Von Hanns-Fred Rathenow
Auch 2010 war nach dem „Super-Gedenkjahr“ 2009 (1849, 1919, 1939, 1949, 1989 etc.) ein Jahr mit vielen Anlässen des (runden) Gedenkens: Das Ende des 2. Weltkrieges mit der Befreiung der Konzentrationslager vor 65 Jahren, die Atombomben 1945 auf Hiroshima und Nagasaki, der 8. Mai 1985 mit der denkwürdigen Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, der vor dem westdeutschen Parlament erstmals von einem Tag der Befreiung sprach; 20 Jahre deutsche Wiedervereinigung nach einer friedlichen Revolution, die wir den Menschen in der DDR zu verdanken hatten – um nur einige Daten zu nennen.
Gesellschaft und Schule haben darauf in mannigfacher Weise reagiert. Gedenken im Zusammenhang mit Nationalsozialismus und Holocaust wird allerdings zumeist mit anderen Formen als mit Freude und Begeisterung assoziiert, wie das etwa mit der Erinnerung an den 3. Oktober 1990 der Fall war. Gedenktage scheinen genau wie das Gedenken eher etwas mit Trauern als mit fröhlichem Feiern zu tun zu haben, jedenfalls dürfte das für Deutsche und ihre Geschichte zutreffen. Der Tag des Sieges über Nazi-Deutschland wurde und wird in den Staaten der Anti-Hitler-Koalition natürlich als V-Day oder V-E Day (Victory in Europe Day) gefeiert, wie ebenso der D-Day (Decision Day), der Tag der Landung der alliierten Truppen in der Normandie, besonders in Frankreich und Großbritannien ein Tag der Freude darüber ist, dass mit dem 6. Juni 1944 das Ende des „Dritten Reiches“ eingeläutet wurde.
Ich erinnere mich gut daran, dass meine Eltern bis weit in die 1950er Jahre hinein vom Zusammenbruch sprachen, und der Tag der Befreiung nur in der Zone (wie man die DDR im Westen zu dieser Zeit nannte) gefeiert wurde. Auf die Perspektive kommt es also an.
Gedenken, aber wie? – eine Frage, der sich Lehrkräfte in der Schule, Teamer/innen in der außerschulischen historisch-politischen Bildungsarbeit, aber auch Akteure in der Zivilgesellschaft gegenübersehen angesichts der erdrückenden Opferbilanzen vor dem Hintergrund der erinnerungspolitischen Debatten, ob Verbrechen der Deutschen, wie etwa der Holocaust, mit denen der Sowjets, Stichwort Gulag, der massenhaften Vertreibung der Deutschen aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße nach dem Zweiten Weltkrieg oder den Opfern des DDR-Unrechts vergleichbar seien. Dass Vergleichen nicht Gleichsetzen meinen kann, sollte Grundlage jeder Auseinandersetzung mit den Diktaturen des 20. Jahrhunderts sein, bei der die Gefahr besteht, dass es schnell zu gesellschaftlich erzeugten, aber zu überwindenden „Opferkonkurrenzen“ und „Opferhierarchien“ kommt. Es ist die Geschichtspolitik, d.h. die Interpretation der Geschichte aus der Perspektive gesellschaftlicher, wirtschaftlicher oder politischer Interessen heraus, die das Entstehen von Opferkonkurrenzen begünstigt.
Lernziel Gedenken ?
In unserer Gesellschaft ist die Auseinandersetzung mit dem Tod eher mit einem Tabu belegt, während Jugendlichkeit und frisches Altern ohne Beschwerden als Werbebotschaften zum gesellschaftlichen Fetisch gehören. Dass in einer solchen Situation der Besuch eines ehemaligen Konzentrationslagers mit jungen Menschen einem erheblich „verunsichernden Ort“ (vgl. Thimm u.a. 2010) gilt, kann nicht verwundern, weil die Annäherung an ihn vor allem mit emotional-affektiven Barrieren und negativer Erinnerung besetzt ist. Schließlich handelt es sich doch in den meisten Fällen um einen Friedhof ungeheuren Ausmaßes. Schon der Terminus „Gedenkstätte“ – in der DDR oft noch erweitert zur „Nationalen Mahn- und Gedenkstätte“ – erhöht den emotionalen Anspruch an die Besucher/innen, sich innerlich einem solchen Ort, der von einer Art „deutschen DIN-Norm des Gedenkens“ (Timothy Garton Ash) beherrscht wird, gesenkten und entblößten Hauptes zu nähern.
Lernziel Gedenken – das war einmal in Zeiten des Zwangs zur Lernzieloperationalisierung. Allerdings ist auch in der Zeit hyperventilierender Kompetenzdebatten ein gewisses moralisches Erinnerungsgebot keineswegs verschwunden. Ich glaube, dass wir dies auch den Formen ritualisierten Gedenkens zu verdanken haben, die in den vergangenen Jahrzehnten in Ost wie West den visuellen Diskurs um das „richtige“ Gedenken bestimmten. Willy Brandts Kniefall am Denkmal zur Erinnerung an den Warschauer Ghettoaufstand vor 40 Jahren war in seiner Authentizität und Wahrhaftigkeit als Aufforderung auch an die deutschen Überlebenden des Angriffskrieges nicht misszuverstehen. Und er setzte nicht zu übersehende Maßstäbe auch für die Pädagogik, die sich auf die Fahnen geschrieben hatte, das „Nie wieder“ der Buchenwald-Überlebenden in geeigneter Weise zu vermitteln. Die pädagogische Vokabel „… soll Betroffenheit bei den Schülern erzeugen“ steht für diese Absicht, die eher seltener danach fragte, was denn die jungen Menschen gefühlsmäßig und intellektuell vor, während und nach einem Gedenkstättenbesuch (Vgl. Ehmann/Rathenow 2008) wirklich berührte.
„Gedenken“ ist semantisch assoziiert mit „(sich) erinnern“, „denken an“ und „nachdenken (über)“, Verbformen, die aktive, lebendige Prozesse in den Vordergrund stellen. Sehr oft werden junge Leuten mit Gedenkritualen im Zusammenhang mit Gedenkveranstaltungen konfrontiert, für deren Ablauf Erwachsene verantwortlich zeichnen und denen sie innerlich fremd gegenüberstehen, weil sie ihnen nicht erklärt werden. Welche Formen aber wären „angemessen“ oder für Jugendliche „geeignet“? Lehrer/innen und außerschulische Teamer/innen bewegen sich zwangsläufig auf einem schmalen Grat, weil historisch-politische Bildung einerseits auch damit verbunden ist, junge Leute mit mitmenschlichen Umgangsformen vertraut zu machen, zu denen zweifellos auch das Gedenken gehört. „Gedenken“ andererseits curricular zu einem „verordneten Gedenken“ werden zu lassen und damit die Pädagogisierung des Gedenkens zu befördern, endet mit Sicherheit in kontraproduktiven, weil äußerlich bleibenden Ritualen. Ist doch Gedenken immer mit dem freiwilligen, individuellen Innehalten, dem Erinnern, mit Besinnung und ggf. auch mit Trauern verbunden. Dennoch: Auch Gedenken (können) will gelernt sein, allerdings entzieht es sich dem Zwang zur Operationalisierung und Outputorientierung, obwohl selbstverständlich zum Auftrag einer demokratischen Schule die Vermittlung von Wertmaßstäben, von Haltungen und Überzeugungen gehört, in deren Kontext das Gedenken seinen Platz findet.
Gedenken ist für mich zunächst mit Nachdenken verbunden. Schule und außerschulische historisch-politische Bildungsarbeit sollte daher neben notwendiger Informationsvermittlung („Erziehung über Auschwitz“) jungen Menschen Zeit und Raum zur Entwicklung historischen und politischen Bewusstseins gewähren. Moralische Urteilsfähigkeit im Historisch-Politischen kann nur dort entstehen, wo den Jugendlichen auch die Möglichkeit – die Zeit – gegeben wird, Nachdenklichkeit zu entwickeln. Dabei meint Nachdenklichkeit mehr als nur das rein intellektuelle Nachdenken, das Reflektieren über eigenes oder das historische Handeln anderer. Nachdenklich werden können als zentrales Element von Bildung heißt auch, innezuhalten, sich Gedanken zu machen, frei dafür zu sein, sich emotional von etwas betroffen zu fühlen. Solche Prozesse brauchen Zeit – und Muße. So scheint mir unabdingbar, dass Jugendliche nach einem oft emotional aufwühlenden Gedenkstättenbesuch schöpferische Zeit, eben Muße, dafür haben sollten, im Gespräch erste Eindrücke und Fragen äußern zu können, so dass wir uns der ursprünglichen Bedeutung von Schule, dem griechischen scholé, nämlich Ort der Muße, wieder nähern.
Es ist vor allem die Form des Gesprächs, nicht der Diskussion, die es im Kontext des Gedenkens wieder zu entdecken gilt. Welche Fragen junge Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft über die NS-Zeit haben könnten, sollte Lehrkräfte weniger während der Unterrichtsvorbereitung bewegen als das Problem, Unterrichtsimpulse zu entwickeln, die die Schüler/innen zu mannigfachen eigenen Fragen über die Geschichte veranlassen. Letztlich sind es diese für sie frag-würdigen Sachverhalte, Verhaltensweisen von Akteurinnen und Akteuren in konkreten historischen Situationen, die das Gespräch in der Form des Dialogs zwischen den Beteiligten voranbringen. Erich Frieds "Gespräch mit einem Überlebenden" oder Brechts "An die Nachgeborenen" etwa gäben Anlass zum Nachdenken genauso wie das Gespräch über Produkte künstlerischer Auseinandersetzung der Jugendlichen mit dem in einer KZ-Gedenkstätte Wahrgenommenen oder die Gestaltung von Erinnerungsmomenten (Vergleiche Sie dazu die Seite "Kunst als Zeugnis" des Arbeitskreises Konfrontationen).
Goethe hat in seinen „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ den Wert eines Gesprächs zwischen Menschen und ihren Meinungen als eines „Ortes der Begegnung“ (Birgit Wenzel 2006) betont. In seinem „Märchen“ lässt er die Schlange im Dialog mit dem König auf die Frage, was herrlicher als Gold und erquicklicher als Licht sei, antworten, es sei das Gespräch. So enthalten Gespräche über Geschichte, in denen Jugendliche wache und nachdenkliche Fragen über geschichtliche Zusammenhänge stellen und mehr als nur einfache Antworten finden, immer schon Aspekte, die auch dem Gedenken innewohnen: Wenn Schülerinnen und Schüler etwa Mitgefühl gegenüber den Opfern der fast 1000-tägigen Hungerblockade der Wehrmacht gegenüber der Bevölkerung Leningrads oder moralische Empörung darüber zeigen, dass die in den Auschwitz-Prozessen verhörten Täterinnen und Täter ihre Opfer noch in den 1960er-Jahren verhöhnen durften, dann sind damit weit über die im traditionellen Geschichtsunterricht hinausgehenden und im intellektuell-akademisch kognitiven Bereich verankerten Qualifikationen berührt. Einfühlendes Nachdenken ist immer auch verbunden mit der Frage danach, wie es individuellen Opfern ergangen ist, was sie erlitten haben – ohne dabei die Täter und ihre Motive zu vergessen. Die zahllosen Projekte mit Stolpersteinen oder zur Spurensuche im Kiez legen darüber beredtes Zeugnis ab. In den so genannten Freitagsbriefen des Vereins Kontakte e. V., der sich um die Pflege der Beziehungen zu den Opfern des NS-Regimes in den Staaten der ehem. Sowjetunion, vor allem der Zwangsarbeiter/innen, bemüht, auf der Yad Vashem-„page of testimony“ oder in der vom Instytut Zachodni (Westinstitut) Poznan herausgegebenen 15-bändigen Reihe „Documenta Occupationis“ finden sich in den hier zusammen getragenen Dokumenten der Ausbeutung gegenüber polnischen Zwangsarbeitern und der Unterdrückung Polens geeignete Materialien, die sich in das Bild der rassistisch begründeten Eroberungspolitik fügen. Formen „emotionaler Reflexion“, die sich aus der Bearbeitung solcher Quellen ergeben, gehören für mich zur respektvollen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, dem Gedenken im weitesten Sinne. Das Niederlegen eines Blumenstraußes oder der Vortrag eines Celan-Gedichts in einer KZ-Gedenkstätte können eine solche Beschäftigung mit der Geschichte nicht ersetzen.
Gedenken setzt früher, nämlich schon dort an, wo Jugendliche Gedanken zur Geschichte ihrer eigenen Vor-Vätergeneration bzw. der der Mehrheitsgesellschaft, einer extrem negativen Vergangenheit, entwickeln. Und das kann nur ein aktiver, selbstbestimmter, nicht enden wollender Prozess sein, der gleichberechtigt zwischen den Jungen und den Erwachsenen, sich von Generation zu Generation verändernd, immer wieder neu ausgehandelt werden muss.
Literatur
Ehmann, A./Rathenow, H.-F. (2008): Besuch einer Gedenkstätte. In: Dossier Geschichte begreifen.
Thimm, B./Kößler, G./Ulrich, S. (Hrsg.) (2010): Verunsichernde Orte. Selbstverständnis und Weiterbildung in der Gedenkstättenpädagogik. Frankfurt: Brandes und Apsel
Wenzel, B. (2006): Gesprächsformen. In: Mayer, U./Pandel, H.—J./Schneider, G. (Hrsg.): Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht. Schwalbach: Wochenschau, S. 289-307.
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- 19 Jan 2011 - 10:25