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Von Prof. Dr. Birgit Wenzel
In seinem interessanten und empfehlenswerten Roman „Schatten des Wahns. Stachelmanns dritter Fall“, lässt der Autor und Historiker, Christian von Ditfurth, seinen Protagonisten Stachelmann sagen: "Wer ist der Hauptfeind des Historikers? Der Zeitzeuge." Die Figur ist, wen wundert´s, ebenfalls Historiker.
Hier wird in einem Romanzusammenhang etwas auf den Punkt gebracht, was innerhalb der Zunft der Historiker/innen durchaus gedacht und zum Einwand erhoben wird. Zu den methodischen Problemen der Oral History gehören vor allem die Subjektivität der vermittelten Erfahrungen und Deutungen, die fehlende Repräsentativität, die zeitliche Distanz zwischen Erleben und Erzählen, die mögliche Beeinflussung der Interviewten durch die Befragungssituation, die Fragetechniken u.v.a.m.
Wenn man bedenkt, was unter Oral History zu verstehen ist, kann man das durchaus nachvollziehen. Oral History kann man als historische Methode definieren, bei der mündliche Interviews geführt und aufgezeichnet werden, in denen Menschen etwas über die Vergangenheit erzählen, die sie selbst miterlebt haben, um Tatsachen und Ereignisse, aber auch Einstellungen und Werthaltungen zu sammeln und auszuwerten (vgl. Geppert 1994,312).
Lutz Niethammer, der in Deutschland viel zur geschichtswissenschaftlichen Arbeit mit der Oral History beigetragen hat, verweist in einem Radio-Interview mit dem Bayerischen Rundfunk 2006 darauf, dass diese Forschungsmethode nicht nur sehr aufwändig sei, sondern sich nur dort lohne, wo man keine anderen Quellen habe. Diese Einschränkung führt er auf die Eigentümlichkeiten menschlicher Erinnerungen zurück, die viel mit Gefühlen und Bildern, aber weniger mit „Richtigkeitskriterien“ zu tun hätten.
In der Tat muss man sich, arbeitet man mit aufgezeichneten Interviews oder führt man sie selbst mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, im Vorfeld mit Prozessen menschlicher Wahrnehmung, Speicherung und Erinnerung auseinander setzen. Es fängt mit der selektiven Aufmerksamkeit an, mit der wir eingeschränkt wahrnehmen, schon hier gibt es die ersten Lücken und subjektiven Färbungen. Es geht weiter mit den Speicherleistungen unseres Gehirns, das versucht, das Erlebte und Wahrgenommene als „Ganzes“ und als eine logische Sinneinheit zu speichern. Hier werden Lücken „sinnvoll“, d.h. aus der Sicht des Individuums, aufgefüllt und durch Wertmaßstäbe, die es prägen, beurteilt. Schließlich das Erinnern und das Erzählen. Auf unserer „Festplatte“ ist nicht alles und das Vorhandene nicht gleichermaßen verlässlich vorhanden und abrufbar. Es gibt Details, die uns noch zu 100 Prozent in Erinnerung sind oder zu sein scheinen, anderes ist nur noch schemenhaft oder in Ausschnitten verfügbar. Hinzu kommt, dass sich spätere und zusätzliche Erfahrungen, Urteile, aber auch Informationen von außen über das früher Erlebte und Erinnerte legen. Sie färben die Erinnerungen um und so geraten Erzählungen über die Vergangenheit zu einem Geflecht von persönlicher Geschichte, von Fakten, von Gefühlen und Deutungen, von Schlussfolgerungen, Erfundenem, Verdrängtem und somit nicht Erzähltem und anderem mehr. (Vgl. Singer 2000)
Diesen Einwänden bzw. „Achtung-Schildern“ könnte man noch weitere hinzufügen, sie sollen nun aber keineswegs in ein Plädoyer gegen Zeitzeugengespräche und die Methode der Oral History münden. Bevor von Schlussfolgerungen für die Bildungsarbeit zu sprechen ist, müssen auch die Vorteile und Chancen eines Zeitzeugengesprächs mindestens angerissen werden.
Wenn es in der Beschäftigung mit Geschichte um den Menschen geht, darum, wie Menschen gelebt, genauer, wie sie gewohnt, was sie gearbeitet und geglaubt haben, welche Ordnungen sie sich gegeben haben, was sie wann und warum verändert haben, wie sie gekämpft oder gelitten haben, dann müssen in der Auseinandersetzung mit Geschichte auch Geschichten von Menschen vorkommen. Diese sollten, wenn möglich, auch durch die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen selbst verfasst oder mündlich erzählt sein. Zwischen den Vermerken in Akten oder Verzeichnissen und der selbst erzählten Geschichte aus einem Leben liegen Welten, die nicht immer zur Deckung kommen, aber gut zum Fragen und Untersuchen genutzt werden können. Persönliche, erzählte Geschichten bringen Zusammenhänge, Einzelheiten und Facetten – gerade aus der Alltags-, der Mentalitäts-, der Kultur- und Lokalgeschichte – zutage, die in z.B. Akten oder Geschichtsbüchern eben nicht zu finden sind. Gespräche mit Menschen über (ihre) Geschichte zeigen, dass unsere Geschichte/n einen Teil unser Persönlichkeit und unserer Identität ausmachen und die Subjektivität wird zur Stärke der Methode.
Gerade unterschiedliche Erzählungen bringen zum Ausdruck: Es gibt nicht „die Geschichte“. Je nach Familienprägung, Geschlecht, Ethnie, Religion und vielen anderen Faktoren erleben und bewerten wir Ereignisse unterschiedlich. Diesen Differenzen können wir nachgehen, sie vergleichen, und – das ist bedeutsam – uns selbst positionieren und orientieren. In Zeitzeugengesprächen können besonders die Emotionen und die Bewertungen, mit denen die Erzählenden berichten, nicht nur spannend, sondern aufschlussreich sein und das Wissen über die Vergangenheit ergänzen, ein vollständigeres Bild entstehen lassen. Zudem wird Geschichte in die Gegenwart geholt, wird befragbar, wenn ein Mensch im Interview gegenüber sitzt. Die Situation ermöglicht und befördert genau das, was für Bildungszusammenhänge erstrebenswert ist: Lernende stellen eigene Fragen und werden selbst forschend aktiv. Fremdverstehen, Empathie, Mitgefühl, ein toleranter Umgang auch mit Andersdenkenden oder anderen Generationen können im Idealfall eingeübt werden. Sie stellen sich jedoch keinesfalls automatisch oder verlässlich ein. Dabei geht es nicht um ein Übernehmen der Sichtweisen oder gar ein Überwältigtwerden, sondern um ein Wahrnehmen, Überprüfen und Einordnen und zugleich ein Bewusstwerden eigener Erfahrungen, Positionen und Werte.
Für die Anwendung von Zeitzeugeninterviews in Bildungszusammenhängen lässt sich schlussfolgern:
- Lernende sollten um die Probleme der Methode und des menschlichen Erinnerns wissen.
- Sie sollten auch die wesentlichen Vorteile und die Regeln der Methode kennen.
- Lehrende müssen die Zusammensetzung der interviewenden Gruppe kennen und einschätzen, welche Gesprächspartner/innen und welche Themen fruchtbar werden können; ein Interview soll nicht zum Schlagabtausch oder zum Abarbeiten eines Feindbildes geraten.
- Ein Gespräch muss gut vorbereitet und verabredet sein (Setting, Thema, Fragen ...) und sollte auf jeden Fall aufgezeichnet werden.
- Einem Zeitzeugen, einer Zeitzeugin ist mit Respekt zu begegnen, die persönliche Geschichte ist als solche mit ihrer individuellen Perspektive und Bewertung für ernst und gültig anzusehen. Es erfolgt also z.B. keineswegs während des Interviews eine Dekonstruktion des Erzählten oder des Erzählenden.
- Das Gespräch und die Aufzeichnung müssen gründlich ausgewertet werden. Dazu gehören eine quellenkritische Betrachtung und Interpretation der Aussagen, Ergänzungen und Vergleiche mit anderen Quellen und Darstellungen, evtl. mit anderen Perspektiven und Deutungen, aber auch die Frage, was das Interview für die Einzelnen erbringt, anstößt oder verändert.
Die Chancen, von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen über bedeutsame oder auch alltägliche Ereignisse in der Geschichte und ihre Erlebnisse, ihre Wertungen zu hören und zu sprechen, sollten also unbedingt genutzt werden. Letztlich ist nur ein kleiner Teil der (Zeit-) Geschichte über persönlich berichtete Erfahrungen zugänglich (z.B. zur DDR- und BRD-Geschichte und zur Zeit noch zum Nationalsozialismus). In vielen Städten wie Berlin, Hamburg oder Köln gibt es mittlerweile Zeitzeugenbörsen, die Kontakte vermitteln oder Veranstaltungen anbieten.
Videografierte Interviews (z.B. zu Nationalsozialismus und Holocaust) können ebenso und für gezielte Themen oder Fragestellungen, vor allem zur Zeit des Nationalsozialismus, herangezogen und nutzbar werden, obwohl es hier zu keiner direkten Begegnung kommen kann.
Eigene Erfahrungen und die mit Studierenden in Projekten zeigen: Erzählende Zeitzeuginnen und Zeitzeugen üben oft eine Faszination aus, wenn sie authentisch aus ihrem Leben berichten. (In Ausnahmefällen ist zu spüren, dass eine vorbereitete und gestylte Geschichte gleichsam abgespult wird.) Es ist ein Privileg, in ein Leben und seine Erinnerungen eingeladen zu werden, nicht, um Daten oder Fakten zu erfahren, sondern um Verarbeitungsformen von Geschichte kennenzulernen. Schließlich wird deutlich: Geschichte prägt uns und Geschichte wird von Menschen gemacht und Erinnerung ist keine Sentimentalität, sondern eine Aufgabe für die Gegenwart und die Zukunft.
Zusammengefasst kann die Zeitzeugin, der Zeitzeuge sehr wohl ein guter, d.h. ein kritischer und kritisch zu begleitender Freund der Historiker/innen und derjenigen, die sich in Bildungszusammenhängen mit Geschichte beschäftigen, sein.
Literatur
Alexander C. T. Geppert: Forschungstechnik oder historische Disziplin? Methodische Probleme der Oral History, in GWU 1994, H. 5, S. 303-23.
Singer, Wolf: Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen. Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft. Eröffnungsvortrag des 43. Deutschen Historikertags am 26.9.2000 in Aachen.
Zum Weiterlesen
Materialien für die Bildungsarbeit, die sich mit dieser Thematik beschäftigen, zu Zeitzeugengesprächen anleiten und Interviews eingebettet dokumentieren vgl. die Handreichung „Opposition und Repression in der DDR. Zeitzeugeninterviews – Informationen – Dokumente. Eine multimediale Arbeitsmappe“ von Astrid Rose und Birgit Wenzel.
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- 30 Jan 2012 - 21:08