Im Juli 1933 erließ die deutsche Reichsregierung das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. In der Folge wurden unzählige Menschen entrechtet, zwangssterilisiert, in Anstalten gesperrt. Patient/innen, die als nicht arbeitsfähig eingestuft wurden, wurden später im Rahmen der „Aktion T4“ massenweise ermordet. Erst 2007, nach jahrzehntelangem Kampf des Bundes der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten, ächtete der deutsche Bundestag dieses Gesetz und rehabilitierte die Opfer.
In der Stadt Brandenburg errichtete der NS-Staat im Dezember 1939 die „Landes-Pflegeanstalt Brandenburg a. H.“. Sie war nicht nur eine der ersten Krankenmordanstalten. In einem ehemaligen Zuchthaus führten hochrangige NS-Funktionäre eine „Probetötung“ durch: Sie setzten erstmals im Reichsgebiet Giftgas ein und ermordeten eine Gruppe von Psychiatriepatienten (zuvor gab es schon Patientenmorde, dafür wurden die Opfer ins besetzte Polen verlegt). Mit der „T4-Sonderaktion“ gegen jüdische Patienten im Sommer 1940 fand mitten in Brandenburg a. d. H. der erste Massenmord an europäischen Juden im Deutschen Reich statt. Im Oktober 1940 wurde die „Euthanasie-Anstalt“ von Brandenburg nach Bernburg verlagert. Wahrscheinlich, weil der Mord – insbesondere die Verbrennung der Ermordeten in Krematorien – zu zentral in dieser mittelgroßen Stadt stattfand, und nicht zuletzt aufgrund des Protestes des Münsteraner Pastors Gerhard Paul Braune gegen die sogenannte Sterbehilfe. Zahlreiche Mitarbeiter übertrugen anschließend die in Brandenburg entwickelte Tötungstechnik mit Giftgas in die NS-Vernichtungslager und übernahmen Schlüsselpositionen in der „Aktion Reinhard“, der Vernichtung der ins besetzte Polen deportierten Juden.
Als letzte der sechs „Euthanasie-Anstalten“ erhielt Brandenburg im Jahr 2012 eine Gedenkstätte mit Dauerausstellung und Gedenkort – mittlerweile auch mit pädagogischem Angebot. Im selben Jahr ist ein Band zur Euthanasie-Anstalt Brandenburg a. d. H. erschienen, heraus gegeben von den Historikerinnen Astrid Ley und Anette Hinz-Wessels. Darin dokumentieren die Autorinnen die Ausstellungsinhalte und stellen in ihrer Einleitung die zentralen Ergebnisse ihrer Grundlagenforschung vor, die sie im Rahmen der Ausstellungsvorbereitung für die neue Gedenkstätte durchführten. Dabei konnten sie sich auf zahlreiche junge Publikationen zu einzelnen Krankenanstalten in der Region stützen, besonders auf die Schriftenreihe „Medizin-Geschichte des Landes Brandenburg“, auf ein Gedenkbuch für die ermordeten Psychiatriepatient/innen und eine Opferdatenbank, die parallel zur Dauerausstellung entstanden sind.
Nach einem Geleitwort von Margret Hamm, Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten, und Prof. Günther Morsch, Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, stellen Ley und Hinz-Wessels das Ausstellungskonzept vor. Anschließend fassen sie ihre Forschungsergebnisse zur Geschichte der „Euthanasie“-Anstalt Brandenburg zusammen: Zunächst, dass die „Probetötung“ den Ablauf testen, ärztliche Einwände zerstreuen und einige Mediziner, wie den späteren Leiter der Brandenburger Tötungsanstalt Irmfried Eberl, mit der „Methode“ vertraut machen sollte. Die bauliche Struktur beinhaltete zwei mobile Verbrennungsanlagen, deren Schlote allerdings zu kurz waren. Dadurch waren in der Stadt regelmäßig Flammen und Rußwolken zu sehen.
Besondere Aufmerksamkeit widmen die Autorinnen den Opfern. Für mehr als die Hälfte der Ermordeten konnten neben Namen und Geschlecht auch Diagnose und Lebensdaten ermittelt werden. Das älteste Opfer war 87 Jahre alt, die jüngsten nur zwei. Insgesamt wurden im Vergleich zu den gesamten Opferzahlen der „Aktion T4“ in Brandenburg mehr Kinder und Jugendliche umgebracht und wesentlich mehr Männer. Letzteres lag an der gezielten Selektion forensischer Patienten. Einige dieser Menschen befanden sich erst wenige Tage oder Wochen in Anstalten, andere Psychiatrisierte schon seit dem 19. Jahrhundert.
Die häufigste Diagnose (49 Prozent) „Schizophrenie“, zu einem knappen Drittel „Schwachsinn“. Allerdings fielen unter diese Gruppe nicht nur Menschen mit verschiedenen geistigen Behinderungen, sondern auch sogenannte moralisch Schwachsinnige, also Personen, deren Verhaltensweise als sozial abweichend galt. Beispielsweise eine junge Frau, der vorgeworfen wurde, seit ihrem 14. Lebensjahr Geschlechtsverkehr mit wechselnden Partnern gehabt zu haben. Der drittgrößten Opfergruppe wurde „Epilepsie“ diagnostiziert. Schließlich bestätigen die Autorinnen die jüngere Euthanasie-Forschung, insofern nur ein geringer Teil der Zwangssterilisierten auch der „Aktion T4“ zum Opfer vielen. Das bedeutet, dass „Euthanasie“ im NS nicht primär die „Rassenhygiene“ radikalisierte. Ermordet wurden – neben als jüdisch Klassifizierten – in Brandenburg vor allem Menschen, die als nicht arbeitsfähig eingestuft wurden und aufgrund ihrer sozialen Herkunft auf staatliche Hilfe angewiesen waren.
Nach dieser einleitenden Zusammenfassung der Forschungsergebnisse und einigen Bildern der Ausstellung steigt der Band in den Hauptteil ein. Er gibt zunächst einen knappen Überblick über die historischen Grundlagen der „NS-Rassenygiene“, die „Aktion T4“ und die Geschichte des Ortes.
Zahlreiche Quellen – z. B. Historische Filmausschnitte, Fotos und Unterrichtsmaterial – illustrieren das ideologische Klima und die NS-Propaganda. Akteure wie der medizinische Leiter der Euthanasie-Morde, der Psychiatrieprofessor Werner Heyde, oder der „Euthanasie-Beauftragte“ Phillip Bouhler, Leiter der „Kanzlei der Führers“, werden kurz vorgestellt. Interessante Exponate wie ein Flugblatt der Alliierten, die 1941 über Deutschland abgeworfen wurden und über die Morde aufklärten, illustrieren die Ausmaße.
Anschließend wird die wechselvolle Geschichte des ehemaligen Alten Zuchthauses Brandenburg dargestellt, von der Gründung als Armenhaus über die kurze Verwendung als Konzentrationslager von 1933 bis 1934 bis zur Einrichtung der Tötungsanstalt.
Der nächste Abschnitt stellt die an der „Probetötung“ mit Giftgas beteiligten NS-Funktionäre vor. Es folgt eine detaillierte Darstellung der T4-Morde in Brandenburg an über 9.000 Menschen: die Bürokratie, die Organisation und das Personal der Tötungsanstalt; die aufwändige Verschleierung des Mordens mit gefälschten Todesurkunden und „Trostbriefen“; wer die Opfer waren, woher sie kamen. Dabei haben sich Ley und Hinz-Wessels gegen eine Anonymisierung der Opfernamen entschieden. Während die meisten Ermordeten anonym verscharrt wurden und sie nach 1945 lange Zeit vergessen blieben, sollen sie auf diese Weise ihre Identität zurück erhalten.
Einen besonderen Teil nehmen die mindestens 340 Kinder ein, die in Brandenburg ermordet wurden. Die Tötung einiger Kinder war langfristig geplant, um sie dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung zur pathologischen Untersuchung zu überlassen. Mindestens 25 Publikationen gehen auf die Ermordung von Psychiatriepatient/innen zurück – die meisten wurden nach 1945 veröffentlicht.
Der „Auftakt zum Holocaust“, d.h. die „T4-Sonderaktion“ gegen jüdische Patienten bildet ein weiteres Kapitel, ebenso wie der von Wenigen organisierte Widerstand gegen den Krankenmord, vor allem durch Christen und einem Vormundschaftsrichter. Letzterer wurde in den Ruhestand versetzt, größere Konsequenzen hatten Protestierende offenbar nicht zu befürchten.
Abschließend beleuchten die Ausstellung und der Begleitband weitere Krankenmorde und den Transfer von T4-Tötungstechnologie und Personal, etwa in die Vernichtungslager Sobibór und Treblinka. Ley und Hinz-Wessels behandeln zudem die Strafverfolgung von Euthanasie-Verbrechen nach 1945. In Westdeutschland fanden die meisten Prozesse vor 1950 statt, die wenigen Urteile danach fielen oft zugunsten der Täter/innen aus. In der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR gab es ab 1946 vergleichsweise viele Prozesse mit zum Teil harten Urteilen. Nach 1952 wurden diese fast völlig eingestellt. Nach 1945 waren die Krankenmorde in der Stadt Brandenburg a. d. H. Im öffentlichen Bewusstsein präsent, Gedenkveranstaltungen erinnerten an die Verbrechen. Mit dem schnellen Abriss und der Umnutzung von Teilen der Anstalt schwand jedoch auch die Erinnerung. Bis zur Einrichtung einer Freiluftausstellung im Jahr 1997 erinnerte nur eine Gedenktafel an die Tötungsanstalt.
Was für die Ausstellung, ihrer Materie geschuldet, möglicherweise ein kleiner Nachteil sein kann, nämlich ihre im Verhältnis zum Medien- und Quelleneinsatz hohe Textlastigkeit, wird im Begleitband zum Vorteil: Bis auf einige, geringfügige Redundanzen stellt dieser eine zugängliche – und damit sehr gelungene – Einführung in den komplexen Zusammenhang der nationalsozialistischen Eugenik und „Euthanasie“ dar.
http://www.stiftung-bg.de/doku/neues/neues_m1.htm
Astrid Ley, Anette Hinz-Wessels (Hg): Die Euthanasie-Anstalt Brandenburg an der Havel. Morde an Kranken und Behinderten im Nationalsozialismus, Schriftenreihe der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Bd. 34, Metropol Verlag, Berlin 2012