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Carola S. Rudnick: Die andere Hälfte der Erinnerung

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Carola S. Rudnick: Die andere Hälfte der Erinnerung. Die DDR in der deutschen Geschichtspolitik nach 1989. transkript Verlag Bielefeld (2011) 770 Seiten, 39,80 €.
Von Ingolf Seidel

Die Erinnerung an die DDR und deren Auflösung, die mit dem Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland endete, ist anhaltend ein geschichtspolitisch umkämpftes Terrain. Dessen Sondierung hat sich Carola S. Rudnick zur Aufgabe gemacht und ihre Ergebnisse zuletzt in dem Band „Die andere Hälfte der Erinnerung“ publiziert. Die Autorin begibt sich mit der Arbeit nicht nur auf ein brisantes Feld, sondern schließt eine Forschungslücke. Eine quellenkritische Analyse der Erinnerungskultur zur DDR „als Teil des gesellschaftlichen Transformationsprozesses nach 1989, anhand konkreter Beispiele aus der mittlerweile entstandenen Erinnerungslandschaft zur SBZ/DDR-Vergangenheit“ (S.27) stand Rudnicks Aussage zufolge noch aus. Bisher lagen vor allem Arbeiten vor, die eine Auseinandersetzung um die Gedenkstätten mit „zweifacher Vergangenheit“ wie die Gedenkstätten Buchenwald und Sachsenhausen in den Fokus nehmen. Die vorliegende Publikation baut auf verschiedenen Vorarbeiten der Autorin auf: Dazu gehören ihre Magisterarbeit und eine diskursanalytisch orientierte Dissertation zu 20 Jahren öffentlicher Erinnerung an die SBZ/DDR und dem Gedenken an ihre Opfer.

Mit ihrer Arbeit stellt Carola Rudnick zentrale, scheinbar selbstverständlich gewordene Aussagen zur Erinnerung über die SBZ/DDR in Frage. Der Begriff der Friedlichen Revolution wird in ihrer Hauptthese grundsätzlich hinterfragt. Eine „Umwälzung der Eigentumsverhältnisse, immerhin ein wesentliches Merkmal einer Revolution“ (S. 738), hätte ursprünglich nicht auf der Agenda gestanden, vielmehr hätten viele der „Herbstbewegten“ an einer „sozialistischen Alternative“ (ebda.) zur BRD festgehalten. Nachzugehen wäre Rudnick zufolge eher der Frage, ob es sich bei der Wende nicht eher um eine Revolution „von oben“ (vgl. ebda.) gehandelt hätte. Wesentliche Anstöße hierzu wären den Versuchen der DDR-Regierung geschuldet, die Forderungen seitens der Bürgerrechtsbewegung zu kanalisieren. Darüber hinaus wäre die Rolle der Bundesrepublik näher zu beleuchten, die „mit dem vorgezogenen Staatsvertrag zur Wirtschafts-, Währungs- und Sozialreform eine sozialistische Alternative, einen Dritten Weg, eine Reform innerhalb der DDR abgewendet“ hätte.

Der Begriff der Friedlichen Revolution gehört ohne Frage zu den zentralen Gründungsmythen des geschichtspolitischen Diskurses über das Ende der DDR. Die Autorin ist sich der Brisanz ihrer Positionierung bewusst und reflektiert die Krux, dass die „wissenschaftlich-kritische Betrachtung der öffentlichen Darstellung der Ereignisse des Herbstes 1989 und des totalitären Charakters der DDR“ leicht in das Fahrwasser von „Marginalisierungsversuche(n) der einstigen DDR-Kader“ gerät, die seit 2006 „punktuell versuchen öffentlich Gehör zu finden.“ (S. 28). Nichtsdestotrotz ist es ein wissenschaftlich legitimes und wichtiges Anliegen die totalitarismustheoretischen Deutungen der DDR und den „grobschlächtigen Diktaturenvergleich“ (ebda.), wie er vor allem von konservativer Seite betrieben wird, zu hinterfragen.

In den Diskursen um die „bundespolitische Aufarbeitung der SBZ/DDR-Vergangenheit“ zeigt Rudnick verschiedene Phasen auf:

Der Zeitraum von 1990 – 1992, der geprägt war durch „geschichtspolitische Sofortmaßnahmen“ wie die Demontage von Denkmälern und Symbolen, Straßenumbenennungen, der Einführung des 3. Oktobers als Tag der deutschen Einheit, etc. und durch „die frühe Suche nach >>Gründungsmythen<<“ (S.35). Zu letzteren gehört neben anderen auch „die Uminterpretation des 17. Juni 1953 zu einem Vorboten des 09. November 1989“ (vgl. ebda).

Die Periode von 1992 – 1997 beinhaltet die Auseinandersetzung um eine gesamtdeutsche Einordnung und Bewertung der DDR. Dazu gehörte auch die Einrichtung zweier Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages. Im Bundestag war es vor allem die SPD, die im Unterschied zur CDU/CSU, eine Beteiligung des Bundes an dem Betrieb der Gedenkstätten vorantrieb. Gegen die totalitarismustheoretisch und antikommunistisch orientierte Herleitung des antitotalitären Konsenses wurde jener als „Bekenntnis zu den Menschenrechten in einen allgemeinen Zusammenhang gebracht“ (S. 69). Die zweite Enquete-Kommission sprach sich in ihrem Abschlussbericht dafür aus, dass es bei dem Gedenken zu keinen Relativierungen der NS-Verbrechen und zu keiner Bagatellisierung des Stalinismus kommen dürfe. Damit setzte der abschließende Bericht „einen Schlussstrich unter die Tendenzen der Parallelisierung und Nivellierung der Opfer wie die Konservativen es anstrebten“ (S. 69).

Das Jahr 1997 markiert einen Einschnitt in der Gedenkpolitik. Die folgenden Jahre waren vor allem durch die Institutionalisierung der DDR-Aufarbeitung gekennzeichnet, aber auch „durch das Ende der konservativen Geschichtspolitik“ (S. 104). Zu den unmittelbaren Folgewirkungen der beiden Enquete-Kommissionen gehörte die Einrichtung der Stiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur und die Gedenkstättenkonzeption des Bundes von 1999, die auch vorsah, ausgewählte KZ-Gedenkstätten in den alten Bundesländern in die Gedenkstättenförderung des Bundes zu überführen. In den Mittelpunkt der weiteren Betrachtung stellt Rudnick die unterschiedlichen geschichtspolitischen Initiativen der CDU-Bundestagsfraktion und die erneute Aufwertung des Erinnerns und Gedenkens an die SBZ/DDR-Vergangenheit gegenüber der Erinnerung an die NS-Vergangenheit im Zuge der Regierungsneubildung und der Großen Koalition ab dem Jahr 2005 (vgl. S. 105).

Den wesentlichen Kern von Rudnicks Arbeit macht eine material- und kenntnisreiche Auseinandersetzung mit der „Umwandlung ehemaliger Haftanstalten in Gedenkstätten“ (S.107ff), dem „Streit um das Erbe der Stasi“ (S. 334ff) und die „Konflikte um Gedenkstätten zur deutschen Teilung“ (S. 532ff), also um die Gedenkstätten Berliner Mauer und Marienborn aus. An den Auseinandersetzungen um die konkreten historischen Orte verdichten sich die geschichtspolitischen Kämpfe um Deutungshoheiten. So konstatiert Rudnick: „ Die Deutungshoheit über die verschiedenen Vergangenheiten Hohenschönhausens und Bautzens lag (...) eine Zeit lang weniger in den Händen von Historikern als vielmehr in den Händen Betroffener und ihrer organisierten Vertreter. Die Gedenkstätten gaben demgemäß zunächst weniger ein differenziertes Geschichtsbild wieder, als vielmehr die subjektiv und z.T. ideologisch geprägten Vorstellungen der Opfer“ (S. 736). Man muss diesem behaupteten Widerspruch von objektiver Geschichtswissenschaft und subjektiver Darstellung von Geschichte sicherlich nicht in jeder Hinsicht folgen, auch wenn manche Tendenz zu einem wenig quellenkritischen Umgang mit Zeitzeugenschaft Rudnick Recht zu geben scheinen. Dennoch ist ihr Urteil, dass in der Gedenkstätte Bautzen eine „Verwissenschaftlichung der Gedenkstättenarbeit zum Ende der 90er Jahre“ gelang ebenso wohlbegründet, wie die gegenteilige Einschätzung für die Gedenkstätte Hohenschönhausen, in der bis heute „Opfernarrative“ dominieren und die eine „antikommunistisch gefärbte Geschichtspolitik“ ( S. 736) betreibe.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Carola S. Rudnick eine geschichtspolitisch provozierende Arbeit vorgelegt hat, die es verdient, breit zur Kenntnis genommen und diskutiert zu werden. Sie widerspricht dem Mainstream der Geschichtsdeutungen zur Erinnerung an die DDR, ohne in die Falle der Affirmation von Stalinismus und Diktatur zu geraten. Gleichzeitig zeigt sie, wie gründlich die Anliegen der Bürgerrechtsbewegung von 1989 unter den Trümmern geschichtspolitischer Diskurse begraben wurden. Der Analyse von Rudnik liegt ein intensives Quellenstudium zugrunde. Sie hat 3.200 Einzeldokumente betrachtet und Materialien aus regionalen, wie überregionalen Zeitschriften, Ergebnisse der beiden Enquete-Kommissionen des Bundestages, gedenkstättenpädagogische Konzepte, Protokolle, Vermerke etc. herangezogen. Für alle, die sich – schulisch oder außerschulisch – mit dem Geschichtslernen über die DDR beschäftigen und sich nicht auf die Weitergabe von mythologisierenden Darstellungen beschränken wollen, hat Carola Rudnick ohne Zweifel einen Band vorgelegt, der zur Pflichtlektüre gehört. Die Auseinandersetzung mit ihren Thesen birgt eine Chance zur Auseinandersetzung mit der Geschichte, jenseits der rein ritualisierten Würdigungen.  

 

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