Neben den Juden Europas und der sowjetischen Zivilbevölkerung stellten die sowjetischen Kriegsgefangenen die größte Opfergruppe der nationalsozialistischen Verbrechen dar. Als „unnütze Esser“ und „gefährliche Elemente“ galten sie als Vertreter des „bolschewistischen Judentums“ und waren somit dem nationalsozialistischen Terror in seiner vollen Dimension ausgesetzt. Von dem Beginn des „Unternehmens Barbarossa“ am 22. Juni 1941 an bis zur deutschen Kapitulation gelangten etwa fünfeinhalb Millionen sowjetische Kriegsgefangene in deutsche Gewalt. Wie viele von ihnen starben ist bis heute nicht bekannt. Es ist jedoch davon auszugehen, dass mindestens 2,6 Millionen – wenn nicht gar bis zu 3,3 Millionen – die Gefangenschaft nicht überlebten. Der Tod hunderttausender Rotarmisten war Teil der nationalsozialistischen Strategie. Als Mittel diente neben der systematischen Unter- bzw. Nichtversorgung der Arbeitseinsatz in der Kriegswirtschaft unter äußerst lebensfeindlichen Bedingungen.
Verantwortlich für die Unterbringung, die Versorgung und den Einsatz der in Gefangenschaft geratenen sowjetischen Soldaten war die Wehrmacht. Diese richtete zu diesem Zweck sogenannte Russenlager ein, deren Struktur zunächst jegliche Form von lebenserhaltenden Maßnahmen – wie feste Unterkünfte und eine ausreichende Ernährung – vermissen ließ. Die unzulängliche Behandlung führte in den ersten Monaten nach dem Beginn des „Unternehmens Barbarossa“ zu einem Massensterben in den Lagern, dem bis zum Frühjahr 1942 von den drei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen etwa zwei Millionen zum Opfer fielen. Um die Produktionskraft der Kriegswirtschaft dadurch nicht zu gefährden, wurde eine geringe Verbesserung der Lebenssituation der sowjetischen Gefangenen angeordnet. Dennoch standen die Rotarmisten aufgrund ideologisch motivierter Zuschreibungen und Einordnungen weiterhin an unterster Stelle der nationalsozialistisch gestützten Hierarchie der Kriegsgefangenen. Während sich englische, französische und US-amerikanische Gefangene zumindest ansatzweise auf kriegs- und völkerrechtliche Konventionen berufen konnten, wurden diese im Falle der sowjetischen Gefangenen nahezu vollständig und systematisch missachtet.
Der vorliegende Band stellt eine umfangreiche Quellenedition zur Verfügung, in der die Dimension des Arbeitseinsatzes sowjetischer Kriegsgefangener im deutschen Reich nachgezeichnet und dessen Bedeutung im Kontext kriegswirtschaftlicher Belange dargestellt wird. Die zahlreichen Dokumente bieten einen Einblick in die Organisation und Praxis des Arbeitseinsatzes, sowohl auf staatlicher als auch auf kommunaler Ebene. Der Fokus liegt hierbei auf Schriftstücken, die im Raum Niedersachsen/Bremen von Dienststellen der Wehrmacht, der Zivilverwaltung, der Polizei, der Gestapo, Betrieben und Privatpersonen angefertigt wurden. Bei den rund zweihundert Dokumenten handelt es sich ausnahmslos um zeitgenössische Archivalien, die in dem Band größtenteils erstmalig veröffentlicht wurden.
Neben dem umfangreichen Quellenmaterial bietet der Band außerdem eine ausführliche historiographische Darstellung der Organisation und Durchführung des Arbeitseinsatzes. Dem/der Leser/in wird damit zunächst ein vielschichtiges Kontextwissen vermittelt, welches eine kritische Betrachtung und fachkundige Einordnung des jeweiligen Dokumentes ermöglicht. Dabei wird nicht nur auf verwaltungstechnische und strukturelle Aspekte, sondern ebenso auf die Existenzbedingungen der Gefangenen und die entsprechenden Entwicklungen in den Jahren 1941 bis 1945 eingegangen. Als Grundlage der Publikation dienen die Ergebnisse des Forschungsprojektes „Der Arbeitseinsatz der sowjetischen Kriegsgefangenen im Lagersystem der Wehrmacht auf dem Gebiet des heutigen Landes Niedersachsen“, das von der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten von 2010 bis 2012 durchgeführt wurde.
Der Band stellt aufgrund seines vielseitigen und umfangreichen Archivmaterials eine interessante und erschöpfende Quelle zum Thema Kriegsgefangenschaft und Zwangsarbeit sowjetischer Kriegsgefangener im Kontext des Zweiten Weltkriegs dar. Die einzelnen Dokumente werden nach Themen geordnet chronologisch aufgelistet, was die Publikation insgesamt sehr übersichtlich macht und eine zielgerichtete Lektüre ermöglicht.
Aufgrund der Dokumenten- und Themenfülle bietet es sich an, den Inhalt des Bandes vor einer Verwendung in pädagogischem Rahmen aufzuarbeiten und einige Quellen zur intensiven Bearbeitung auszuwählen. Das vorhandene Material eignet sich dabei für eine individuelle Schwerpunktsetzung – die leser/innenfreundliche Struktur der Edition erlaubt sowohl eine thematische als auch eine phasenbezogene Fokussierung. Aufgrund der bürokratisch-technokratischen Formulierungsweise in vielen der zeitgenössischen Dokumente empfiehlt sich allerdings eine gemeinsame Lektüre und Analyse der Schriftstücke im Unterricht. Da die thematische Erfassung der Inhalte ein beträchtliches Kontextwissen verlangt, sollten Grundkenntnisse im Themenbereich „Verwaltungsorganisation und Kriegsstrategie im NS-Staat“ bereits bestehen. Eine Behandlung im Unterricht eignet sich daher erst ab der Sekundarstufe II.