Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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Danach, welcher Umgang mit historischen Täterorten adäquat ist und wie beziehungsweise ob solche „bösen“ Orte heute noch zu uns sprechen, fragt Rainer Stommer. In seinem Essay thematisiert er die ehemalige „Führerschule der Deutschen Ärzteschaft in Alt-Rehse, an der heute ein Lern- und Gedenkort entsteht.
Am 1. Juni 1935 wurde in dem kleinen mecklenburgischen Dorf Alt Rehse die repräsentative Einrichtung des Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebundes (NSDÄB), die „Führerschule der Deutschen Ärzteschaft“ eingeweiht, die bis 1942 als ideologisches Zentrum für die „Gesundheitsführer der Volksgemeinschaft“, der selbsternannten Elite von Ärzten, Zahnärzten und Apothekern der NS-Zeit fungierte. Dafür wurde auf einer Fläche von 65 ha eine architektonisch aufwendige Anlage, bestehend aus einem Mustergut, einem Musterdorf und der eigentlichen Schulungsanlage errichtet, die heute noch zu großen Teilen erhalten ist und ein eindrucksvolles Dokument aus der zeittypischen Verquickung von politisch-ideologischen Zielen in einem spezifisch architekturästhetischen Rahmen darstellt, ein exemplarisches Beispiel des in NS-Zeiten viel strapazierten „Wortes aus Stein“.
Was machen wir heute mit diesem Ort? Ist er ein „böser Ort“, den wir meiden sollten - oder noch besser abreißen? Ist er nur ein Beispiel für die Hybris und Verblendung vieler Menschen dieser Zeit und hat mit uns - und vor allem mit den Ärzten der Gegenwart nichts mehr zu tun?
Andere fürchten dagegen immer noch, dass von Architektur und Kunst der Nazi-Zeit bis heute eine Faszination ausgeht, die die Intentionen ihrer Urheber mit den späteren Konsequenzen von Krieg und Genozid verharmlosen könnten. Aber: Sprechen diese Steine heute noch zu uns? Und mit dem „Ton“ und der beabsichtigten Verführungskraft ihrer Urheber? Oder was können sie uns heute vermitteln?
Die Region rund um den Tollensesee in der Nähe Neubrandenburgs gehört zu den landschaftlich reizvollsten Gebieten in der Müritzer Seenplatte. Jedes Jahr kommen mehr und mehr Touristen, um die Schönheit der Landschaft und die Ruhe der Natur zu genießen. Nur wenigen Besuchern ist dabei bewusst, dass diese Region nördlich Berlins zahlreiche historische Orte und Baudenkmale aufweist, die eng mit der Geschichte des „Dritten Reiches“ verbunden sind. Dazu gehört vor allem das Konzentrationslager Ravensbrück am Rande der Stadt Fürstenberg. Oder etwa die ehemalige Sicherheitspolizeischule Drögen bei Fürstenberg, in der zahlreiche Akteure des Widerstandes vom 20. Juli inhaftiert waren und von der heute nur noch kaum erkennbare Reste vorhanden sind.
Zahlreiche „Prominente“ des NS-Staates hatten in dieser Region Güter erworben oder sich feudale Landsitze errichten lassen. Diese Orte wurden gezielt nach dem Krieg gesprengt, um die Erinnerung zu löschen - das hindert aber heute einschlägige Kreise nicht, diese immer wieder aufzusuchen und nach den Resten der Gebäude und ihrer Geschichte zu suchen. Die Aura der Vergangenheit ist für sie auch ohne erkennbare materielle Zeugnisse präsent. Umso mehr an diesen Orten keine Dokumentationszentren an die Geschichte erinnern und sie in den historischen Kontext stellen.
Daneben existieren aber auch Orte, die erst auf den zweiten Blick ihre Geschichte offenbaren. Kommen zufällige Besucher nach Alt Rehse, sind sie meist von der Idylle des Ortes, den gepflegten Fachwerkhäusern mit Reetdächern und dem Blick auf den Tollensesee beeindruckt. Diese Idylle hat der Gemeinde einen Landessieg im Wettbewerb „Unser Dorf soll schöner werden“ beschert.
Bei genauerem Hinsehen zeigen sich dann aber Brüche in der glänzenden Fassade: die einheitlichen Häuser, an einer orthogonal ausgerichteten Achse und um einen rechteckigen Dorfplatz gruppiert; und vor allem die irritierenden Inschriften in den Balken über Fenster und Türen: „errichtet im 3. Jahre“. Wer nun anfängt, nachzufragen und zu suchen, der findet mehr und mehr Hinweise auf die Geschichte des Ortes im „Dritten Reich“, der im allgemeinen Sprachgebrauch als „Reichsärzteführerschule“ bezeichnet wird.
Für die „Führerschule der Deutschen Ärzteschaft“ wurde der historische Ort Alt Rehse, der urkundlich seit 1182 nachgewiesen ist, fast vollständig abgerissen. Nur Kirche, Pfarrhaus, das alte Gutshaus und ein Landarbeiterhaus blieben erhalten, wurden aber in eine neue städtebauliche und ästhetische Konzeption eingepasst. Im reizvollen Landschaftspark, der am Hang zum Tollensesee von dem früheren Gutsbesitzer Ludwig Freiherr von Hauff um seinen neuen Landsitz „Schloss Lichtenstein“ seit 1897 angelegt wurde, entstanden seit 1934 außerdem Gebäude für die Schulung, Unterbringung und Sport- und Freizeitgestaltung von Ärzten.
Die „Führerschule“ wurde so das erste komplett einheitlich geplante „Schulungslager“, wie sie der NS-Staat zur Schulung, Ertüchtigung und ideologischen Ausrichtung verschiedener Gruppen aus NSDAP und parteinahen Organisationen seit 1933 im ganzen Reich einrichtete. Eine „Führerschule“ stand jeweils an der Spitze eines breiten Systems von zahlreichen ähnlichen Einrichtungen, das alle Altersstufen, Berufe und sozialen Schichten erfassen und regelmäßig zu Kursen einberufen sollte. Die „Führerschule“ der NS-Ärzteschaft in Alt Rehse war der zentrale und repräsentative Ort für die Funktionäre des NS-Ärztebundes und die Elite der in der NSDAP organisierten Ärzteschaft.
Das Geschehen vor Ort ist oberflächlich betrachtet scheinbar harmlos. Etwa 10 bis 12.000 Ärzte, Apotheker und Hebammen sind von 1935 bis Ende 1941 nach Alt Rehse gekommen. Die Kurse dauerten meist etwa sieben bis zehn Tagen, sogenannte Jungärzte blieben aber auch vier Wochen, die ihnen auf ihr praktisches Jahr im Rahmen der Ausbildung angerechnet wurden. Eingebettet in einen von früh bis spät reglementierten Tagesablauf fanden Vorlesungen, praktische Kurse, sportliche Ertüchtigung und gemeinsame Freizeitaktivitäten statt.
Neben den praktischen Informationen über die Organisation der Gesundheitspolitik und die neuen Gesetze des NS-Staates („Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, „Nürnberger Rassengesetze“) hatte dies vor allem den Zweck, unter den Ärzten ein neues Gemeinschaftsgefühl zu wecken. Das Zusammenleben verstand sich als modellhafte „Volksgemeinschaft“. Die Diskussionen über das eigene aktive Mitwirken an der Umsetzung der Maßnahmen zur Rassenhygiene dienten der Selbstvergewisserung über die neue ethische Begründung mit der Verpflichtung gegenüber dem „Volkskörper“. Und natürlich wurde man auch in seinen Aktivitäten und Diskussionsbeiträgen geheim beobachtet und bewertet, um damit die Eignung für „höhere Aufgaben“ feststellen zu können.
Und dabei spielte auch der ausführliche Rundgang durch den Ort eine wichtige Rolle. Dorf und Dorfgemeinschaft fungierten als modellhafte Kulisse einer gesunden, arischen Volksgemeinschaft, die sich vor allem auf der Basis des deutschen Bauerntums erhalten haben und neu gestärkt werden sollte: Alt Rehse ist gebaute „Blut-und-Boden-Idylle“.
Dazu gehört die Fiktion einer vermeintlich landestypischen Architektur aus Fachwerk mit Ziegel und Reet. Aber an die Stelle des typischen Straßenangerdorfes, dass von Kirche, Teich und Dorfanger gekennzeichnet ist, entsteht nun ein orthogonales Achsensystem, an dessen einem Ende der rechteckige Anger bzw. Aufmarschplatz für die dörfliche Volksgemeinschaft steht und an dessen anderem Ende der Gutsverwalter als Repräsentant der Partei residiert.
Und mit großem Selbstbewusstsein setzt sich die NS-Ärzteschaft einen eigenen symbolischen Ort im Park mit den Bauten des eigentlichen Schulungslagers, im Zentrum das „Gemeinschaftshaus“. Diese Bauten befinden sich nicht - wie in anderen städtebaulichen Planungen für Partei-Organisationen - hierarchisch untergeordnet an der Hauptachse. In Alt Rehse entsteht eine eigenständige Querachse und bildet eine dritte Einheit in der Trias „Volksgemeinschaft - (Arzt-)Elite - Partei“. Die NS-Ärzteschaft scheint damit aussagen zu wollen: Wir sind nicht nur dienende Vollstrecker im „Führerstaat“, sondern wir sind (Mit-)Gestalter der neuen Gesellschaft auf der Basis unserer medizinischen und rassenhygienischen Vorstellungen.
Dazu war aber nicht nur die Auslese und Förderung der arischen Volksgemeinschaft notwendig, sondern die „Ausmerzung alles Artfremden“. Die Überhöhung der Idylle macht deshalb umso mehr die Notwendigkeit deutlich, mit ärztlichen Wissen und Handeln die Vorstellungen der NS-Rassenhygiene aktiv umzusetzen. Um den „Volkskörper“ zu reinigen, ist in dieser Denkweise das rigorose Eingreifen mit Zwangssterilisationen, „Euthanasie“ und letztendlich die Selektion an den Rampen der Konzentrationslager unabdingbar. Insofern ist das verbrecherische Handeln Voraussetzung, um die Idylle auch gesellschaftliche Wirklichkeit werden zu lassen.
Alt Rehse ist kein beliebiger Ort. Er spricht tatsächlich noch zu uns über die Intentionen seiner Urheber - wir müssen dazu aber Informationen bekommen, wie wir dieses „Wort aus Stein“ lesen müssen. Um das gesamte Ensemble der „Führerschule“ in seiner Organisation, Funktion und Intention verstehen zu können, muss der Ort in seiner architektonischen und städtebaulichen Form erhalten werden; und deshalb ist es auch notwendig, das Gutshaus wiederherzustellen, weil erst dadurch die ästhetische Gesamtkonzeption des Ortes sichtbar wird. Und darüber die Geschichte und das Selbstverständnis einer ganzen Generation von Ärzten, die maßgeblichen Anteil an der Formierung einer Gesellschaft nach dem Idealbild des „homo fascistus“ hatte.
In den nächsten drei Jahren wird mit Hilfe von Fördermitteln aus Bund und Land im Rahmen der Bundesgedenkstättenförderung der „Lern- und GeDenkOrt Alt Rehse“ entstehen, in dessen Mittelpunkt das sanierte Gutshaus stehen wird. Dort soll eine neue Dauerausstellung nicht nur über die Geschichte des Ortes informieren, sondern auch über aktuelle ethische Fragen der Medizin. Wechselausstellungen werden dieses Programm exemplarisch vertiefen. In der angegliederten Bildungsstätte stehen dann Seminarräume, Bibliothek und Arbeitsplätze für E-Learning zur Verfügung. Die Erschließung des Ortes wird über ein Multimedia-Guide ermöglicht. Alles soll auch nach Möglichkeit barrierefrei angeboten werden.
Die Information über die Geschichte des Ortes und die didaktischen Angebote werden einen Zugang bieten, über die wissenschaftliche Überschätzung und überhebliche Bedeutungszuschreibung eines Berufsstandes in der NS-Zeit kritisch nachzudenken. Vor allem auch über die Leichtfertigkeit, mit der die ethischen Grenzen ärztlichen Handelns für eine vermeintliche gesellschaftliche Utopie überschritten wurden. Dies kann dann eine historische Grundlage dafür bieten, um über die Grundlagen und Konsequenzen aktueller Entwicklungen in der Biologie, Medizin und Gesundheitspolitik zu diskutieren.
Dieser Aufsatz erschien in leicht veränderter Form im Deutschen Ärzteblatt 111.2014, S. 2163-64.