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Nesselrodt, Markus: Dem Holocaust entkommen. Polnische Juden in der Sowjetunion, 1939-1946. Berlin / Boston 2019. |
Markus Nesselrodt widmet sich in seiner mehrfach ausgezeichneten Dissertation von 2017, die unlängst bei De Gruyter in Buchform erschienen ist, einem in der bisherigen Holocaustforschung wenig beachteten Kapitel[i]: Dem Überleben polnischer Jüdinnen*Juden in den nicht besetzten Teilen der Sowjetunion, also sowohl im Inneren der Sowjetunion, wo sie im Gulag inhaftiert Zwangsarbeit verrichteten, aber auch insbesondere in Zentralasien, wohin sie vor der nationalsozialistischen Verfolgung geflohen waren oder exiliert wurden.
Nesselrodts Verdienst besteht vor allem darin, die individuellen Schicksale anhand von Selbstzeugnissen, welche die Komplexität der Exilerfahrungen polnischer Jüdinnen und Juden in der Sowjetunion wiedergeben, auf vier Sprachen, aus sieben Archiven, in den Mittelpunkt seiner Analyse zu stellen und eine Systematisierung zu wagen. Dabei berücksichtigt er Flucht aus den Gebieten, die bis zur deutschen und sowjetischen Besatzung im September 1939 polnisch waren, Haft in Gulag und Sondersiedlungen und Exilerfahrungen in Zentralasien, Antisemitismus ebenso wie die Repatriierung im Nachkriegspolen respektive Erfahrung als Displaced Persons. So stellt er diese exemplarischen Erfahrungen von Flucht, Deportation, Exilierung, Evakuierung und Repatriierung von insgesamt rund 300.000 polnischen Jüdinnen*Juden (S. 13) der Historiographie als bisher vernachlässigte Gruppe innerhalb der gängigen Definitionen von „Zeitzeuge*Zeitzeugin“ und „Überlebende*r“ in Anknüpfung an Atina Grossmann[ii]einem deutschsprachigen Publikum zur Verfügung.
Holocaust-Überlebende – das sind in der gängigen Wahrnehmung ehemalige KZ-Häftlinge, Ghetto-Bewohner*innen, versteckte oder Widerstand leistende Jüdinnen undJuden, als Partisan*innen in den Wäldern Osteuropas oder Résistance-Kämpfer*innen in den Städten Westeuropas. Vielleicht noch Kinder von „Nicht-Überlebenden“, was auf die meisten der rund 10.000 mit „Kindertransporten“ nach England ausgereisten Kinder zutrifft. Eine Anerkennung im Sinne einer Entschädigung gewährt das Bundesfinanzministerium erst seit Jahresbeginn 2019 – 80 Jahre nach den Transporten und nur in Form einer Einmalzahlung. Aber auch „mittellose jüdische Flüchtlinge, die aus ihren Ländern vor der eindringenden deutschen Armee geflohen sind, einschließlich derjenigen, die Jahre tief in der Sowjetunion verbrachten und in vielen Fällen dort starben“[iii], können gemäß der Definitionsannäherung von Yad Vashem als Überlebende des Holocaust betrachtet werden. Bisher werden sie es aber nur selten. Nesselrodt zitiert Debórah Dworks Postulat, die Geschichte der Flüchtlinge in die Historiographie des Holocaust einzuschreiben: „All [refugees] were potential victims of the Holocaust“ (S. 20) und macht sich so die Forderung einer integrierten Geschichte jüdischer Erfahrungen zwischen 1939 und 1946 zu Eigen. Dass er im Schlussteil diese Forderungen weniger ausführlich aufgreift als der Verweis in der Fußnote erwarten lässt, kann eine Chance für weitere Forschungen sein, wenn es darum geht, dass die Zugehörigkeit der hier beschriebenen Gruppe als Mehrheit der polnisch-jüdischen Kriegsüberlebenden zum Kollektiv der Holocaustüberlebenden immer wieder neu verhandelt wurde und bis heute wird. Schließlich kann die „Frage nach dem Ort der sowjetischen Exilerfahrung in der Geschichte des Holocaust […] nicht ausschließlich aus der Perspektive des Historikers beantwortet werden. Ihre Beantwortung war und ist beispielsweise noch immer Gegenstand juristischer Entschädigungsverfahren“ (S. 4). So können die Selbstzeugnisse beispielhaft für pädagogische Ansätze von transnationaler Erinnerungsarbeit aufgegriffen werden. Zumal, wie Nesselrodt schreibt, seine Studie ein Beitrag zur Fruchtbarmachung literarischer Quellen für die Geschichtswissenschaft sein soll, da es bisher „zahlreiche Lücken in der Quellenüberlieferung des sowjetischen Exils gibt“ (S. 33). Als Ziel formuliert Nesselrodt, zu untersuchen, wie das Erlebte retrospektiv (die meisten Berichte wurden erst nach 1980 verfasst) dargestellt wird (S. 5).
Der Anspruch, eine Mittlerposition zwischen Mikro- und Makrogeschichte einzunehmen, „die individuelle Lebenswege fokussiert, um komplexe Zusammenhänge besser verstehen zu können“ (S. 3) und somit durch den langen Zeitraum von 1939-1946 ein Verständnis für die Handlungsoptionen zu wecken, die polnische Jüdinnen*Juden jeweils auf Grundlage ihres situativen Wissens trafen, ist, neben den anderen formulierten Ansprüchen, vielleicht zu hoch, um ihm vollständig gerecht zu werden. Dabei sind gerade jene Stellen spannend, wo unterschiedliche und widersprüchliche Erfahrungen gerade nicht in einen weiteren Kontext eingebettet werden und ohne Erklärung oder Interpretation nebeneinander stehen. Ein Beispiel sind die unterschiedlichen Berichte über Deportationen polnischer Jüdinnen*Juden zur Zwangsarbeit in den sogenannten Sondersiedlungen. Die erinnerte Erfahrung von Victor Zarnowitz: „In der Regel hielt der Zug alle paar Stunden auf offener Strecke an, damit sich die Deportierten erleichtern und bewegen konnten.“(S. 125) widerspricht der von Cypora Fenigstein: „Die unterwegs Verstorbenen mussten in vielen Fällen bis zur Ankunft des Zuges am Zielort im Wagen liegen bleiben, da die Türen verschlossen waren.“ (S. 126). Die hohe Zahl an Exilierten / Deportierten / Geflüchteten bei einer geringen Zahl an überlieferten autobiographischen Selbstzeugnissen erschwert auch hier allgemeine Aussagen. Was wiederum für die historisch-politische Bildungsarbeit zum Thema Nationalsozialismus nutzbar gemacht werden kann, wenn es um Quellenkritik, individuelle und geteilte Erlebnisse und die individuelle lebensgeschichtliche Aufarbeitung der eigenen Erfahrungen inklusive der jeweils eigenen Interpretation – darunter auch die Interpretation von Verallgemeinerungen wie in den hier genannten Beispielen „in der Regel“ und „in vielen Fällen“ – und die Einbettung des Erlebten in geschichtliche Zusammenhänge geht. An anderer Stelle verweist Nesselrodt anhand eines Zitats von Bella Gruwic über den Aufbau eines „freie[n] und sozialistische[n] Eretz“ (S. 264) auf die historiographischen Schwierigkeiten im Umgang mit autobiographischen Selbstzeugnissen: „Ob es sich bei den erwähnten Äußerungen um Abbildungen eines frühen zionistischen Weltbildes handelt oder um wahrheitsgemäße Darstellungen der eigenen Exilgeschichte, kann nicht abschließend geklärt werden.“ (S. 264) Der besonders in retrospektiv geschaffenen (schriftlichen) Selbstzeugnissen grundsätzliche Impuls, das eigene Erleben entsprechend dem Gegenwartszustand individuell zu akzentuieren und gegebenenfalls zu schönen, kann wiederum bedeutsame Auskünfte im Rahmen der Quellenkritik liefern. Dies gilt umso mehr für Selbstzeugnisse in transnationaler Perspektive, wie Nesselrodt sie der weiteren Forschung und der historisch-politischen Bildung zugänglich gemacht hat.
[i]Die wenigen Artikel, Monographien und Sammelbände zum Thema sind auf Englisch erschienen:
Weinryb, Bernard D.: Polish Jews under Soviet Rule, in: Meyer, Peter et al. (Hrsg.): The Jews in Soviet Satellites. Syracuse 1953, S. 329-372.
Levin, Dov: The Lesser of Two Evils. Eastern European Jewry under Soviet Rule 1939-1941. Philadephia / Jerusalem 1995.
Davies, Norman / Polonsky, Antony (Hrsg.): Jews in Eastern Poland and the USSR, 1939-1946. London 1991.
Jockusch, Laura / Lewinsky, Tamar: Paradise lost? Postwar memory of Polish Jewish survival in the Soviet Union, in: Holocaust and Genocide Studies 3 (2010), S. 373-399.
Edele, Mark / Fitzpatrick, Sheila / Grossmann, Atina (Hrsg.) Shelter from the Holocaust. Rethinking Jewish Survival in the Soviet Union. Detroit 2017. (Das jedoch, wegen der zeitlichen Überschneidung, von Nesselrodt nicht mehr berücksichtigt werden konnte.)
Auf Russisch außerdem der über 600 Seiten umfassende Sammelband:Asambleja naroda Kazachstana et al. (Hrsg.): Istorija – pamjat‘ – ljudi. Materialy VIII Meždunarodnoj naučno-praktičeskoj konferencii 16 sentjabrja 2016g., Almaty. Almaty 2017 [Kasachische Volksversammlung et al.: Geschichte – Erinnerung – Menschen. Materialien der 8. Internationalen wissenschaftlich-praktischen Konferenz am 16. September 2016, Almaty] (Auch hier verhindert das Erscheinungsdatum 2017, vermutlich aber auch die Sprache, die Berücksichtigung.] sowieBudnickij, Oleg: Sliškom poljaki dlja Sovetov, sliškom evrei dlja poljakov. Pol’skie evrei v SSSR v 1939-1945, in: Ab imperio 2015(4), S. 213-236. [Zu polnisch für die Sowjets, zu jüdisch für die Polen. Polnische Juden in der UdSSR von 1939-1945.]
[ii]Grossmann, Atina: Remapping Relief and Rescue: Flight, Displacement, and International Aid for Jewish Refugees during World War II, in: New German Critique (2012) 39 (3 (117)), S. 61-79.
[iii]https://www.yadvashem.org/archive/hall-of-names/database/faq.html, Abruf: 25.07.2019