Bevor die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen und die Entrechtung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung begann, gab es im Stadtteil Schöneberg eine lebhafte jüdische Gemeinde. Besonders im Bayerischen Viertel war der jüdische Bevölkerungsanteil mit über sieben Prozent im Berliner Vergleich verhältnismäßig hoch. Die Ausstellung ‚Wir waren Nachbarn’, die seit 2010 als Dauerausstellung im Schöneberger Rathaus gezeigt wird, erinnert an die Menschen, die nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten aus Schöneberg und Tempelhof fliehen mussten oder deportiert wurden. In ausführlichen und liebevoll gestalteten Alben werden ihre Geschichten erzählt, von der Zeit vor 1933 über die Phase der stetig wachsenden Gefahr bis hin zur Flucht oder Deportation und der Zeit nach dem Überleben.
Lesen, Hören, Nachdenken Die Besucher/innen der Ausstellungen können sich in einer Art Lesesaal die 145 verschiedenen biographischen Alben von Familien und Einzelpersonen ansehen, und so mehr über deren Leben erfahren. Einige der Alben wurden mit Merkkärtchen versehen, die auf das Schaffen der jeweiligen Person hinweisen. So findet man unter den Vorgestellten viele Intellektuelle und Künstler/innen, beispielsweise Tänzer/innen, Sänger/innen, Maler/innen, Schriftsteller/innen, Philosoph/innen und Wissenschaftler/innen. Es wurde auch markiert, wenn den betreffenden Personen an ihrem ehemaligen Wohnort bereits durch einen Stolperstein gedacht wird. An fünfzehn Hörstationen kann man sich Interviews mit einzelnen Überlebenden anhören, die über ihre Lebens- und Leidensgeschichte erzählen. Die Besucher/innen haben außerdem die Möglichkeit, sich ergänzend über historische Abläufe zu informieren. Zu diesem Zwecke steht ein Informationsmonitor bereit, an dem man in einer Chronik verschiedene Ereignisse aus den Jahren der NS-Herrschaft ablesen und in einem Glossar Erläuterungen für durch die Nationalsozialisten geprägte und verwendete Begriffe finden kann.
An den Wänden der Ausstellung wurden zur Erinnerung an die vertriebenen und deportierten Bürger/innen des Bezirks 6069 Namen angebracht, es handelt sich dabei um die Abschrift einer Gestapo-Datei, die im Berliner Landesarchiv gefunden wurde. Zu den Namen der Betroffenen findet sich auf den einzelnen Zetteln außerdem die letzte Meldeadresse und ein Hinweis auf Deportationsziel und – falls bekannt – das Todesdatum.
Im Bayerischen Viertel, in unmittelbarer Nähe zur Ausstellung, findet sich außerdem ein weiteres Denkmal. Das von den Künstlern Renata Stih und Frieder Schnock 1993 verwirklichte Projekt macht mit 80 Schildern, die an Lampenmasten im Viertel montiert wurden, auf die schrittweise Entrechtung und die alltäglichen Entbehrungen der jüdischen Bevölkerung ab 1933 aufmerksam. Jedes der Schilder ist auf der einen Seite mit bunten Darstellungen versehen und auf der anderen mit anti-jüdischen Gesetzen und Verordnungen aus den Jahren 1933-45 bedruckt.
Für Schulklassen besteht das Angebot einer individuell auf die Bedürfnisse der Teilnehmer/innen abgestimmt Einführung in die Ausstellung. Ergänzend zu der Ausstellung kann außerdem der Film „geteilte Erinnerungen“ angesehen werden, in dem Zeitzeug/innen über ihre Erfahrungen und Erinnerungen erzählen. Außerdem besteht die Möglichkeit, gemeinsam einen Spaziergang durch das Bayerische Viertel zu machen, und sich bei der Betrachtung der verschiedenen Schilder mit den Themen Entrechtung, Enteignung und Diskriminierung auseinanderzusetzen. Die Führungen sind kostenlos und können unter der Telefonnummer (030) 90 277- 4527 angemeldet werden.
Beim Gang durch die Ausstellung fällt dem/der Besucher/in unweigerlich auf, dass sich unter den vorgestellten Personen auffallend viele bekannte und honorige befinden. So findet man bedeutende Wissenschaftler/innen und Künstler/innen wie Albert Einstein, Walter Benjamin, Else Lasker-Schüler, Kurt Tucholsky, Nelly Sachs und Helmut Newton, aber auch Personen wie Leo Baeck und Cora Berliner, denen aufgrund ihres unermüdlichen Einsatz für die Belange der jüdischen Verfolgten während der Zeit des Nationalsozialismus bis heute gedacht wird. Neben den vielen berühmten ehemaligen Schöneberger und Tempelhofer Juden und Jüdinnen finden sich aber auch Männer, Frauen und Kinder, die bis zum Entstehen der Ausstellung in Vergessenheit geraten waren, und an die nun auf diese Weise erinnert wird. Die Ausstellung „Wir waren Nachbarn“ zeigt, dass in Schöneberg die jüdische Bevölkerung Teil der Gesellschaft war, und durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten und die Radikalisierung der Bevölkerung diese funktionierende und lebhafte Gemeinschaft auseinander gerissen wurde. Sie bietet eine gute Möglichkeit, um Themen wie Toleranz, Zivilcourage und Diskriminierung anzusprechen.