Das Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland nach 1945
Von Markus Nesselrodt
Jede Generation stellt ihre eigenen Fragen an die Vergangenheit. Im Falle der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus erleben wir seit einiger Zeit, wie die vierte und fünfte Generation heranwächst und ihre Fragen an die Zeit von 1933-1945 finden muss. Doch endet das immer wiederkehrende Erschrecken darüber, wie der Faschismus in Deutschland so breiten Zuspruch finden und die Welt in den größten Krieg der Menschheitsgeschichte stürzen konnte, nicht beim Jahr 1945. Das Gegenteil ist der Fall, wie das „Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland“, herausgegeben von Torben Fischer und Matthias N. Lorenz, eindrucksvoll belegt. Das Lexikon stellt sich der Herausforderung, den komplexen Gegenstand der (bundes)deutschen Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte zwischen 1945 und 2002 in übersichtlicher und präziser Form darzustellen.
Die Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945 haben die Herausgeber in sechs Zeitabschnitte unterteilt. Unterhalb dieser Einteilung finden sich wiederum drei bis vier thematische Kapitel, die zeittypische Diskurse um den Nationalsozialismus bündeln und schließlich die jeweiligen lexikalischen Einträge. Diese haben einen Umfang von ein bis vier Seiten und schließen mit einer kurzen Liste verwendeter und weiterführender Literatur ab.
Wer sich mit Themen wie Erinnerungskultur(en) und Vergangenheitspolitik beschäftigt, mag etwas verwundert sein angesichts des Reizwortes „Vergangenheitsbewältigung“ im Buchtitel. Der nahe liegenden Kritik, der aus der Psychologie stammende Begriff erwecke den Eindruck, die Vergangenheit lasse sich endgültig bewältigen, haben die Herausgeber nichts entgegenzusetzen. Dass sie dennoch den etwas irreführenden Terminus im Titel des Lexikons verwenden, begründen sie mit dem Fehlen eines präziseren Begriffes. Natürlich, so Fischer und Lorenz weiter, lasse sich die Vergangenheit nicht „bewältigen“ und im Sinne einer „Enttraumatisierung“ abschließen, doch umfasse der Begriff ungleich mehr Ebenen als beispielsweise die verwandten Bezeichnungen wie Erinnerungs-, Vergangenheits- oder Geschichtspolitik. Akzeptiert man diese Bezeichnung aber erst einmal als „behelfsmäßigen Oberbegriff“ (Fischer / Lorenz) eröffnet sich eine wahre Schatztruhe an Informationen.
In seinem Vorwort weist der Frankfurter Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik zurecht darauf hin, dass „Erfahrungen, Erinnerungen und Erzählungen nur bedingt ein Eigenleben [führen], als kulturelle Konstrukte mit Wahrheitsanspruch sind sie allemal darauf angewiesen, von sich erinnernden und erzählenden Menschen je und je wieder aufgerufen, debattiert, umgedeutet, umgeschrieben und neu erzählt zu werden.“ (9) Die Deutung der NS-Vergangenheit Deutschlands nimmt sich hierbei natürlich nicht aus. Sie unterlag seit 1945 diversen Veränderungen, Umformungen und Richtungsänderungen, deren Effekte wir heute in unterschiedlichem Maße beobachten können. Im internationalen Vergleich, beispielsweise mit Russland, Kambodscha oder Spanien, nehme die deutsche Auseinandersetzung mit der eigenen NS-Geschichte eine herausragende Rolle ein, so Brumlik. Um zu verstehen, wie es dazu kam, dass etwa die Nachfahren der Täter ein Denkmal zum Gedenken an die ermordeten Juden Europas im Zentrum ihrer Hauptstadt errichten, ist die Kenntnis der vielschichtigen Diskurse zum Nationalsozialismus nach 1945 unverzichtbar. Warum derartige (vergangenheitspolitische) Diskurse seit nunmehr über sechs Jahrzehnten nach Kriegsende noch immer virulent seien, begründet Brumlik mit der engen Verflechtung von NS-Verbrechen und persönlicher Verantwortung eines großen Teils der deutschen Bevölkerung am Massenmord. Fast jede Familie in Deutschland sei auch in der vierten und fünften Generation in irgendeiner Weise persönlich verbunden mit den NS-Täterinnen und –tätern. Es ist deshalb besonders der individuelle Bezug zur eigenen Vergangenheit, der einem Lexikon wie dem vorliegenden seine Berechtigung verleiht. Wer verstehen will, was die deutsche Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte beeinflusst hat (und es weiter tut), bekommt mit diesem Nachschlagewerk ein Werkzeug an die Hand.
Ein herausragendes Merkmal des Lexikons der Vergangenheitsbewältigung liegt in der Wissensvermittlung und somit –weitergabe an jüngere Generationen von Wissenschaftler/innen, Studierenden und Schüler/innen. Mithilfe der vorliegenden Wiedergabe prägender zeitgenössicher Debatten können die Leser/innen verstehen, wodurch unsere Erinnerungs- und Gedenkkultur in den vergangenen Dekaden geprägt wurde. Dabei legten die Herausgeber bewusst Wert darauf, sowohl bedeutendere als auch weniger wirkungsmächtigere Diskurse zu berücksichtigen. Einziger Wermutstropfen des Lexikons ist das komplette Fehlen der DDR-Diskursgeschichte. Diese in vielerlei Hinsicht abweichende Auseinandersetzung mit dem NS-Erbe auf der anderen Seite des Eisernen Vorhanges hätte mit Sicherheit eine aufschlussreiche Ergänzung bedeutet. Schließlich haben auch die in der DDR geführten Debatten ihre Spuren in der Gegenwart hinterlassen. Vielleicht entsteht ja in Zukunft ein Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in beiden deutschen Staaten nach 1945. Zu wünschen wäre es.
Die Rezension wurde erstmals abgedruckt in Einsicht 05 – Bulletin des Fritz Bauer Instituts, Frühjahr 2011, S. 94-96. Mehr Informationen zur Zeitschrift erhalten Sie auf der Webseite des Instituts.
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- 11 Mai 2011 - 08:44