Der Mauerfall 1989 im kollektiven Gedächtnis der Deutschen – Eine repräsentative Umfrage –
von Adrian Weickart
Jeder dritte junge Erwachsene vermag kein Urteil darüber abzugeben, was den Fall der Mauer 1989 bewirkte. Die Studien , in denen unzutreffende Geschichtskenntnisse von – insbesondere ostdeutschen – Schülerinnen und Schülern beklagt werden, können sich auf den ersten Blick durch das Ergebnis einer aktuellen repräsentativen Befragung bestätigt fühlen. Aber diese jüngste Erhebung zwingt zu Differenzierungen. Mit der wissenschaftlichen Klärung der Frage, welche Gründe letztlich den Mauerfall und den damit verbundenen historischen Umbruch in Deutschland verursachten, werden sich noch Generationen von Historikern auseinandersetzen.
Ziel der Befragung war es hingegen lediglich herauszufinden, welche Gründe im kollektiven Gedächtnis der Deutschen für diese einmalige Wende verantwortlich gemacht und wie sie gewichtet werden. Worin sehen die Menschen heute, bald 24 Jahre später, die Auslöser dieses Ereignisses? Hierfür wurden den Befragten zehn der häufig in den Medien genannten „Ursachen“ mit einer Kurzbegründung vorgelegt, aus denen sie bis zu 3 Antworten auswählen konnten. Die Reaktionen hierauf sind aufschlussreich, weil sie nicht nur das dokumentieren, was man vielleicht erwartet hatte, sondern überraschende Einblicke geben.
Eine klare Mehrheit von 53 % sieht in den friedlichen Massendemonstrationen die Ursache für den Umbruch. Diese deutliche Mehrheit zieht sich durch alle Altersgruppen, findet sich bei Männern und Frauen und bei Ost- wie Westdeutschen. 42 % der Befragten schätzen Gorbatschows Politik von Glasnost und Perestroika als maßgeblich für den Umbruch ein. Immerhin noch 39 % nennen das Versagen des planwirtschaftlichen Systems und die grösser werdenden Unterschiede in der ökonomischen Entwicklung. Erheblich weniger, 27 %, sehen es als entscheidend an, dass DDR-Bürger durch ihre Flucht in Botschaften der Bundesrepublik in anderen Ostblockstaaten auf die für sie unerträglichen Zustände in der DDR aufmerksam machten und so den Handlungsdruck auf die Regierenden in der DDR erhöhten. Dass die Attraktivität freier Gesellschaften, welche Demokratie und Menschenrechte besonders achten, ursächlich für den Umbruch war, meinen 13 %. Ebenso viele machen dafür die Entspannungspolitik verantwortlich, die in den 1970er Jahren begann und einen Wandel durch Annäherung anstrebte. 12 % sehen den Anlass für den Umbruch in der – wohl verunglückten – Pressekonferenz Günter Schabowskis, der eine „sofortige“ grosszügige Reiseregelung ins westliche Ausland verkündete. 6 % nennen die christlichen Kirchen, die den Menschen in der DDR einen Freiraum boten, in dem sie sich sammeln und aktiv werden konnten, als ursächlich für den Umbruch an. An Johannes Paul II, den damaligen Papst aus Polen, der auch seine Landsleute ermutigte, für Freiheit und Menschenrechte zu kämpfen, denken in diesem Zusammenhang nur 5 % der Befragten. Ebenso viele nennen die Außenpolitik des US-Präsidenten Bush und seines Vorgängers Reagan, der Michail Gorbatschow mit klaren Worten aufrief, die Berliner Mauer niederzureißen. Auffallend ist, dass immerhin 16 % der Bevölkerung sich gänzlich außerstande sieht („weiß nicht“), aus den ihnen vorgelegten Alternativen überhaupt eine Antwort auszuwählen.
So deutlich das Gesamtergebnis der Umfrage ist, mit welcher die große Anerkennung dokumentiert wird, die die friedlichen Massenproteste auch heute noch finden, so aufschlussreich sind im Einzelnen die Unterschiede im Geschichtsbewusstsein der Deutschen.
Die Befragten aus den neuen Ländern schätzen beispielsweise diese Massendemonstrationen erheblich stärker ein als die westdeutsche Bevölkerung. Noch deutlicher werden die Unterschiede bei der Analyse der über 55-Jährigen. Hier hat sich ein einheitliches Geschichtsbild im Gedächtnis der „Erlebnisgeneration“ auch nach einem Vierteljahrhundert nicht herausbilden können: Die friedlichen Massenproteste (67 % zu 57 %), Gorbatschows Politik (59 % zu 51 %) und das Versagen der Planwirtschaft (52 % zu 48 %) oder die Pressekonferenz Schabowskis (19 % zu 10 %) haben für die Menschen im Osten ein deutlich stärkeres Gewicht als für die Menschen im Westen. Die Ost-Bevölkerung war näher dran an den Ereignissen, hat sie als Betroffene intensiver miterlebt. Das prägt stärker als Informationen über die Medien. Diese „Anteilnahme“ zeigt sich auch daran, dass nur 3 % von ihnen kein Urteil abgeben können, während im Westen 4mal so viel Befragte mit „weiß nicht“ reagieren.
Die größten Unterschiede liegen aber zwischen den Altersgruppen. Hier zeichnet sich eine höchst signifikante Diskrepanz im historischen Gedächtnis der Deutschen ab: Ein erstaunlich hoher Anteil, nämlich ein Drittel der jüngeren Generation, sieht sich nicht in der Lage, überhaupt eine Antwort zu den Hintergründen des Mauerfalls zu geben. Diese Unkenntnis kann zum Teil mit der typischerweise verblassenden Erinnerung erklärt werden, die mit dem zeitlichen Abstand zum historischen Ereignis eintritt. Dazu passt, dass der Beitrag Gorbatschows bei den Älteren wach, bei den Jüngeren aber bereits nahezu vergessen ist. Überraschend aber ist, dass die verbleibenden zwei Drittel der Nach-Mauerfall-Generation, die ein Urteil abgeben können, die damaligen Vorgänge erheblich anders gewichtet als die Älteren. Letztere nennen deutlich häufiger die friedlichen Massenproteste (59 % zu 38 %), Gorbatschows Politik (52 % zu 15 %), das Versagen der Planwirtschaft (48 % zu 29 %) und die Entspannungspolitik (16 % zu 8 %) als die Befragten unter 24-Jährigen. Ein deutlich höheres Gewicht als die über 55-Jährigen sehen die Jüngeren in der Attraktivität freier Gesellschaften (23 % zu 9 %).
Die Jugendlichen von heute, die fast täglich hören, etwa bei der medialen Wiedergabe der Vorgänge des arabischen Frühlings, welche Anziehungskraft Freiheit und Demokratie für junge Menschen in totalitären Staaten ausüben, projizieren ihre heutige Erfahrungswelt auf die Vergangenheit. Im Rückblick nehmen sie daher an, dass die Sogwirkung westlicher demokratischer Werte höher zu veranschlagen ist und dass dies vor fast einem Vierteljahrhundert in der DDR so gewesen sein muss. Insofern findet bei ihnen eine Umwertung der damaligen historischen Gegebenheiten statt.
Das Geschichtsbewusstsein der jungen Generation, die mit einem anderen moralischen Anspruch und einem höheren, an humanitären und Menschenrechten orientierten, Gerechtigkeitssinn aufgewachsen ist, spaltet sich damit deutlich vom Rest der Bevölkerung ab. Diese Verschiebung des Geschichtsbildes ergibt sich nicht nur bei einer Gegenüberstellung der unter 24-Jährigen mit der wesentlich älteren Generation der über 55-Jährigen. Auch der Vergleich zwischen den unter 24-Jährigen und allen Personen über dieser Altersgrenze, also unter Einbeziehung der mittleren Generation, zeigt – nur wenig abgemildert – die gleiche scharfe generationsbedingte Abspaltung der Jüngeren bei der geschichtlichen Wahrnehmung des Mauerfalls: Vor diesem Hintergrund lohnt ein Blick darauf, ob sich wenigstens innerhalb dieser jungen Generation, die ohne Mauer gemeinsam im nicht-geteilten Deutschland aufwuchs, eine einheitliche gesamtdeutsche Perspektive entwickelt: Dies scheint tendenziell der Fall zu sein. Soweit Unterschiede vorhanden sind, sind sie wesentlich geringer als zwischen den Generationen. Eine solche Einheitlichkeit gibt es zunächst im Negativen, nämlich bei der gemeinsamen „Unkenntnis“. Überraschenderweise liegt in Ost und West die Anzahl derer, die keine Angaben machen können, exakt gleich hoch bei 33 %. Dieser unerwartete Befund steht im Gegensatz zu manchen Schlussfolgerungen aus anderen Studien. Dort wird das unzureichende geschichtliche Wissen ostdeutscher Schüler auf mangelhaften Unterricht (angeblich wegen der Konflikte älterer Lehrer aus der ehemaligen DDR mit ihrer eigenen Vergangenheit) oder auf Defizite im familiären Dialog (ostdeutsche Eltern, welche die Geschehnisse der Vergangenheit vermeintlich schönfärben oder ganz verschweigen) zurückgeführt.
Die Altersgenossen aus dem Westen weisen aber genauso wenige Kenntnisse auf, ohne diesen ostdeutschen „Besonderheiten“ ausgesetzt zu sein. Im Gegenteil: die jungen Ostdeutschen, die sich eine Meinung gebildet haben, sind in der Analyse der historischen Fakten zum Mauerfall – z.B. der Bedeutung der friedlichen Massendemonstrationen oder auch der Entspannungspolitik – deutlich konkreter als westdeutsche Jugendliche, welche demgegenüber die diffuse und unverbindliche Formel von der „Attraktivität freier Gesellschaften“ bevorzugen. So schlecht scheint es jedenfalls um die Vermittlung mancher historischer Realitäten bei den ostdeutschen Jugendlichen nicht bestellt zu sein, zumindest nicht im Vergleich mit ihren westlichen Altersgenossen.
Fazit
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Zugehörigkeit zu einer Altersgruppe das historische Gedächtnis der Deutschen über den Umbruch 1989 stärker prägt als Geschlecht oder geographische Herkunft. Von einem einheitlichen kollektiven Gedächtnis der Deutschen kann angesichts der festgestellten Unterschiede nicht gesprochen werden. Die dramatische Unkenntnis der jungen Befragten, unabhängig von der Region, fordert aber heraus.
Es bleibt die Aufgabe, Konzepte zu entwickeln, wie man dem fehlenden Wissen – zumindest bei einem beachtlichen Teil der jungen Generation – entgegenwirken kann. Dass jeder Dritte unter 24-Jährige noch nicht einmal aus einer vorgelegten Liste eine Auswahl zum Umbruch 1989 treffen kann, zwingt zum Handeln. Ein Hinweis, wie dieses Problem unter anderem angegangen werden kann, lässt sich aus der Umfrage selbst entnehmen. Die hohe Sensibilisierung der jungen Generation bezüglich demokratischer Freiheits- und Menschenrechte, die ihr Geschichtsbewusstsein prägen, sollte man sich zunutze machen. Wo lässt sich die Realität der undemokratischen DDR, ihre gravierenden Verletzungen von Freiheits- und Menschenrechten, z.B. von der Einschränkung der Freizügigkeit bis hin zur Freiheitsberaubung, anschaulicher erleben als beim Besuch historischer Orte? An Mauer-Denkmälern? Bei der Begegnung mit Zeitzeugen? An Gedenkstätten, bei denen – doppelt authentisch – DDR-Opfer sogar die Führung selbst übernehmen? Eine solche Ansprache gerade des unwissenden Teils der jüngeren Generation wird nicht nur eine jugendgerechte Ausgestaltung mancher Orte mit modernen Formen der Kommunikation verlangen. Auch eine Verknüpfung der Gedenkstättenbesuche mit den heute aktuellen Menschenrechtsverletzungen in der Welt erscheint empfehlenswert. Denn damit können die Jüngeren ihre heutige Erlebniswelt besser mit den vergangenen Ereignissen verbinden. Auf diese Weise könnte auch bei diesem Personenkreis eine Motivation zum Lernen der Geschichte bewirkt werden.
Über den Verfasser
Der Verfasser war Projektverantwortlicher für die repräsentative Umfrage, die im Rahmen des INSA-Meinungstrends (YouGov-Panel) vom 18. bis zum 21. Januar 2013 mit 1.997 Befragten in Deutschland durchgeführt wurde.