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Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Gudehus, Christian/Eichenberg, Ariane/Welzer, Harald: Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Verlag J.B. Metzler, Stuttgart (2010) 364 Seiten, 49.95 €.

Ingolf Seidel

Das Interesse der Menschen richtet sich seit Anbeginn auf das das „Gedächtnis als basales Organ und die Erinnerung als zentrale Fähigkeit“ (S. VII). Im Zuge der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus hat die Gedächtnis- und Erinnerungsforschung in den vergangenen drei Jahrzehnten einen zunehmend zentraleren Stellenwert bekommen und, wie Harald Welzer es formuliert, „eine beispiellose Konjunktur erlebt“ (S.1). Verantwortlich dafür ist nicht alleine der wachsende zeitliche Abstand und die Schwierigkeit direkte Zeitzeugen des Nationalsozialismus zu befragen. Insgesamt scheint die abnehmende Linearität von Lebensläufen in den spätkapitalistischen Gesellschaften und der damit einhergehende Bruch mit Traditionen eine fortschreitende Selbstvergewisserung von Individuen und Kollektiven nach sich zu ziehen. Die wachsende wissenschaftliche Beschäftigung mit Gedächtnis und Erinnerung resultiert auch aus einer veränderten Sicht auf Geschichte, bei der jene als ein Gewordenes, also ein Konstrukt erkannt wird, dem sich aus verschiedenen Perspektiven angenähert werden kann. Auch wenn sich Gedächtnis und Erinnerung nicht alleine und unmittelbar an die Pädagogik richtet, ist es doch evident, dass historisches Lernen und die Auseinandersetzung mit Gedächtnis und Erinnerung einen engen Zusammenhang bilden.

Das Gedächtnis als ein soziales Phänomen legt eine interdisziplinäre Herangehensweise nahe. Gedächtnis und Erinnerung versteht sich darin als „Ausdruck einer gegenwärtigen Bestandsaufnahme und Neuformierung des Forschungsfeldes kollektiver Erinnerung.“ (S. 91)

Die vorliegende Arbeit gliedert sich in vier Großkapitel. Eingangs werden in „Grundlagen der Erinnerung“ Gedächtnissysteme aus medizinischer Sicht beschrieben und die Erkenntnisse der Neurowissenschaften skizziert. Daran schließt sich die Darlegung der Geschichte der „Psychologie des Erinnerns“ (S. 22) an, denn vor allem für die Psychoanalyse ist Gedächtnis eine zentrale Kategorie. Es ist erst die Kategorie des Gedächtnisses, die es einen Zugang zum Begriff des Unbewussten erlaubt.

Die Fragestellung „Was ist Gedächtnis und Erinnerung“ öffnet das Feld in Richtung der unterschiedlichen Formen von Gedächtnis als „Aufbewahrungsort aller Erinnerungen“. Die möglichen Irrtümer des autobiografischen Gedächtnisses zeigen dessen sozialen Konstruktcharakter auf, der ausgehend von Maurice Halbwachs’ Theorie kollektiver Erinnerung diskutiert wird.

„Medien des Erinnerns“, lautet die Überschrift des dritten Kapitels. Medien sind als vermittelnde Systeme zwischen den „individuellen und kollektiven Dimensionen von Gedächtnis und Erinnerung“ (S.127) anzusehen. Die Funktion von Medien – als Gedächtnismedien - ist längst nicht auf die reine Vermittlung beschränkt. Sie strukturieren, bilden, prägen den Inhalt mit und schaffen vielfach Sinn, der sich in die verschiedenen Formen des Gedächtnisses einschreibt. Der in diesem Kapitel entfaltete kulturwissenschaftliche Fächer spannt sich von der antiken Skepsis gegenüber der aufkommenden Schrift als dem Gedächtnis und der geistigen Entwicklung abträglich, über die „Gedächtniskunst“ (S.136). Er umfasst die Printmedien bis hin zu den modernen Medien Film, Fernsehen und dem Internet, dem mit seinen „partizipativen Möglichkeiten“ mit seinen flüchtigen Speichermedien eine gewichtige Funktion für die Ausdifferenzierung und Individualisierung von Erinnerungskulturen zugemessen wird, dessen emanzipatorische Funktion allerdings durch „ökonomische Zwänge und gesellschaftspolitische Machtverhältnisse“ beschränkt bleiben. Eine Sonderrolle innerhalb der Gedächtnismedien spielen die Erinnerungsorte, da sie vor allem für eine „normative[...] Identitätsstiftung“ (S.128) genutzt werden.

Das abschließende Kapitel „Forschungsgebiete“ verdeutlicht noch einmal die Interdisziplinarität des Ansatzes von Gudehus, Eichenberg und Welzer. Es verwundert nicht, dass Geschichtswissenschaft und Philosophie in der Rekonstruktion von Vergangenheit und im Nachdenken über Erinnerung ein zentraler Stellenwert zukommt, der seinerseits weit in die Vergangenheit reicht. Ähnliches gilt für die Literaturwissenschaften, die im Zuge des „Erinnerungsbooms“ (S. 249) der 1980er und 90er Jahre maßgeblich zur Erforschung von kollektiver Erinnerung beigetragen haben. Doch auch jüngere Disziplinen, wie die Geschlechterforschung haben das Feld geweitet, da die individuelle wie die kollektiv-kulturelle Erinnerung eine „Grundlage der Analyse der sozialen Konstruktion von Geschlecht darstellt“. (S.324)

Mit Gedächtnis und Erinnerung haben Gudehus, Eichenberg und Welzer eine fulminante Sammlung von Aufsätzen vorgelegt, die für lehrende Praktiker/innen, wissenschaftlich Arbeitende und Studierende inspirierend sein kann. Ein gutes Sachregister, eine angenehm knappe Auswahlbiographie und Adressen zentraler Forschungsinstitute runden das sehr gute Gesamtbild ab. 

 

 

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