Zwischen Zählebigkeit und Zerrinnen - Nationalgeschichte im Schulbuchunterricht in Ostmitteleuropa
Von Markus Nesselrodt
Wie wird Nationalgeschichte im schulischen Unterricht in Deutschland, Polen und Tschechien vermittelt? Der am Georg-Eckert-Institut entstandene Sammelband stellt die Frage in den Vordergrund, „wie Schulcurricula und Schulbücher in Ostmitteleuropa mit dem Nationalstaat umgehen, wie viel 'Gefühl' sie noch transportieren, wie viel 'Imaginäres' sie dem Lerngegenstand zuschreiben“ (S. 8).
In den meisten Ländern Europas stehe die Nation noch immer im Mittelpunkt des historischen Lernens. Folglich blicke der Geschichtsunterricht auch aus nationalstaatlicher Sicht auf die Vergangenheit. Diesen Schluss legen zumindest die zahlreichen empirischen Studien nahe, welche die Autor/innen des vorliegenden Bandes in ihren Beiträgen auswerten. Die Texte präsentieren Schulbücher, welche die Geschichte der jeweils eigenen Nation wie eine Autobiografie lesbar machen wollen – bei gleichzeitiger Ausblendung anderer Perspektiven (S. 8). Diese Verengung der komplexen Geschichte(n) auf eine „nationale Meistererzählung“ ist nur bei einem Teil der untersuchten Geschichtsbücher zu finden. Ebenso gibt es zahlreiche Versuche, nationale Sichtweisen und Stereotypen aufzuzeigen und zu hinterfragen. Allerdings weichen der Erfolgsgrad und die Zugangsweise dieses Reflexionsprozesses von Land zu Land stark voneinander ab (S. 9).
Deutsche Geschichtsbücher stellen in vielerlei Hinsicht einen Sonderfall dar. Die Nation und die nationalstaatliche Sicht auf die eigene Geschichte als Leitmotiv des Geschichtsbuches sind seltener zu finden als in anderen Ländern Europas. Das hat auch dazu geführt, dass „heikle“ Ereignisse - beispielsweise in der deutsch-polnischen Geschichte wie der „Kampf um Danzig“ oder die „Volksabstimmungen in Oberschlesien“ - aus den Schulbüchern gestrichen wurden. Ein Vorgang, der entweder als fragwürdiger Trend zur Homogenisierung zwischenstaatlicher Beziehungen oder aber als begrüßenswertes Indiz für das Verschwinden der nationalgeschichtlichen Perspektive auf die europäische Geschichte gedeutet werden kann (S. 9).
Letzteres wäre eine wünschenswerte Entwicklung. Schließlich komme allen EU-Bürgern, die den Geschichtsunterricht ihres Landes besuchten, die gleiche politische Verantwortung zu, so Herausgeber Robert Maier. Wie soll man schließlich Verständnis für eine europäische Perspektive in aktuellen Fragen entwickeln, wenn nie gelernt wurde, die nationalgeschichtliche Sicht zu überwinden? Aus diesem Grund schlagen die Autor/innen in ihren Beiträgen vor, in der Schule weiterhin daran zu arbeiten, „die vergangenen nationalen Identitätsbildungsprozesse in ihrer Genese, historischen Bedingtheit, Zufälligkeit und Künstlichkeit kennen zu lernen und zu reflektieren, und zwar nicht nur die eigenen, sondern auch die der 'Anderen'“ (S.10). Erst wenn diese Entwicklung in Gang gebracht werde, z.B. durch den schulischen Geschichtsunterricht, können die Vorstellungen von vorgeblicher nationaler Andersartigkeit ins Wanken gebracht und durch neue Identitätsbildungsprozesse ersetzt werden, so Maier.
Im ersten Teil des Bandes werden die Curricula des Geschichtsunterrichts in Deutschland, Polen, Tschechien und Frankreich vergleichend vorgestellt. Der folgende Hauptteil widmet sich dann jeweils länderspezifisch einzelnen Themen und Perspektiven der nationalen Geschichtsbücher. So untersucht Tobias Weger den sich wandelnden Blick auf das 20. Jahrhundert in tschechischen Schulgeschichtsbüchern. Krzysztof Ruchniewicz stellt Staat und Gesellschaft als konkurrierende Motive nationalgeschichtlicher Betrachtung in polnischen Schulbüchern für Geschichte und Politik vor. Das gleiche Spannungsverhältnis analysiert Ursula Becher in ihrem Beitrag über deutsche Schulbücher. Weitere Beiträge untersuchen die Darstellung Polens und Tschechiens in deutschen Schulpublikationen. Der Hauptteil des Sammelbandes wird abgerundet durch drei Beiträge über die Vermittlung der Nationalgeschichte in französischen, belarussischen und slowakischen Geschichtsbüchern.
Im dritten Teil des Bandes zur Didaktik versucht Bodo von Borries, einige Thesen für einen reflektierten Geschichtsunterricht über Nationen und ihre Geschichte zu formulieren. Ausgangspunkt für von Borries ist eine empirische Studie aus 27 europäischen Ländern, für die Neuntklässler/innen nach ihren Einstellungen zum Thema Nation befragt wurden. Eine Mehrheit der befragten Jugendlichen sieht Nationen als überzeitliche „natürliche Einheiten“ an, als ein Gruppenkonzept, welches nicht hinterfragt werden müsse. Genau hier setzt von Borries an. Er schlägt vor, dass der Geschichtsunterricht Schüler/innen dabei unterstützen müsse, historische Identitätsbildungsprozesse von Kollektiven zu analysieren. Dazu seien Multiperspektivität, Kontroversität und Pluralität in Hinblick auf das Heranziehen verschiedener Quellen und wissenschaftlicher Positionen zu einem Thema notwendig. An vier Beispielen – Ungarn, Siebenbürgen, Danzig und Pennsylvanien – zeigt von Borries, wie mittels Quellenarbeit Reflexion und Selbstkritik der eigenen Denkweise in der historischen Arbeit geübt werden kann. Von Borries weist schließlich zu Recht darauf hin, dass man von „ein paar Stunden Geschichtsunterricht mit einigen ungewöhnlichen Einsichten über Historizität, Kontingenz und Relativität des Nationskonzepts […] keine Wunderdinge erwarten“ (S. 310) dürfe. Doch wenn der Geschichtsunterricht zumindest die Prozesse aufzeigt und kritisch reflektiert, wie Gruppen sich formieren und voneinander abgrenzen, sei schon ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung unternommen, so von Borries.
Der Sammelband regt in vielerlei Hinsicht zur weiteren Reflexion an. Durch seine internationale Ausrichtung werden verschiedene Perspektiven auf das Thema „Nation im Geschichtsunterricht“ aufgezeigt und analysiert. Es wäre sicher anschaulicher gewesen, wenn weitere praktische Unterrichtsbeispiele Einzug in den Band gefunden hätten. Zudem werden die zentralen Kritikpunkte am nationalgeschichtlichen Unterricht recht schnell deutlich herausgestellt und anschließend etwas zu häufig wiederholt – sicher ein Umstand, der dem Konzept eines Sammelbandes geschuldet ist. Ungeachtet dieser kleinen Einschränkungen bietet das Buch eine Fülle interessanter Anregungen für die Unterrichtspraxis und die kritische Arbeit mit Geschichtsbüchern.
Ein weiterer Band des Georg-Eckert-Instituts bietet eine detaillierte Analyse der Darstellung der Revolutionsjahre 1968 und 1989 in deutschen und tschechischen Schulbüchern. Lernen aus der Geschichte hat eine Rezension des Buches auf dem Portal veröffentlicht.
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- 15 Mär 2011 - 22:06