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Über Täterinnen und Täter sprechen

Jana Jelitzki, Mirko Wetzel: Über Täter und Täterinnen sprechen. Nationalsozialistische Täterschaft in der pädagogischen Arbeit von KZ-Gedenkstätten, Metropol Verlag, Berlin 2010, 296 Seiten, 19 €.
Von Ingolf Seidel

Eine Veröffentlichung, die sich mit Täterschaft im Nationalsozialismus beschäftigt ist an sich schon eine Besonderheit. Die Mehrzahl der pädagogischen Ansätze und didaktischen Konzepte in der außerschulischen historisch-politischen Bildung und der Gedenkstättenpädagogik ist bemüht, sich der Geschichte des Nationalsozialismus über dessen Opfer anzunähern. Sowohl aus erinnerungspolitischer Perspektive, als auch in pädagogischer Hinsicht gibt es gewichtige Gründe dafür, die Perspektive der Opfer in die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zentral einzubeziehen.

Dabei besteht allerdings die Gefahr eine Auseinandersetzung mit den Ursachen des Holocaust und der anderen NS-Massenverbrechen aus dem Blick zu verlieren, wenn die Beschäftigung sowohl mit den strukturellen Bedingungen, wie auch mit den Täterinnen und Tätern ausgeklammert wird. An dieser Problematik setzen Jana Jelitzki und Mirko Wetzel mit ihrer vorliegenden Publikation an. Ausdrücklich begreifen sie die Auseinandersetzung mit NS-Täterschaft als „Erweiterung der Perspektive“ (S.14) und nicht als konkurrierendes didaktisches Modell zur Einbeziehung der Opferperspektive oder zur Auseinandersetzung mit den Herrschaftsstrukturen oder der Ideologie des NS-Staates.

Jelitzki und Wetzel greifen die Darstellung von Täterschaft in Ausstellungen der KZ-Gedenkstätten Ravensbrück und Neuengamme auf und fragen nach der diesbezüglichen gedenkstättenpädagogischen Praxis in den beiden Einrichtungen. Das Material dafür beruht im Kern auf Interviews mit den Ausstellungskuratorinnen Simone Erpel und Christl Wickert und mit den Pädagogen Matthias Heyl, Jens Michelsen und Wolf Kaiser, welche die beiden Autor/innen für ihre Arbeit geführt haben. Wolf Kaiser, der in der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz arbeitet, hat in diesem Setting eher die Rolle eines „kommentierenden Experten“ (S. 176), da sich die Pädagogik an einem Ort, der an die Verwaltung des Massenmordes an den europäischen Juden erinnert von manchen Ansätzen innerhalb der KZ-Gedenkstätten unterscheidet.

Aus der Sicht von Jelitzki und Wetzel stellt der Verzicht auf Simplifizierungen und das Zulassen von Komplexität die größte Herausforderung für das historische Lernen dar, denn es gälte zu zeigen wie vielgestaltig, widersprüchlich und nicht linear Geschichte verlaufe (S. 245). Dieser hohe Anspruch ist sicherlich vor allem in der Annäherung an Täterschaft gegeben, wenn diese aufzeigen will, dass die Täterinnen und Täter, ebenso wie Zuschauer/innen und Gleichgültige „aus der Mitte der Gesellschaft kamen und sie in der Gesamtheit einen Durchschnitt der Bevölkerung darstellten.“ (S. 248). Dies führe „weiter zu der Frage, wie die gewöhnliche Weltanschauung dieser Zeit aussah und welche Vorurteilsstrukturen und Feindbilder gesellschaftlich hegemonial waren“, da sonst der Eindruck entstehen könne „die Akteure wären aus reinem Zufall zu Verbrechern und Verbrecherinnen geworden.“ (S. 248f). Für das historische Lernen – nicht nur innerhalb der Gedenkstättenpädagogik - gilt es also den Begriff von Normalität und seine gesellschaftliche Bedingtheit zu reflektieren und aufzuzeigen. In der heutigen Bewertung von Normalität im NS-Staat und der daraus folgenden Verfolgung kann ein Gegenwartsbezug für Jugendliche liegen, der für „diskriminierende Strukturen der heutigen Gesellschaft“ (S. 255) sensibilisiert, so Jelitzki und Wetzel, die ansonsten demokratiepädagogischen Übertragungen gegenüber zu recht skeptisch sind.

Ein methodischer Zugang, der vorgeschlagen wird liegt in der Verbindung von Auseinandersetzung mit Täterbiografien und der Strukturgeschichte, der die Möglichkeit bietet unter Jugendlichen „eine Diskussion über individuelle Tatbeteiligung und Motivationen anzuregen“ (S. 261).

Als Problematiken und Gefahren in der Auseinandersetzung mit NS-Täter/-innen werden im Buch vor allem die distanzlose Übernahme von Täterperspektiven im biografischen Arbeiten und die Faszination der Machtentfaltung genannt. Eine anzustrebende Haltung für die Auseinandersetzung läge zwischen „Distanzierung und Identifikation“, denn die Jugendlichen sollen „die familienbiografischen und gesellschaftlichen Verbindungen, die zwischen ihnen und den nationalsozialistischen Tätern und Täterinnen in den meisten Fällen bestehen, durchaus erkennen.“ (S.262). Um sich einem komplexen Täterbild (S. 234) anzunähern braucht es einen multiperspektivischen Ansatz, der auch die Sicht und Aussagen der Opfer integriert, denn „die Verfolger sprachen selten über ihre Taten“ (S. 265) und quellenkritisch auch die Aussagen ehemaliger Häftlinge untersucht. So kann die subjektive und ausschnitthafte Perspektive der Häftlinge aufgegriffen werden und auch die Handlungsspielräume von Täter/innen angesprochen werden. Dabei können und sollten auch Genderperspektiven untersucht und benannt werden.

Die konkrete Antwort auf die Frage nach einer methodischen Umsetzung kann die vorliegende Studie notgedrungen nur kursorisch beantworten. In Anlehnung an den Ansatz von Saul Friedländer, der eine „integrierte Geschichte des Holocaust“ (S. 273) erzählen will, schlagen Jelitzki und Wetzel vor „Geschichte in Form von Geschichten“ (ebda.) zu erzählen und dazu die unterschiedlichen Perspektiven und Entstehungsgeschichten von Fotos der Ausstellungen zu nutzen, die NS-Täter/innen thematisieren.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass es sich bei „Über Täterinnen und Täter sprechen“ um ein gut zugängliches Buch mit hoher Praxisrelevanz handelt. Die einführenden Kapitel bieten einen Überblick über die in den Fokus genommenen historischen Orte, zur Entwicklung der Forschung zu Täterschaft und zur Entstehung der KZ-Gedenkstätten und nachfolgend zu pädagogischen Konzepten. Der Band bietet nicht nur Gedenkstättenpädagog/innen Anregungen und Reflexionsmöglichkeiten in der eigenen Arbeit. Auch Lehrkräfte, die sich mit komplexen und zeitgemäßen Zugängen zum historischen Lernen über den Nationalsozialismus befassen, können einen Zugewinn aus der Lektüre erhoffen. Ein Manko der Studie wird von Jelitzki und Wetzel selber benannt: Der Fokus auf KZ-Gedenkstätten setzt „eine Art Schräglage in der Erinnerungskultur fort“, nämlich „die Nicht- oder Unterrepräsentation anderer Verbrechenskomplexe, wie beispielsweise der „Euthanasie“ oder dem Massenmord an sowjetischen Kriegsgefangenen.“ (S.15). Für eine Ausweitung der komplexen Sichtweise und für eine integrierte Geschichtserzählung im historischen Lernen wäre noch zu ergänzen, dass eine Thematisierung von Kollaboration und Mittäterschaft in von der deutschen Wehrmacht besetzten oder in scheinbar neutralen Ländern wie der Türkei als Ergänzung wünschenswert wäre.

 

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