Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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Tim Berners Lee, der Erfinder des Internets, wie wir es kennen, prägte einmal den schönen Satz: „Was nicht im Web ist, existiert nicht.“[1] Einmal davon abgesehen, dass wir immer noch ein ganzes Stück von unserer Komplett-Digitalisierung entfernt sind, steckt mehr als ein Körnchen Wahrheit in diesem Diktum. Immer mehr Menschen verbringen immer mehr Zeit online, der Konsum traditioneller Medien verringert sich oder er wird ins Netz verlagert. Man muss nicht selbst in sozialen Netzwerken präsent sein, um festzustellen, dass immer mehr für die Gesellschaft konstitutive Prozesse wie Partizipation, Diskussion und Bildung im Netz stattfinden.
Gedenkstätten und real existierende Geschichtsorte haben diesen digital turn nur teilweise erkannt und ihre Konsequenzen daraus gezogen. So entstanden vielbeachtete Projekte wie die Facebookseite der Gedenkstätte Auschwitz; zu konstatieren ist aber auch, dass im deutschsprachigen Raum hier noch große Zurückhaltung geübt wird. Nur die Gedenkstätte Buchenwald hat sich mutig mit ihrer Facebookseite ins Web 2.0 gestürzt. Von den Gedenkstätten für die Opfer der NS-„Euthanasie“ ist mit einer Ausnahme noch keine einzige in die Welt der sozialen Netzwerke vorgedrungen.
Damit schreiben sich offline vorhandene Wahrnehmungsstrukturen und Narrative im Internet weiter fort. Fast jede/r kann eine KZ-Gedenkstätte benennen, Namen wie Grafeneck und Hadamar oder gar Wehnen sagen jedoch kaum Jemandem etwas. Auch im Internet gibt es eine fast unüberschaubare Vielzahl an statischen Seiten, Blogs und Facebook-Gedenkseiten für Opfer vor allem des Holocaust, so viele jedenfalls, dass es bereits akademische Forschung über dieses Phänomen gibt.
Wollen NS-„Euthanasie“-Gedenkstätten ihren Bildungs- und Erinnerungsauftrag ernst nehmen, dann sind sie gefordert auch dahin zu gehen, wo sich immer mehr Menschen immer länger aufhalten: Im Internet, und da vor allem in seiner Agora, den sozialen Netzwerken.
Um an den Anfang zurückzukehren: Als die Wichern-Diakonie Frankfurt/Oder und der Paritätische Wohlfahrtsverband Berlin den Transport und das Aufstellen des Denkmals der Grauen Busse nach Brandenburg/Havel und an die Tiergartenstraße 4 in Berlin organisierten, fiel den Organisator/innen die oben beschriebene Lücke erstmals auf. Noch einmal wurde dies deutlich, als im Jahr 2010 unter Federführung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Berlin die Sterbebücher der Heil- und Pflegeanstalt Meseritz-Obrawalde an das Landesarchiv Berlin übergeben wurden. Im Nachgang zu diesen Tätigkeiten wurde die Idee geboren, ein Informations- und Gedenkportal im Internet aufzubauen, das gleichzeitig die europäische Dimension der NS-„Euthanasie“-Verbrechen aufzeigen wie auch für Lernschwache durch die Übersetzung zentraler Texte in Leichte Sprache zugänglich sein sollte. Schnell waren mit dem polnischen Verein Dialog-Współpraca-Rozwój und dem österreichischen Unternehmen atempo zwei Partner gefunden, die einen Antrag auf Förderung im Rahmen des Programms „Europa für Bürger und Bürgerinnen /Aktive europäische Erinnerung“ unterstützen konnten. Dank des Erfolgs dieses Antrages und einer Kofinanzierung durch die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ und aus Eigenmitteln des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes konnte die fertige Seite am 9.11.2011 im Dokumentationszentrum Topographie des Terrors präsentiert werden. Zur Sicherung der Qualität der Seite wurde ein Beirat eingerichtet, dem unter anderem Uwe Neumärker, Andreas Nachama und Ingo Loose angehörten.
Wie ist nun die Seite aufgebaut? Ihre Aufteilung in drei Bereiche ermöglicht dem Besucher, sich in dem Informationsangebot zurecht zu finden: In der Rubrik „Vergangenheit“ werden Texte und Materialien präsentiert, die die Aktion T4, die NS-„Euthanasie“ und Zwangssterilisationen historisch einordnen. Hier ist auch ein Kern des Projektes in über 80 Biografien von Opfern zu finden. Dank des Engagements von Sigrid Falkenstein, die im Beirat des Projektes war, konnten wir Kontakte zu Angehörigen und Stolpersteininitiativen herstellen. Der Bereich „Gegenwart“ lädt dazu ein, Fragen über die Auswirkungen der NS-„Euthanasie“ auf das Hier und Heute zu stellen. Besonders häufig wird hier die Übersichtskarte über die „Euthanasie“-Gedenkstätten nachgefragt; aber auch die Interviews, die mit Gerrit Hohendorf als Medizinhistoriker, mit Frau Falkenstein als Opferangehörige und mit Mireille Horsinga-Renno als Nachkommin des „Euthanasie“-Arztes Georg Renno entstanden, treffen auf großes Interesse. In der „Zukunft“ werden Konzepte vorgestellt, wie der Opfer gedacht werden kann. Ebenfalls dort findet sich ein Forum für Angehörige von Opfern, die sich über Schwierigkeiten bei der Recherche nach oftmals tabuisierten Schicksalen von Familienangehörigen austauschen können. Daneben bietet eine noch im Aufbau begriffene Bibliothek den Zugriff auf Volltexte und Aufzeichnungen von Vorträgen zum Thema.
Den europäischen Charakter des Projektes verdeutlicht die Übersetzung wesentlicher Teile der Seite ins Polnische und Englische. Erstmals wurde mit der Übersetzung von zentralen Texten der Seite in die Leichte Sprache auch einer besonderen Zielgruppe, nämlich Menschen mit Lernbehinderungen, der Zugang zu Informationen über die NS-„Verbrechen“ an Behinderten und Kranken ermöglicht. Ein die Seite ergänzender Blog und eine Facebookseite ermöglichen die Erfassung und Aufbereitung von aktuellen Informationen zum Themenkreis der Seite und haben schon eine ausgiebig kommentierende und interagierende Community gefunden. Ein Google+ Auftritt ist ebenfalls in Vorbereitung.
Die Zahl derer, die sich wissenschaftlich mit dem Phänomen der NS-„Euthanasie“ auseinandersetzen, ist klein und die Akteure sind sehr gut vernetzt. So führte bereits die Bekanntmachung, dass die Seite entstehen sollte, zu großem Aufsehen. Als die Idee dann auf einer Tagung des „Arbeitskreises zur Erforschung der Geschichte der NS-„Euthanasie“ und Zwangssterilisationen“ vorgestellt wurde, hagelte es von allen Seiten Kritik, Fragen und vereinzeltes Lob. Verwunderung rief vor allem der Fakt hervor, dass ein bis dahin unbekannter Akteur die Bühne betreten hatte. Eine Rolle spielte dabei der Umstand, dass in der Szene ein ähnliches Unterfangen schon öfters anvisiert, dann aber wieder ruhen gelassen wurde, so dass die Homepage des Arbeitskreises seit dem Jahr 2003 nicht mehr aktualisiert wurde. Mittlerweile haben sich die Wogen aber geglättet. Ein Internetauftritt des Arbeitskreises auf gedenkort-t4.eu ist in Planung und mindestens ein Teil seiner Tagungsberichte soll in der Digitalen Bibliothek zugänglich gemacht werden. Auch ein zweiter Akteur, der Runde Tisch T4, der seit Jahren die Entstehung eines Gedenk- und Informationsortes an der Tiergartenstraße 4 fördert und kritisch begleitet, wird auf „gedenkort T4“ in Kürze präsent sein. Die Seite wird sich also weiterentwickeln und versuchen, ihren Teil dazu beizutragen, dass ein besonders schwieriges Kapitel deutscher Vergangenheit immer wieder erneut erforscht, erinnert und reflektiert werden kann.
[1] http://futurezone.at/netzpolitik/5386-was-nicht-im-web-ist-existiert-nicht.php