Das Netzwerk Migration in Europa hat 2013 eine Handreichung für das historische Lernen und die Menschenrechtsbildung erstellt, die das „Lernen über Migration und Menschenrechte. Flüchtlinge gestern – Flüchtlinge heute“ unterstützt. 2015 ist eine Neuauflage erschienen, die hier herunter geladen werden kann. Die Broschüre ist zugleich eine Reaktion auf die verschärfte – und dadurch immer tödlichere – EU-Flüchtlingspolitik der letzten Jahre, wie die Autorinnen Anne von Oswald, Andrea Schmelz und Tanja Lenuweit in der Einleitung berichten. Sie fordern einen besseren Schutz von Geflüchteten. Indem die Broschüre anbietet, vergleichend zum Umgang mit Geflüchteten in der NS-Zeit und heute zu arbeiten, möchten sie zum Schutz der universellen Menschenrechte auf Freizügigkeit und auf Asyl (Artikel 13 und 14 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948) beitragen. Das bedeutet auch, Migration als Realität anzuerkennen – und Migrantinnen und Migranten als Menschen, die mehr auszeichnet, als nur eine Grenze überquert zu haben.
Die Handreichung richtet sich an Klassen ab der Sekundarstufe I und an die außerschulische Bildung. Sie ist in zwei Teile aufgebaut. Der Erste setzt sich mit den Begriffen „Migration“ und „Flüchtling“ auseinander, der Zweite vergleicht den Menschenrechtsschutz in Europa bzw. der Europäischen Union gestern und heute. Ein umfangreicher Anhang bietet Tipps für Filme, Literatur und weiteren Lernmaterialien zu diesen Themen.
In einer einführenden Gruppenarbeit gehen die Teilnehmenden den Fragen nach, was Migration bedeutet, welche Migrationstypen es gibt und inwiefern diese durch Menschenrechte geschützt sind. Die Kleingruppen erhalten jeweils vorbereitete Karten mit Begriffen wie etwa „Zwangsmigration“ und „Asylbewerber", die sie klären und in einem Schaubild zueinander in Beziehung setzen. Die Begriffsvorschläge sind zum Teil anspruchsvoll, können aber leicht aktualisiert und abgewandelt werden. Ein zusätzlicher Input darüber, dass Gründe für Flucht und Migration meist schwer zu trennen sind, scheint sinnvoll. Die Broschüre bietet einige kurze Erklärungen, etwa zur Familienzusammenführung oder zur UN-Wanderarbeiter-Konvention von 1990, die Deutschland nicht unterzeichnet hat.
In der zweiten Einführungseinheit setzen sich die Teilnehmenden mit der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und mit einigen ihrer zentralen Bestimmungen auseinander (z. B., dass Geflüchtete mit unrechtmäßigem Aufenthaltsstatus nicht bestraft werden sollen, wenn im Herkunftsland Gefahr droht).
Im zweiten Teil soll ein konkretes historisches Fluchtthema in seiner Komplexität erfasst und visualisiert werden. Die Teilnehmenden lernen, Fluchtumstände zu differenzieren und genauer hinzuschauen. Sie beschäftigen sich mit der Sozialstruktur der Geflüchteten, mit den verschiedenen Motiven, Zeitpunkten (von der Machtübergabe 1933 bis zum Ausreiseverbot 1941), mit den Zielländern (Visapolitik, Restriktionen usw.) und mit der jeweiligen Organisation der Flucht bzw. Emigration. Einige Links zu konkreten Zeitzeug_innenbiographien bieten die Möglichkeit, das Thema zu vertiefen. Am Beispiel des Flüchtlingsschiffs St. Louis, dem verschiedenen Länder das Anlegen verweigerten, reflektieren die Jugendlichen Kontinuitäten und Brüche in der Geschichte von Flucht gestern und heute.
Der letzte Teil soll Diskussionen zum aktuellen Stand des Flüchtlingsschutzes und der Menschenrechtsverletzungen am Beispiel des Geflüchteten Thomas ermöglichen. Er versuchte vom Sudan über Libyen nach Schweden zu gelangen. Dabei wurde er Opfer der Ausweitung europäischer Abschottungsmaßnahmen gegen Geflüchtete auf Transit- und Herkunftsstaaten nach dem Dublin II Abkommen. Er berichtet unter anderem davon, wie die permanenten Entrechtungen und Erniedrigungen ihn irgendwann selbst glauben lassen, er sei ein minderwertiger Mensch. Weiter ergeben sich vergleichende Fragen zu historischen Gemeinsamkeiten und Unterschieden.
Es empfiehlt sich, den letzten Abschnitt zum gegenwärtigen Menschenrechtsschutz in Europa zu aktualisieren. Beispielsweise mit dem Fokus auf Familienzusammenführung: In selbst von Krisen und Konflikten erschütterten Ländern wie der Türkei und Griechenland enden Zehntausende von Geflüchteten aus Syrien, dem Irak und Afghanistan ohne Zukunftsperspektive. Vor allem Frauen und Kinder, die versuchen zu ihren Familienangehörigen in Deutschland zu kommen, nehmen immer größere Risiken auf sich, in der Hoffnung den eingeschränkten Familiennachzug im deutschen Asylrecht irgendwie zuvorzukommen. Gleichzeitig werden zerstörte und lebensgefährliche Städte wie Bagdad oder Homs zu sicheren Herkunftsorten erklärt; mit unzähligen undurchsichtigen bürokratischen Maßnahmen hält die Europäische Union Geflüchtete in Camps unter lebensunwürdigen Bedingungen fest, damit ihnen schließlich ein dreißigtägiger Aufenthalt in Griechenland oder der Türkei nachgewiesen werden kann – denn damit habe sich das Transitland als sicher erwiesen.
Das Material „Lernen über Migration und Menschenrechte. Flüchtlinge gestern – Flüchtlinge heute“ des Netzwerks Migration in Europa nähert sich durch den historischen Vergleich einem sehr aktuellen und komplexen Thema auf eine sinnvolle Weise. Im historischen Lernen zum NS wird häufig die Frage gestellt, warum insbesondere Jüdinnen und Juden nicht einfach rechtzeitig ausgewandert seien. Die Beantwortung dieser Frage kann dafür sensibilisieren, auch in der Gegenwart genauer hinzusehen. Allerdings sind die Inhalte der Einheiten sehr umfangreich. In der Schule können daher wahrscheinlich nur einzelne Abschnitte daraus genutzt werden. Deren methodische Aufbereitung wird hilfreich sein.
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