhaft untersucht Herkommer dafür Ausgaben des SPIEGELS von 1947 bis 2010.
Einen Einstieg in ihre Studie findet Herkommer durch eine Verknüpfung von Erinnerungs- bzw. Gedächtnisforschung, Medienforschung und Frauen-und Geschlechterforschung. Erinnerungskultur sei maßgeblich durch Medien, insbesondere reichweitenstarken Produkten wie den SPIEGEL, beeinflusst. Welche Informationen aufgenommen bzw. ausgelassen und wie diese aufbereitet werden bestimmten den Kurs der Erinnerungskultur. Somit habe die Frage, welche Geschlechterbilder der nationalsozialistischen Gesellschaft sowie von Täter*innen und Verfolgten gezeichnet werden, Folgen für die gesellschaftliche Wahrnehmung und den Rahmen des Erinnerungsdiskurs.
Auf Grundlage einer computergestützten qualitativen Inhaltsanalyse von 484 Artikeln zum Themenbereich Frauen im Nationalsozialismus, mehr als die Hälfte im Format „Story“, hat Herkommer ein Kategoriensystem entwickelt, das vier Themenschwerpunkte der SPIEGEL-Berichterstattung benennt: Frauen als Teil der NS-Elite, Frauen als Beteiligte an nationalsozialistischem Unrecht, Frauen und Widerstand sowie Frauen als Opfer.
In den ersten Nachkriegsjahren standen vor allem Frauen der NS-Elite und an nationalsozialistischen Verbrechen beteiligte Frauen im Fokus der Artikel. Zur ersten Gruppe gehören die Ehefrauen und Geliebte von NS-Größen wie Emmy Göring, Magda Goebbels und Eva Braun, Frauen der Kultur-Elite wie Winifred Wagner und Leni Riefenstahl und Funktionsträgerinnen wie die Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Klink. Herkommer unterscheidet sehr genau zwischen der Repräsentation der Frauen. So habe Emmy Göring vor allem in den frühen Jahren des SPIEGEL im Zusammenhang mit Entnazifizierungsverfahren stattgefunden, während über Magda Goebbels und Eva Braun konstanter berichtet wurde. Goebbels wird dabei in der Rolle der Machthungrigen dargestellt, ihr wird eine gesteigert aktive Rolle bei der Ermordung ihrer Kinder zugeschrieben und sie wird als Kontrast zur fürsorglichen Mutter inszeniert. Die Darstellung von Eva Braun soll hingegen eine intime Nähe zu Hitler suggerieren.
Zur zweiten Gruppe, Frauen als Tatbeteiligte, zählt Herkommer KZ-Aufseherinnen, Ärztinnen, Krankenschwestern und Denunziantinnen, die direkt an NS-Verbrechen beteiligt waren. Die Autorin unterscheidet dabei, ob die dargestellten Frauen sich an Antisemitismus, Rassismus, Euthanasie oder Quälereien und Tötungen beteiligten. Insgesamt falle auf, dass in den Zeitschriftenartikeln eine Distanz zwischen Täterinnen und der „Normalbevölkerung“ hergestellt werden solle, die Taten seien als besondere Einzelfälle dargestellt. Diese Trennung tritt etwa bei den Beschreibungen des „unweiblichen“ Sadismus von KZ-Aufseherinnen ein. Spannend ist, dass insbesondere Täterinnen in Euthanasieverbrechen die Fähigkeit abgesprochen wird, das Ausmaß ihrer Taten einzuschätzen, etwa weil sie „autoritätshörige Personen aus unteren gesellschaftlichen Schichten“ (S. 238) gewesen seien oder sie ihre Patient*innen aus Mitgefühl getötet haben sollen. Lediglich Denunziantinnen bleiben in ihrer Darstellung in der Nähe der „Normalbevölkerung“, werden jedoch mit negativen weiblichen Zuschreibungen wie „Schwatzhaftigkeit“ verbunden. Bemerkenswert sei, so Herkommer, dass sich diese Erzählmuster zwischen 1947 und 2010 kaum verändert hätten.
Über Frauen im Widerstand berichtete der Spiegel im Besonderen über die Rote Kapelle, die Gruppe des 20. Juli sowie über Hilfeleistungen durch einzelne Frauen und den Protest in der Rosenstraße in Berlin, bei dem nicht-jüdische Frauen für die Freilassung ihrer jüdischen Männer nach der sogenannten Fabrikaktion demonstrierten. Dabei richtet sich der Fokus der Berichterstattung auf die Motive der Frauen und die Bewertung ihres Handelns. Ein großer Kontrast lässt sich dabei zwischen den beiden erstgenannten Gruppen erkennen. Die weiblichen Mitglieder der Roten Kapelle werden entpolitisiert und als „schwach“ und „leichtlebig“ charakterisiert, ihr Interesse an Liebesabenteuern habe sie in den Widerstand geführt. Den Frauen des 20. Juli wird hingegen eine fürsorgliche, mütterliche Rolle – also klassische „weibliche“ Attribute – attestiert, aus der eine Stärke abgeleitet wird.
Die in den SPIEGEL-Artikeln der ersten drei Kategorien vorgenommenen Charakterisierungen von Frauen findet sich hingegen in der Berichterstattung über Frauen als Opfer kaum. Sowohl als Leidtragende der NS-Politik, des Krieges, von Vertreibungen oder in der Nachkriegszeit werden sie nur selten als handelnde Individuen dargestellt. Interessant, so Herkommer, sei allerdings, dass obwohl im SPIEGEL Frauen durchgängig auch als Opfer verhandelt worden seien, der SPIEGEL selbst – neben anderen Medien – ab den 2000ern eine bisherige Tabuisierung des Themas behaupte.
Zusammenfassend stellt Herkommer fest, dass dem Erinnerungsdiskurs über den Nationalsozialismus im Veröffentlichungsverlauf im SPIEGEL „hegemoniale und heteronormative Vorstellungen von Geschlechterrollenverhalten zugrunde liegen“ (S. 307). So würden die NS-Verbrechen und die antisemitische und rassistische Politik einer kleinen Herrschaftselite zugeschrieben und die (weibliche) „Normalbevölkerung“ weitestgehend entlastet. Fallen Frauen aus den ihnen zugeschriebenen Geschlechterrollen werden sie entweder ausgegrenzt oder ihre Motivationen ausgeblendet.
Christina Herkommer hat mit ihrer tiefgehenden Analyse von SPIEGEL-Artikeln einen für die Zeitgeschichte spannenden und relevanten Bestand untersucht. Insbesondere die vier Darstellungskategorien von Frauen im Nationalsozialismus sind überzeugend konstruiert, kompakt beschrieben und ausreichend belegt. Die Zitate aus den SPIEGEL-Beiträgen lassen Leser*innen zusätzlich erkennen, welche Narrative in der Berichterstattung geschaffen und weitergetragen wurden. Herkommer bemüht sich auch, die Kontinuitäten und Veränderungen von Bildern über die untersuchten 63 Jahre deutlich zu machen, hier sind leider oft nur Vermutungen möglich. Dennoch ist „Erinnerung. Medien. Geschlecht“ eine Medienanalyse, die westdeutsche Erinnerungsdiskurse zu Frauen im Nationalsozialismus zugänglich macht.