Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
Als die Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft im Herbst 2014 eine Ausschreibungfür „Theaterprojekte mit Zeugnissen von Opfern des Nationalsozialismus“ veröffentlichte, hatten wirdirekt den Impuls, uns zu bewerben. Wir, das ist das Theaterkollektiv i can be your translator, das 2011 ursprünglich als Experimental-Pop-Band gegründet wurde und seit 2014 Musiktheater-Projekte verwirklicht. Insgesamt drei Inszenierungen haben wir bis Ende 2018 gemeinsam entwickelt und auf die Bühne gebracht. Eine wesentliche Besonderheit unserer Gruppe ist, dass sie aus erwachsenen Personen mit und ohne sogenannter geistiger Behinderung besteht. Aufgrund dieser Zusammensetzung sprach uns die Ausschreibung besonders an: Wie kann mandie „Euthanasie“ im Nationalsozialismus und die systematische Ermordung von Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung in einer inklusiven Theatergruppe bearbeiten?
Die Gruppe hatte bis vor dieser Ausschreibung eine klare Arbeitsteilung: Für neue Projekte entwickelten meine Kollegin Lis Marie Diehl und ich eine Idee, stellten Anträge und erarbeiteten als Regisseur_innen das Stück. Im Rahmen der Proben erfolgte dann die Aneignung des jeweils behandelten Themengebiets für alle anderen Gruppenmitglieder.
Für die Arbeit am Thema „Euthanasie“ erschien diese Arbeitsteilung nicht angemessen. Das herausfordernde, komplexe und sensible Thema setzte voraus, dass alle ein Verständnis zu den Ursprüngen, den historischen Ereignissen und dem Sachverhalt haben, bevor die Entscheidung getroffen werden konnte, sich zu beteiligen. Auch wenn alle vier Akteur_innen mit einer sogenannten geistigen Behinderung durchaus schon von Nationalsozialismus und Adolf Hitler etwas wussten, hatte sich keiner von ihnen zuvor mit „Euthanasie“ auseinandergesetzt. Daher mussten wir unser Vorgehen von der Idee bis zur Aufführung grundlegend ändern: Wir brauchten eine Recherchephase sowie anschließend eine Phase, in der wir gemeinsam künstlerische Ideen und Konzepte entwickeln konnten. Das hieß für uns, dass die Erarbeitung nicht mehr regiegeleitet stattfand, sondern kollektiv erfolgte. Idealtypisch wird dabei eine gleichberechtigte Partizipation aller Beteiligten am Prozess angestrebt und es gibt keine einzelne Person in Form einer/s Regisseur_in, die die Entscheidungen trifft und letztlich auch die künstlerische Verantwortung trägt.
Im Folgenden will ich von den Herausforderungen berichten, sich in einer inklusiven Theatergruppe ein historisches Thema anzueignen, das eine extreme individuelle Betroffenheit hervorruft und zusätzlich auf künstlerische Weise auf einer Bühne verhandelt werden soll. In diesem Gesamtprozess wurden wir immer wieder mit zwei voneinander abhängigen Prozessen konfrontiert: Eine durch die erzeugte Emotionalität hervorgerufene Bedrohlichkeit bekam mitunter existenzielle Züge, auch weil einige von uns vor 80 Jahren direkt betroffen gewesen wären. Diese Emotionalität war aber auch eine Art Nährboden für sehr poetische und berührende Szenen. Insgesamt erwies sich die Verbindung der Aneignung mit dem künstlerischen Umgang als intensiv und letztlich vorteilhaft für den Prozess. Umgekehrt ermöglichte gerade die Suche nach einem künstlerischen Umgang mit dem für uns emotionalen Thema und das Ziel der Veröffentlichung auf der Bühne eine thematische Vertiefung. Erst durch sie wurde das Thema auf vielfältige Weise durchdrungen und so auch aus der rein fordernden und intimen emotionalen Betroffenheit herausgeholt und in eine präsentierbare Abstraktheit überführt. Entgegen eines ausschließlich kognitiven Zugangs konnten wir die eigenen Emotionen und durch sie erzeugten Bedrohlichkeiten in Proben und auf der Bühne bearbeiten und damit auch ein stückweit verarbeiten. Dazu sind zwei Prinzipien für unsere künstlerische Arbeitsweise bedeutsam.
Zwei wichtige Prinzipien prägen unsere Arbeitsweise als Theaterkollektiv und verdeutlichen, warum der inhaltliche und künstlerische Aneignungsprozess so eng an die konkrete Aufführung gebunden ist:
1. Wir orientieren uns künstlerisch an performativen Theaterformen. Das heißt, wir starten nicht mit einem festgelegten und auswendig gelernten Text, wie beispielsweise einem Dramentext. Es heißt auch, dass wir auf der Bühne keine Rollen verkörpern, sondern als wir selbst in Erscheinung treten. Dadurch steht die für Künstler_innen oft eingeforderte handwerkliche Virtuosität nicht an erster Stelle. Vielmehr arbeiten wir mit Improvisationen, biographischen Ansätzen und mit Formen und Inhalten, die individuelle Veranlagungen und Kompetenzen berücksichtigen. Und zuletzt standen wir zum ersten Mal alle auf der Bühne, ohne eine feste Regie.
2. Die Heterogenität, die durch die Gruppenkonstellation der Akteur_innen entsteht (bezogen auf Dimensionen wie sogenannte geistige Behinderung, Geschlecht, Alter, Erfahrung in professioneller Theaterarbeit), spannt eine sehr große Bandbreite von individuellen Besonderheiten auf, die immer sichtbar, hörbar und spürbar sind. Und weil wir erst einmal „nur wir“ auf der Bühne sind, ist die Individualität jeder/s einzelnen Akteur_in immer präsent und damit auch immer Thema auf der Bühne.
Das Prinzip der Performativität ist auf Bühnen gängig und Teil der gegenwärtigen Theaterpraxis. Gruppen wie Rimini Protokoll, She She Pop oder auch Gob Squadsind wichtige Vertreterinnen dieser Theaterform. Das Prinzip der Heterogenität hingegen ist – zumindest in der angeführten Bandbreite – in der Theaterlandschaft seltener anzufinden. Es gibt eine überschaubare Zahl von professionell arbeitenden inklusiven Gruppen, die künstlerisch anerkannt sind. Ein Großteil davon arbeitet – wenig überraschend – performativ, weil diese Theaterform offener für Individualität und deshalb weniger normativ ist. Genannt werden können Gruppen wie Meine Damen und Herren, Theater Thikwa oderTheater Hora.
Zwei Herausforderungen haben die Aneignung des historischen Themas „Euthanasie“ im Rahmen der Performativität in Heterogenität besonders geprägt:
Im Zuge unserer Recherchearbeit begleiteten wir ein studentisches Seminar an der Technischen Universität Dortmund, in dem wir uns einerseits auf die Suche nach Egodokumenten von Opfern der „Euthanasie“ machten und uns andererseits auch mit den Ursprüngen und Ausprägungen der „Euthanasie“ im Dritten Reich auseinandersetzten. Ein Teil der Recherche bestand darin, uns gemeinsam über die damaligen Geschehnisse zu informieren und sie gemeinsam zu besprechen.
Die anfangs noch eher abstrakte Auseinandersetzung mit den grausamen Geschehnissen der Nationalsozialisten führte bei einer Person aus unserer Gruppe zu einer sehr intensiven Reaktion. Auf Grund ihres eingeschränkten Zahlen- und Zeitverständnisses, fiel es ihr schwer historische und gegenwärtige Ereignisse zu verorten. Was sind 80 Jahre? Inwiefern betrifft mich und meine Eltern das? Welche Auswirkungen hat das für mich jetzt, wenn meine Großeltern das miterlebten? Die Berichte über die Vernichtung sogenannter geistig behinderter Menschen lösten so bei ihr Emotionen aus, die eine für sie bedrohliche Gegenwärtigkeit erzeugten.
Die Besuche von Gedenkstätten in Dortmund, Hadamar und Berlin führte die Gruppe aus der Abstraktheit heraus. Als für uns eindringlichste Erfahrung hat sich der Besuch des Tötungskellers in Hadamar erwiesen, wo Tausende von Menschen vergast wurden. Andiesem Ort wurde die Abstraktheit der bisherigen Beschreibungen, Dokumentationen und Texte fassbar. Durch unsere leibliche Anwesenheit und die sehr plastische Erzählung der Museumspädagogin war die Bedrohung hier erstmals greifbar und damit einmal auf andere Weise gegenwärtig.
Zur Bearbeitung beider Erfahrungen, waren Strategien der Distanzierung erforderlich, z. B. durch Bewusstmachung der zeitlichen Ferne, dass wir heute in einer politisch und gesellschaftlich anderen Zeit leben. So rückte das Vergangene aus dem unmittelbaren Jetzt wieder in die Vergangenheit. Als Mittel, um die eigenen Erfahrungen an den Orten der Verbrechen und die damit einhergehende Bedrohung verarbeiten zu können, haben wir uns immer wieder gegenseitig von unseren persönlichen Erfahrungen berichtet. Die Idee war, dass durch die Wiederholung die Zusammenhänge gefestigt werden und damit auch eine emotionale Distanzierung erreicht wird. Viele dieser Erzählungen haben wir als Audiodateien aufgenommen, um sie festzuhalten und ggf. auf sie für die Aufführung zurückgreifen zu können.
Für die künstlerische Arbeit zeigte sich, dass gerade die Personen – mit oder ohne sogenannter geistiger Behinderung –, die sich von den Ereignissen der damaligen Zeit haben emotional vereinnahmen lassen, besonders poetische, intensive und berührende Texte eingesprochen haben. Diese haben jenseits der Inhalte eine eigene Kraft. Oft ist die Sprache metaphorisch, zum Teil hochgradig rhythmisiert oder die Erzählung spürbar plastisch. So entstandene Texte werden in der Aufführung als Audioeinspielungen sowie Textprojektionen eingebunden oder live auf der Bühne gesprochen. Auch bei einigen musikalischen Beiträgen erzeugte die emotionale Betroffenheit eine hohe Sensibilität für das gesamtmusikalische Geschehen.
Anders als rein kognitiv orientierte Geschichtsvermittlung hatten wir als Theaterkünstler_innen den großen Vorteil, dass unsere Emotionalität nicht allein ein Störfaktor ist, der eine abstrakte Aneignung von historischen Daten und Ereignissen erschwert. Sie ist vielmehr ein wichtiger Bestandteil, wenn wir über sie einen künstlerischen Umgang mit den Themen und Inhalten auf der Bühne suchen und dadurch indirekt einen Zugriff auf die abstrakten Aspekte erhalten. Die Erfahrung hat gezeigt, dass ein Zulassen von Emotionalität und ein wiederholtes Sich-Ihr-Aussetzen jene Abstraktheit und kontrollierte Distanziertheit unterstützt hat. Das geschieht über die Redundanz der Probenarbeit, aber auch weil im Prozess des Gestaltens einer Szene verschiedene Formen diskutiert und ausprobiert werden und es somit einen multiperspektivischen Zugang zum Thema gibt.
Am Ende haben wir ein Stück auf die Bühne gebracht, das auf die vorgestellte Bandbreite von Emotionalität, Poetik, Musikalität und errungener Abstraktheit aufbaut. Hierbei thematisieren wir nicht nur die „Euthanasie“ im Nationalsozialismus, sondern auch unsere Arbeitsweise und den kollektiven Prozess. Genau das ist der dramaturgische Kniff, der es uns ermöglicht, ein solch schwieriges und widerständiges Thema auf die Bühne bringen zu können. Denn die Thematisierung unserer Arbeitsweise bringt auch Humor und Leichtigkeit in das Stück. In der Begründung der Jury eines der uns zugesprochen vier Preisen des Favoriten Festivals steht:
„[...] Wir waren beeindruckt und berührt von ihrer Auseinandersetzung, die gleichermaßen Raum für ein gemeinsames Trauern und Gedenken lässt, und trotzdem sehr humorvoll immer wieder in das Hier und Jetzt des Gruppenprozesses und des gemeinsamen Musikmachens zurückfindet.“ (Presse-Information Favoriten Festivals)
Presse-Information Favoriten Festivals, 17. September 2018, S. 4, http://www.favoriten-festival.de/sites/default/files/download/180917_Festivalbilanz_und%20Juryentscheid%20f%C3%BCr%20GROUND%20SUPPORT.pdf (Zugriff: 9. Oktober 2018)
Link zur Homepage des Theaterkollektivs: www.icanbeyourtranslator.de
Dokumentarfilm über die Arbeit von i can be your translator: youtu.be/NyavjD9v_kg