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Eine Zumutung? Das öffentlich zugängliche Videoarchiv am Holocaust-Denkmal

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Dr. Daniel Baranowski, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Lennart Bohne und Daniel Hübner, studentische Mitarbeiter der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas
Von Daniel Baranowski, Lennart Bohne und Daniel Hübner

Seit September 2009 gehört ein Videoarchiv zur Ausstellung im Ort der Information unter dem Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Wie reagieren die Besucher/innen darauf? Welche Möglichkeiten der Auseinandersetzung bieten sich durch dieses öffentliche Angebot?

Von der Vergangenheit zur Gegenwart: Das Zeugnis

Am Ende ihres Rundgangs durch die Ausstellung erreichen die Besucher/innen das Videoarchiv und betreten damit einen Ausstellungsbereich, der einen Bogen von der Vergangenheit in die Gegenwart spannt.

Direkt neben der Eingangstür erwartet sie ein Zitat von Walter Frankenstein, der den Holocaust zusammen mit seiner Frau und seinen Kindern im Versteck überlebt hat: »Ohne meine Gattin hätten wir nicht überlebt. Sie war der Motor für alles, was wir taten; sie war die, die die Familie zusammengehalten hat, und sie war die Kämpferin in der Familie. Ihr Wunsch war es, unsere Geschichte zu erzählen, um es der neuen Generation möglich zu machen, von der Zeit, in der wir gelebt haben, etwas zu erfahren. Leider kann sie heute nicht mehr hier sein, deswegen spreche ich auch für sie.«

Für viele Besucher/innen hat dieses Zitat einen verstörenden Charakter, eröffnet es doch eine ungewohnte Sicht. Walter Frankenstein spricht nicht von historischen Ereignissen, sondern von der Dimension, die das Erzählen der Lebensgeschichte vor der Kamera für ihn hat: Er spricht darüber, was es bedeutet, Zeugnis abzulegen. Flankiert wird dieser kurze Ausschnitt aus einem Interview der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas von einem Bild, das den Interviewten gemeinsam mit seiner Frau zeigt und von der Angabe des Aufnahmejahres und -ortes »Berlin 2009«: Es gibt sie noch, die Holocaustüberlebenden. Diejenigen, die das, was die Besucher/innen beim Gang durch die Ausstellung gesehen haben, am eigenen Körper miterleben mussten, sprechen sie im Videoarchiv an. Manchmal sind es die Angehörigen von Familien, über deren Schicksal an anderen Stellen der Ausstellung bereits informiert wurde.

Ruhe, Konzentration, Behutsamkeit

An der gegenüberliegenden Wand sehen die Besucher/innen auf einer Leinwand einen Menschen, der seine Lebensgeschichte erzählt: Eine ruhige, konzentrierte Aufnahmesituation, eine karge Ausstattung, im Mittelpunkt stehen Stimme und Gesicht des Überlebenden. Viele Besucher/innen sind auch hier verwundert, wenn der Interviewte unter Umständen von einer glücklichen Kindheit, von Jungsstreichen, der ersten Liebe, von der politischen Situation in Israel heute, von Gentechnik, Atomkraft oder Stuttgart 21 erzählt. Die Überlebenden entscheiden selbst, was zu ihrer Lebensgeschichte gehört, deswegen beinhalten die Interviews meist nicht nur die Zeit der Verfolgung – und machen damit umso deutlicher, welchen Bruch der Holocaust im Leben jedes Einzelnen darstellte. Die Besucher/innen setzen sich hin und hören den Erzählungen zu. Aus vereinzelten Befragungen wird deutlich, dass sie die Konzentration auf die konkreten Geschichten Einzelner, die Teil des gesamten Ausstellungskonzeptes im Ort der Information ist, als wohltuend empfinden. Keine Effekte, keine musikalischen Untermalungen, keine nachträglichen Zusammenschnitte des Filmmaterials lenken von den Erzählungen ab, die nur sehr behutsam durch Fragen der Interviewer/innen begleitet werden. Manche Besucher/innen sitzen eine halbe Stunde und länger vor der Leinwand, manche hören sich das gerade laufende Interview bis zum Ende an. Viele berichten davon, dass sie durch die Präsentation des ungeschnittenen Materials erstmals einen Eindruck davon bekommen, wie diese historische Quelle überhaupt entsteht, welche Schwierigkeiten und welche Chancen im Zusammenspiel von Interviewer/innen und Interviewtem liegen.

Zugänge: Personalisierung und europaweite Dimension

Doch gerade aus den Schwierigkeiten dieser Quelle, aus ihrem spontanen Charakter, ihrer Verankerung in der Gegenwart und – ganz banal – der »Tagesform« der Interviewpartner/innen zum Zeitpunkt des Gesprächs, entsteht für das Projekt der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, das sich mit den Videointerviews beschäftigt, die eigentliche Herausforderung: Eine öffentliche Präsentation muss den Besucher/innen Zugänge zu diesem Material ermöglichen und dabei die Geschichte des Einzelnen vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse sichtbar halten. Deswegen setzen sich die Besucher/innen an zehn Computerterminals mit der umfangreichen Datenbank auseinander, in der sie – getreu der zweiten inhaltlichen Konstante, die die gesamte Ausstellung leitet: der europäischen Dimension des Holocaust – Interviews von Überlebenden aus ganz Europa ansehen, anhören und über Transkriptionen, Übersetzungen, Inhaltsverzeichnisse und Lebensläufe sehr genau mit- und nachverfolgen können. Sie suchen in allen Interviews, die die Stiftung ausgewertet hat, nach Orten, Personen und Schlagworten und steuern die Passagen, die sie interessieren, direkt an.

Veränderung unserer Sehgewohnheiten

Die Interviews nicht in die seit 2005 bestehende Ausstellung zu integrieren, ihnen einen (buchstäblich) eigenen Raum zu geben, keine vorgefertigten, leicht konsumierbaren Filmschnipsel anzubieten, die Besucher/innen zur Aktivität, zur Auseinandersetzung mit den Recherchemöglichkeiten der Datenbank anzuregen, den Interviewten zu überlassen, wie und wie lang sie erzählen wollen – all dies mag eine Zumutung für unsere Seh- und Rezeptionsgewohnheiten sein. Doch dem Charakter von Videointerviews als Zeugnissen persönlicher Erlebnisse und historischer Ereignisse ist dies gewiss nicht abträglich.

Für viele Besucher/innen ist es das erste Mal, dass sie mit dieser Quelle, mit diesen Menschen und ihrem Schicksal in Berührung kommen. Manche sind zunächst sehr vorsichtig, zögern, den Raum überhaupt zu betreten. Trotzdem sind durchschnittlich mehrere Hundert Besucher/innen pro Öffnungstag im Videoarchiv zu Gast. Denjenigen, die sich darauf einlassen, wird die fortdauernde Gegenwärtigkeit des historischen Themas deutlich – vermittelt durch die Zeugnisse der Überlebenden.

Das Videoarchiv am Denkmal für die ermordeten Juden Europas kann jeden Sonntag zu den regulären Öffnungszeiten des Orts der Information besucht werden. Ein Sammelband, der bei der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas bestellt werden kann, gibt über Arbeitsweise und Methoden Auskunft.

 

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