Empfehlung Belletristik

„Jeder stirbt für sich Allein“ – Die Hampels als Quelle der Inspiration

Hans Fallada: „Jeder stirbt für sich allein“. Aufbau Verlag, Berlin 2011. 704 S.; 19,95 €.

Carmen Delgado Viveros

Nur wenige Monate nach seinem Tod am 5. Februar 1947 erschien im April Hans Falladas letzter Roman „Jeder stirbt für sich allein“. Im Marathontempo – innerhalb von vier Wochen - schrieb der Autor im späten Herbst 1946 mehr als acht hundert Typoskriptseiten. Als Leitmotiv diente der Widerstandskampf einfacher Leute gegen das NS-Regime. Die Hauptfiguren, das Berliner Arbeiterehepaar Anna und Otto Quangel, kämpfen nach dem Tod ihres Sohnes im Feldzug gegen Frankreich, mit subversiven, handgeschriebenen Postkarten und Flugblätter gegen die Nazis.

Der Stoff des Romans stammte aus den Gestapoakten der Berliner Arbeitereheleute Elise und Otto Hampel. Beide schrieben in ihrer Weddinger Wohnung zwischen 1940 und 1942, das Jahr ihrer Verhaftung, etwa 200 Postkarten und Flugblätter, die sie später in Briefkästen und Treppenhäuser in Berlin verbreiteten. Es handelt sich dabei um einen deutlichen Aufruf zum Widerstand: „Bitte weiter auslegen! Nieder mit der Hitlerregierung! Nieder mit dem Zwangselendsdiktat in unser Deutschland! Eine Hitlerregierung dürfen wir nicht Entlasten!!“ (Abb. aus der Neuausgabe S. 681). Ausschlaggebend für ihre subversive Haltung war der Tod Elises Bruders während des deutschen Angriffs 1940 auf Frankreich. Nach diesem Ereignis entschieden sich beide ihr Dasein als Mitläufer/innen zu verlassen und kämpften mit ihren eigenen Mitteln gegen das NS-Regime. Dieser Umbruch im Leben der Hampels war eventuell Falladas Quelle der Inspiration, denn sie gehörten zunächst nicht zu den Widerstandskämpfer/inne/n, sondern sie waren einfache Leute, die zu den Mitläufer/inne/n zählten. Elise selbst war Mitglied der NS-Frauenschaft.

In der fiktionalen Welt von „Jeder stirbt für sich allein“ porträtiert Fallada ein Stück weit, in einer einfachen Alltagssprache mit wiederkehrenden Bekräftigungen des Berliner Dialekts, das Leben und der Kampf der Hampels. Dabei erkundigt der Erzähler durch innere Monologe die menschliche Seele, nicht nur der Protagonist/inn/en, sondern auch der Nebenfiguren. Durch diese Analyse kommt fast zu Stande ein schwarz-weiß Bild der Figuren, doch dazwischen gibt es Nuancen. Dies ist ein interessanter Aspekt für die Bildungsarbeit, denn die Angst in Verdacht zu geraten liegt in der Luft, wenn die eigenen Gedanken ausgesprochen werden würden. Spitzeltum und Denunziantenfieber ziehen sich durch den Roman. Denn ein falsches Wort an einem falschen Ort gegen das Nazi-Regime kann das Todesurteil durch das Terrorinstrument des sogenannten Volksgerichtshof bedeuten. Durch das Einblicken in die Gedanken einiger Figuren kann sich die Leserschaft in die Lage einzelner Mitläufer/innen hinein versetzen. Fallada entlarvt durch das Eindringen in die Psyche der Figuren die Bedeutung, die es hatte unter der gewaltigen Unterdrückung der Naziherrschaft zu leben und wie die Mitläufermentalität entstehen konnte.

Diese Unterdrückung spürten im wahren Leben Elise und Otto Hampel am stärksten während ihres Prozesses vor dem „Volksgerichtshof“, um das eigene Leben zu retten, beschuldigten sie sich in ihrer Todesangst gegenseitig. Doch ihrem Todesurteil konnten sie nicht entgehen und beide wurden am 8. April 1943 im Berliner Gefängnis Plötzensee hingerichtet. Gleichfalls wie im Roman konnten Anna und Otto Quangel ihre Hinrichtung nicht verhindern. Heute erinnert eine Gedenktafel in einem neu gebauten Wohnhaus in der Amsterdamer Straße 10 in Berlin-Wedding an das Ehepaar Hampel.

Erst sechzig Jahre nach seiner Veröffentlichung erregt „Jeder stirbt für sich allein“ große internationale Aufmerksamkeit in der literarischen Welt. Eine ungekürzte Neuausgabe bringt im Jahr 2011 der Aufbau Verlag auf den Büchermarkt. In der Erstausgabe im Jahr 1947 wurde durch den frisch gebackenen Aufbau Verlag das 17. Kapitel aus politischen Gründen nicht komplett publiziert. In der Sowjetischen Besatzungszone hatte man keinerlei Interesse die Mitgliedschaft der Heldin – Anna Quangel - in der NS-Frauenschaft zu betonen.

Die Frage warum gegenwärtig der Roman weltweit auf große Resonanz stößt und warum er in Deutschland wieder entdeckt wurde, existieren mehrere Erklärungen: Falladas Beleuchtung des Kampfs einfacher Berliner/innen gegen das NS-Regime in „Jeder stirbt für sich allein“ erweckt zunächst die Aufmerksamkeit des französische Verlag Denöel und publizierte den Roman 2002 unter dem Titel „Seul dans Berlin“. Gefolgt vom US-amerikanischen Verlag Melville House, der ihn sieben Jahre später mit dem Titel „Every Man Dies Alone“ auf den Markt brachte. Nicht zu unterschätzen für die Gründe des heutigen Erfolgs des Romans ist das in den letzten Jahren neu entstandene, kosmopolitische Bild der Hauptstadt Berlin und deren Faszination weltweit.

 

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