Harald Welzer, Sönke Neitzel und Christian Gudehus veröffentlichten 2011 mit ihrem Band „'Der Führer war wieder viel zu human, viel zu gefühlvoll' – Der Zweite Weltkrieg aus Sicht deutscher und italienischer Soldaten“ die Forschungsergebnisse einer jahrelangen von der Gerda-Henkel- und der Fritz-Thyssen-Stiftung geförderten Studie. Mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse, also dem Zusammentragen, Digitalisieren und Kodieren des Materials, untersuchten sie 150.000 Seiten von Abhörprotokollen. Letztere zeugen von der Anstrengung, die insbesondere das britische und us-amerikanische, teilweise auch dass sowjetische Militär unternommen hat, um die Gespräche der deutschen und der italienischen Kriegsgefangenen aus kriegstaktischen Gründen mitzuhören. Insbesonders konkrete Feldzüge der Deutschen und ihre ideologischen Fundamente standen dabei im Mittelpunkt des Interesses.
Den Herausgeber/innen ist mit ihrer Veröffentlichung daran gelegen, den Anachronismus oder auch die Flüchtigkeit von Erfahrung historischen Zeugnissen zu thematisieren und sinnvoll in die Analyse und die geschichtliche Auseinandersetzung insgesamt einzuflechten. In ihrer Einleitung verdeutlichen sie dies insbesondere anhand des titelgebenden Zitats eines 24-jährigen deutschen Luftwaffenunteroffiziers: „Der Führer war wieder viel zu human, viel zu gefühlvoll.“ Er meint damit, dass Hitlers Kriegstaktik zu sachte sei, dass er zu wenig rigoros gegen die Feinde vorgehe, insbesondere im Vergleich zu Göring, der mit größerer Vehemenz arbeiten würde. Dieser Gedanke erscheint aus heutiger Perspektive absurd, insbesondere angesichts der nationalsozialistischen Greueltaten während des Krieges und dessen Charakter als Eroberungs- und Vernichtungskrieg. Die heutige Perspektive ist dabei geprägt von dem geschichtlichen Bewusstsein der Gegenwart und einer kritischen Auseinandersetzung mit Ideologie und Barbarei des Nationalsozialismus in Deutschland. Eine Folge daraus, so die Herausgeber/innen, ist eine fehlende Auseinandersetzung damit, dass es für die Zeitgenossen, etwa den 24-jährigen Offizier, ganz und gar nicht absurd gewesen zu sein scheint, Hitlers vorgehen als zu milde wahrzunehmen. Gleichermaßen waren die zahlreichen Kriegsverbrechen, wie die Analyse der Abhörprotokolle ergab, in gewissem Sinne eine Art Selbstverständlichkeit für den überwiegenden Teil der Soldaten. Es wird damit zu einer mentalitätsgeschichtlichen Ergänzung aufgerufen: Die Geschichte des Nationalsozialismus soll besser verstanden werden, indem der zeitgenössische Deutungsrahmen expliziert und die NS-Zeit mit ihren Folgen noch deutlicher als Menschenmögliches ausgewiesen wird.
Insgesamt befassen sich drei Aufsätze des Bandes eingehender mit den italienischen Soldaten während des Zweiten Weltkriegs. Insgesamt geht es dabei hauptsächlich um Protokolle zu „Mittelmeersoldaten“, also jenen, die während des Kriegs in Libyen, Ägypten und Tunesien gekämpft haben. Annette Neder befasst sich in ihrem Artikel damit, wie deutsche Soldaten über sowjetische und italienische Soldaten sprachen. Im Vergleich stellt sie fest, dass über die italienischen Soldaten, eigentlich Verbündete der Deutschen, gegenüber sowjetischen Soldaten eine abschätzige Sprache dominant war. Den Italienern warf man geringe Kapazität im Kampf vor, während der sowjetischen Seite Härte und Ehrhaftigkeit zugeschrieben wurde. Werte, die für die deutschen Soldaten zentral waren. Denn, so die Ergebnisse der Studie, für sie war die nationalsozialistische Ideologie weniger bedeutend. Dafür aber fand fast durchgängig eine sehr starke Identifizierung mit der Wehrmacht statt.
Deutsche Soldaten bewerteten also auch andere Menschen und die anderen Parteien im Krieg nach einem militärischen Maßstab; die nationalsozialistische Propaganda über den Sowjet als primitiven Untermenschen zeigt bei den abgehörten deutschen Soldaten – zumindest bezüglich deren Einschätzung der sowjetischen Kampfbereitschaft – kaum Wirkung.
Im vierten Teil des Bandes „Bündnispartner im Verhör“ werden die Analysen von Abhörprotokollen zu italienischen und japanischen Soldaten vorgestellt. Amedeo Osti Guerrazzi und Daniela Wellnitz untersuchen jene der italienischen Stabsoffiziere. Diese sahen den Faschismus als Hauptschuldigen für das Versagen der Streitkräfte und entwickelten einen, so Osti Guerrazzi und Wellnitz, bis heute in der italienischen Geschichtspolitik zentralen Mythos: jenen des guten Italieners. Demnach seien Italiener menschlicher als die Deutschen, und demnach nicht zu Kriegsverbrechen fähig. Entsprechend sahen sie sich als Opfer von Mussolini und seiner Ideologie. Nur diese habe das friedfertige italienische Volk in den Krieg gezwungen. Der Glaube an den „Endsieg“, an die eigene Armee oder den „Duce“ waren, so die Analyseergebnisse, ab 1943 unter den italienischen Offizieren nicht mehr vorhanden.
Der Versuch des Bandes, eine ergänzende und sinnvolle historische Perspektive zu entwickeln, mit der eine intensive Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus erweitert wird, kann als geglückt bezeichnet werden.
Die Stärke des Bandes liegt insbesondere in der Ermöglichung eines Einblicks in die Beweggründe der Soldaten, ihre Sicht auf andere Parteien im Krieg, ihre starke Identifikation mit Wehrmacht und die schwächere mit der NS-Ideologie. Die Ergebnisse werden sehr anschaulich beschrieben, womit die Analyseergebnisse leicht zugänglich und dabei spannend zu lesen sind.
Für Pädagog/innen eignet sich der Band hervorragend zur intensiven Einarbeitung in das Thema. In der Sekundarstufe II ist es möglich, Fragen aus dem Buch heraus zu entwickeln, die direkt in den Unterricht eingebracht werden können.
Welzer, Harald et al. (Hrsg.): »Der Führer war wieder viel zu human, viel zu gefühlvoll«: Der Zweite Weltkrieg aus der Sicht deutscher und italienischer Soldaten. Frankfurt am Main 2011. Fischerverlag. 12,99 €. ISBN 978-3-596-188727.