Das derzeit starke Interesse an Zeitgeschichte schlägt sich nicht nur in einer Vielzahl von Historiendramen, Museumsausstellungen und Zeitungsbeiträgen in der aktuellen Geschichtskultur nieder, sondern auch in der Rezeption des Geschichtsunterrichts durch Schülerinnen und Schüler. Wie der Beitrag von Guido Lenkeit im aktuellen LaG-Magazin herausarbeitet, verbinden Jugendliche mit Geschichte vorrangig das 20. Jahrhundert, und hier vor allem den Nationalsozialismus und die beiden Weltkriege.
Eine Publikation von Barbara Hanke geht von der „dynamischen Definition von Zeitgeschichte als der ,Epoche der Mitlebenden‘“(S.9) und einem zunehmenden Interesse an der Zeit nach 1945 aus. Der Schwerpunkt des Buchs liegt daher auf der deutschen Zeitgeschichte von 1945 bis 1970. Der Band der Reihe „Starter Geschichte“ beleuchtet in – inklusive der lesenswerten Einleitung von Barbara Hanke – insgesamt dreizehn inhaltlichen Beiträgen erstens den fachwissenschaftlichen Kenntnisstand und zweitens unterschiedliche erinnerungskulturelle Aspekte. Auf dieser Basis werden am Ende der Publikation drei Unterrichtsvorschläge unterbreitet.
In einem ersten fachwissenschaftlichen Beitrag widmet sich Christian Kohler der unmittelbaren Nachkriegszeit in Deutschland und der Frage nach dem Zäsurcharakter der Jahre 1945 und 1949. Kohler lehnt Begriffe wie die „Stunde Null“, die einen Neuanfang nahelegen, ab und zeichnet in seiner Begründung die Entwicklungen bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1949 grundlegend nach. Dabei erläutert er zentrale wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Prozesse, ordnet diese in einen außenpolitischen Gesamtzusammenhang ein und gibt einen kurzen Ausblick, in wie weit die Nachkriegszeit Anknüpfungspunkte für gegenwartsbezogenes historisches Lernen bietet.
Speziell die wirtschaftliche Entwicklung in den beiden deutschen Staaten bis 1973 nimmt Bernd-Stefan Grewe in den Blick. Bei seiner Beschreibung der theoretischen und praktischen Grundlagen sowie der Phasen und Charakteristika der beiden deutschen Volkswirtschaften schlägt Grewe immer wieder einen Bogen in die Gegenwart und weist auf die Bedeutung der unterschiedlichen ökonomischen Entwicklungen hin. So seien historische Prozesse wie beispielsweise Währungsreform mit der D-Mark oder die Produktion des VW-Käfers im „kollektiven Gedächtnis der Deutschen […] fest verankert und ausschließlich positiv besetzt“ (S.45), während die soziale Sicherheit bzgl. der Arbeitsplätze und der Preispolitik in der DDR „eine nostalgische Verklärung“ (S.52) verstärke.
Zeitzeug_innen und ihre Rolle in der Erinnerungskultur stehen im Zentrum des sehr differenzierten Beitrags von Christina Brüning. Anhand von vier Fallbeispielen von Interviews mit Holocaustüberlebenden zeichnet sie Potentiale und Risiken dieser Quelle für den Geschichtsunterricht auf. Sie sieht dabei vor allem filmisch festgehaltene Interviews als hervorragende Möglichkeit an, die Dekonstruktionskompetenz der Schüler_innen zu fördern. Brüning zeichnet zudem die Entwicklungen im Umgang mit Zeitzeug_innen nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute nach. Wurden Überlebende des Holocaust nach 1945 vor allem als juristische Zeugen relevant, wird ihnen heute vor allem im US-amerikanischen Raum zunehmend eine Rolle als Erzieher_innen zugeschrieben, deren Erzählungen zu einer besseren Welt führten. Für Brüning ist diese Entwicklung vor allem ein Anstoß, sich mit der Thematik der Oral History und den geschichtsdidaktischen Herausforderungen auch zukünftig näher auseinanderzusetzen.
Die Entstehung von Gedenkstätten in den beiden deutschen Staaten bis 1970 zeichnet Bernhard Schoßig nach. Die bundesrepublikanische Entwicklung sei vor allem durch „einen defensiven Pragmatismus und […] überwiegend durch Ignoranz und Selbstviktimisierung gekennzeichnet“ (S.165) gewesen. Im Zuge des Ost-West-Konflikts habe zudem eine Stigmatisierung der kommunistischen Opfer des Nationalsozialismus stattgefunden. Die DDR habe dagegen vor allem den kommunistischen Widerstand heroisiert und „den rassistischen Charakter der nationalsozialistischen Verfolgung […] völlig ausgeklammert“ (S.166). Im Hinblick auf aktuelle Gedenkstättenpädagogik sieht Schoßig in den Entwicklungen von Gedenkstätten nach dem Zweiten Weltkrieg eine Möglichkeit, sich im Rahmen von Schul- oder Studienprojekten mit dem Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in beiden deutschen Staaten differenziert auseinanderzusetzen.
Einen ersten Vorschlag für eine Unterrichtsstunde macht Ulrich Baumgärtner. Im Fokus der Geschichtsstunde stehen dabei historische Reden, die juristische, politische und gesellschaftliche Entwicklungen im Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in der frühen Bundesrepublik verdeutlichen. Nach einer kurzen Einführung in die kommunikationswissenschaftlichen Grundlagen einer Redeanalyse geht Baumgärtner auf das Potential des Einsatzes von Reden im Geschichtsunterricht ein. So könnten Reden „nicht nur als schriftliche Quellen mit dem üblichen Instrumentarium analysiert werden“ (S.174), sondern böten zusätzlich „eine Fülle möglicher methodischer Arrangements, die zudem den Nebeneffekt haben, die Schüler_innen rhetorisch zu schulen“ (Ebd.). Es biete sich daher beispielsweise methodisch an, die Schüler_innen in die Rolle der Redner_innen, Zuhörer_innen oder Berichterstatt_innen zu versetzen. Baumgärtner weist allerdings zu Recht daraufhin, dass dies in einem Format erfolgen sollte, welches eine sorgsame Reflexion gewährleistet.
Die Unterrichtsvorschläge von Christian Kuchler und Markus Bernhardt bieten zwei weitere quellenzentrierte Zugänge zur deutschen Nachkriegsgeschichte an. Konzipiert Kuchler anhand von historischen Zeitungen eine Unterrichtsstunde zum Thema der Medienrezeption und konzentriert sich thematisch auf das Kriegsende in Deutschland sowie den Mauerbau, so wählt Bernhardt mit einem Popsong der Beatles als Quelle einen sehr lebensweltlichen Bezug. Anhand des 1967 veröffentlichten Liedes „A Day in the Life“ soll den Schüler_innen ein alltags- und mentalitätsgeschichtlicher Zugang ermöglicht werden.
Der Sammelband liefert einen umfassenden und differenzierten Einblick in fachwissenschaftliche Erkenntnisse und geschichtsdidaktische Überlegungen zur deutschen Zeitgeschichte von 1945 bis 1970. Im Hinblick auf die vorgeschlagenen Unterrichtseinheiten stehen eher die geschichtsdidaktischen Grundlagen im Fokus, als die praktische Gestaltung der Unterrichtsstunde. Die Publikation ist daher vor allem für angehende Geschichtslehrer_innen, die sich einen Überblick über mögliche Themen zur deutschen Nachkriegsgeschichte verschaffen und auf dieser Basis ein eigenes Unterrichtskonzept entwickeln möchten, sehr zu empfehlen.
Barbara Hanke (Hg.): Zugänge zur deutschen Zeitgeschichte (1945-1970). Geschichte – Erinnerung – Unterricht, Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts. 2017, 15,80 Euro
Der Sammelband steht auch für 15,99 Euro auf der Website des Verlags zum Download zur Verfügung.