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Timothy Snyder: Bloodlands. Europa zwischen Stalin und Hitler

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Timothy Snyder: Bloodlands. Europa zwischen Stalin und Hitler, C.H.Beck Verlag München (2011), 523 Seiten, 29,95 Euro.
Von Ingolf Seidel

Ohne Frage hat Timothy Snyder, Historiker an der Yale-Universität, ein aufsehenerregendes und viel diskutiertes Buch geschrieben: Bloodlands. Snyder legt darüber hinaus ein Zeugnis des historischen und erinnerungskulturellen Zeitgeistes zu den Verbrechen von Nationalsozialismus und Stalinismus vor. In den bundesdeutschen Feuilletons finden sich sowohl würdigende als auch einige kritische Besprechungen und im angelsächsischen Sprachraum wird „Bloodlands“ überwiegend positiv gewürdigt. Skandalisierungen von Snyders Vergleich der beiden so unterschiedlichen Systeme und ihrer mörderischen Geschichte sucht man vergebens.

Snyders zentrales Anliegen ist, wie er in einem Interview im Standard ausführte, eine Geschichte politischer Massenmorde zu schreiben und dabei über vergessene Aspekte zu berichten. Dies bedeutete für ihn vor allem, die Geschichte des stalinistischen Terrors in ein Verhältnis zum Nationalsozialismus zu setzen. Dazu hat er in der Öffentlichkeit wenig bekannte Quellen kompiliert.

Was sind "Bloodlands"?

Snyder definiert die „Bloodlands“ als das Gebiet, das sich von Zentralpolen bis Westrussland erstreckt und die Ukraine, Weißrussland – wie er Belarus nennt - sowie die baltischen Staaten umfasst. Auf diesem Gebiet wurden in den Jahren zwischen 1932 und 1945 ungefähr 14 Millionen Menschen ermordet, schätzt Snyder. Dabei handelte es sich um Zivilisten, Männer, Frauen und Kinder, Junge und Alte. Eindringlich konstatiert der Autor: „ Obwohl ihre Heimatländer in der Mitte dieser Epoche zu Schlachtfeldern wurden, waren sie alle Opfer einer mörderischen Politik. (...) Unter den vierzehn Millionen Opfern war kein einziger Soldat“ (S. 10). Snyder zeigt einen Furor der Vernichtung auf, der stärker geprägt war durch absichtsvolle Hungersnöte in Folge von sowjetischen Zwangskollektivierungen und durch nationalsozialistische Massenerschießungen als durch die nationalsozialistischen Vernichtungslager oder das Gulag-System. Die von ihm gewählte Art der Darstellung sucht danach, die Opfer zur Sprache kommen zu lassen – ohne Unterschied. Dadurch bekommt die chronologische Aneinanderreihung von Gewalttaten – angefangen bei den rund 3,3 Millionen, die in der Sowjetunion durch sogenannte Kulaken-Verfolgung, Zwangskollektivierung und in Folge der erbarmungslosen Durchführung des Fünf-Jahresplans starben über den Großen Terror 1937 und die stalinistischen Säuberungen nach dem Kriegsbeginn 1939 bis hin zu den Vernichtungsaktionen der nationalsozialistischen Eingreiftruppen und der Errichtung der Vernichtungslager– etwas stakkatohaftes. Die Erzählung wird an manchen Stellen schwer erträglich und wirkt durch die Skrupellosigkeit der unterschiedlichen Akteure erschütternd.

Gewalt als Maßstab

In den Mittelpunkt seiner Betrachtungen rückt Snyder vor allem den Terror, die Gewalttat, während man ideologiekritische Analysen der verschiedenen autoritären Herrschaftsformen, die auch einer historischen Arbeit keinen Abbruch täten, vermisst. Stattdessen werden Strukturen auf Personen reduziert, entsprechend häufig liest man die Namen Hitler und Stalin: „Das Land (Weißrussland, IS) als Ganzes war Schauplatz eines symbolischen Machtkampfes zwischen Hitler und Stalin (...)“ (S. 235). Befremden löst der Autor dort aus, wo er den Partisanenkampf in Weißrussland für die nationalsozialistischen Gräueltaten verantwortlich macht und dazu behauptet: „Mehr als irgendwo sonst kam es in Weißrussland zur Überschneidung und zum Zusammenwirken von NS- und Sowjetsystem. (...) Deutsche ermordeten Juden als Partisanen, und viele Juden wurden daraufhin Partisanen. Diese dienten dem Sowjetsystem und wirkten an einer Politik mit, die Vergeltungsmaßnahmen gegen Zivilisten provozierte. Beim Partisanenkrieg in Weißrussland wirkten Hitler und Stalin auf perverse Art zusammen.“ (S. 258). Ein empathisches Verhältnis zu Menschen – nicht zuletzt jüdische Partisanen beiderlei Geschlechts, die sich gegen ihre Vernichtung wehrten, drückt sich anders aus. Es ist hinlänglich bekannt, dass die Unabhängigkeit von Partisanen der sowjetischen Führung suspekt war und logistische Unterstützung von politischer Willfährigkeit abhängig war. Doch Snyder geht weiter: „Partisanenkampf war (und ist) illegal, weil er die Konvention untergräbt, dass uniformierte Armeen gegeneinander statt gegen die Zivilbevölkerung Gewalt anwenden.“ (S. 243) Derart gerät dem Autor die vorgeblich wissenschaftliche Objektivität zum Zynismus im Angesicht eines Vernichtungskrieges, der keine zivilisatorischen Schranken mehr kannte.

Snyders Ansatz der Fokussierung auf die Darstellung von Massenmorden missglückt auch dort, wo er Verfolgungen unterschiedlicher Gruppen mit verschiedenen historischen Folgen gegeneinander stellt und sie – vielleicht ungewollt – gegeneinander ausspielt. Welcher Erkenntniswert liegt in dem Satz, dass die „am stärksten verfolgte europäische Minderheit in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre (...) nicht die 400.000 deutschen Juden, deren Zahl durch Emigration sank, sondern die 600.000 sowjetischen Polen (deren Zahl durch Erschießungen sank)“ (S.107) waren? Snyders Umgang mit Zahlen wirkt an dieser Stelle manipulativ: Weder gibt er einen exakten Zeitraum für seinen Vergleich an, noch weist er darauf hin, dass von den ca. 500.000 deutschen Jüdinnen und Juden, die 1933 im Deutschen reich lebten, bereits bis Ende 1934 geschätzte 60.000 Jüdinnen und Juden aus Deutschland geflohen waren (Gutman, Longerich et. al. S. 427f). Auch die an diese Passage anschließende Behauptung, dass Stalin „ein Pionier des ethnischen Massenmordes“ gewesen sei, ist nur unter bestimmten Vorzeichen stimmig. Nämlich wenn man mindestens zwei Massenverbrechen des frühen 20. Jahrhunderts wie den Genozid an den Armeniern unter jungtürkischer Verantwortung oder den Völkermord deutscher Kolonialtruppen im Jahr 1904 an den Herero aus seinem Geschichtsbild ausblendet.

Fazit

Für das berechtigte Anliegen, der Auseinandersetzung mit den stalinistischen Verbrechen zu einem einen zentraleren Platz im Geschichtsbewusstsein zu verhelfen, ist Snyders komparative Vorgehensweise wenig hilfreich. Der autoritäre sowjetische Staatssozialismus hatte nie wirklich mit grundlegenden Prinzipien kapitalistischer Vergesellschaftung gebrochen. Im Gegenteil. Er versuchte die Industrialisierung auf das Brutalste nachzuholen, um so quasi per Dekret eine Arbeiterklasse zu schaffen, die unter Führung der Partei den Sozialismus aufbaut. Es ist dieses technokratische und in der „instrumentellen Vernunft“ (Horkheimer) begründete Denken, in dem die Ursprünge des stalinistischen Terrors zu suchen sind.

Snyders Methode der Gegenüberstellung von Massenverbrechen leidet daran, dass er sich weitgehend mit Phänomenen befasst und sie gegenüberstellt. Daher wirkt auch der an sich wertvolle Versuch Antisemitismus in der Sowjetunion zum Thema zu machen wenig überzeugend. Die vom Autor gewählte Form von Geschichtsschreibung zielt vor allem auf den Effekt. So bleibt wichtige Aufgabe eine „integrierte Geschichte“ des Stalinismus zu schreiben, so wie es Saul Friedländer für die Geschichte der Ermordung und Vernichtung der Juden vermochte, noch ungelöst.

Literatur

Peter Longerich, Eberhard Jäckel, Julius H. Schoeps (Hrsg.) (Hauptherausgeber: Israel Gutmann): Enzyklopädie der Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. München – Zürich (1998)

Für eine vertiefende Auseinandersetzung über den Umgang mit Krieg, Diktaturerfahrungen Gewalt und Trauma in Osteuropa bietet die gleichnamige Zeitschrift unterschiedliche Aufsätze: Osteuropa 6/2008

Eine Rezension zu "Bloodlands" als Podcast finden Sie auch auf Dradio

 

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