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Zwischen Kollaboration, Anpassung und Widerstand

Die Niederlande unter deutscher Besatzung 1940 bis 1945

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Christian Kuck (*1980), Doktorand und Wissenschaftliche Hilfskraft am Zentrum für Niederlande-Studien in Münster/Westfalen. Zuvor Lehramtsstudium (Germanistik, Geschichte, Philosophie) in Münster. Momentan: Dissertation zum Thema ‚Niederländische Zwangsarbeiter in der deutschen Kriegswirtschaft des NS-Staats. 1940-1945‘.

Christian Kuck

Am 10. Mai 1940 überfiel Nazideutschland die Niederlande, die angesichts dieser völligen Überraschung, ungünstiger Verteidigungsbedingungen und der militärischen Übermacht der feindlichen Armee lediglich sehr kurzlebigen militärischen Widerstand leisten konnten.

Nach nur wenigen Tagen währenden Kampfhandlungen, einschließlich der Bombardierung der niederländischen Hafenstadt Rotterdam, kapitulierten die niederländischen Streitkräfte unter General Winkelmann. Die Regierung und das Königshaus waren zu diesem Zeitpunkt bereits, auf Anraten von Militärexperten, außer Landes geflohen, um einer Internierung zu entgehen und den Kampf gegen Deutschland mit Hilfe der Alliierten aus dem Londoner Exil fortzusetzen. Am 18. Mai verfügte Hitler per Dekret, dass die Niederlande fortan eine zivile Verwaltung unter der Leitung des Reichskommissars für die besetzen niederländischen Gebiete, des österreichischen SS-Obergruppenführers Arthur Seyss-Inquart (1892-1946), erhalten sollten.

Erklärtes Ziel des Reichskommissariats war es die weitgehend intakt gebliebenen niederländischen Verwaltungsstrukturen, mittels einer vergleichsweise kleinen Anzahl deutscher Sachverständiger, und damit eindeutig Personal sparender, zu beaufsichtigen und zu lenken. Somit war aber auch klar, dass das Reichskommissariat bei der Ausführung seiner Vorhaben wesentlich auf die prinzipielle Mitarbeitsbereitschaft des niederländischen Beamtenapparats angewiesen sein würde. Die obersten niederländischen Verwaltungs-Funktionäre, die Generalsekretäre der Ministerien, wurden zum zentralen Kettenglied zwischen dem niederländischen Beamtentum und den Verwaltungsstellen der Besatzungsmacht. Die Generalsekretäre, und alle ihre Untergebenen, sollten sich im Interesse der Zivilbevölkerung jeglicher feindseliger Handlungen gegen die Besatzungsmacht enthalten. Nach einer bereits 1937 durch die niederländische Regierung erstellten Liste von ‚Anweisungen‘ für einen eventuellen Ernstfall sollten die Beamten im Rahmen des Zulässigen, bis zu dem Punkt mitarbeiten und im Amt bleiben, an dem ihre Mitarbeit mehr den Besatzerinteressen diene, als der Bewahrung des Wohlergehens und der Unversehrtheit des niederländischen Volkes.

Es kann nicht verwundern, dass sehr viele niederländische Beamte aufgrund des relativ großen Interpretations-Spielraums, den die ‚offene‘ Formulierung dieser Direktive bot, früher oder später in ein kaum aufzulösendes Dilemma gerieten: Blieben sie auf ihrer Position, waren sie oftmals gezwungen, Aufträge auszuführen, die ihren Moralvorstellungen zuwider liefen und der Bevölkerung eher schadeten als nutzten. Verweigerten sie andererseits die Mitarbeit oder reichten sie gar selbsttätig ihren Abschied ein, wurde ihre Position zumeist unverzüglich mit einem Niederländer besetzt, der mit der Besatzungsmacht sympathisierte und deshalb in der Regel dienstbeflissener und reibungsloser für die deutschen Interessen arbeitete. Viele zogen es daher vor, im Amt zu bleiben, um – so die nach dem Krieg oftmals erklärend vorgebrachte Devise – ‚Schlimmeres‘ zu verhindern. Darüber hinaus hätte ihr Ausscheiden aus dem Verwaltungsdienst sie zu Arbeitslosen und somit wiederum zu potentiellen Kandidaten für eine Dienstverpflichtung zum ‚Reichseinsatz‘ in Deutschland gemacht.

Außerdem konnten Beamte auf allen Verwaltungsebenen einen gewissen Beitrag dazu leisten, deutsche Forderungen und Maßnahmen zu verzögern oder abzumildern: Dies geschah beispielsweise durch langsames Arbeiten, Manipulation und Vernichtung von Dienst- und Meldeunterlagen oder das ‚Durchsickern lassen‘ vertraulicher behördlicher Informationen zwecks Warnung der Betroffenen.

Die niederländische Wirtschaft wurde, wie dies auch in den anderen von Deutschland okkupierten Ländern Europas üblich war, sofort nach Besatzungsbeginn massiv für die Zwecke der deutschen Kriegsproduktion eingespannt. Besonders privatwirtschaftliche Unternehmen mit kriegsrelevanten Produktionszweigen und Nahrungsmittelproduzenten erhielten dadurch zahlreiche deutsche Aufträge. Mittels derer konnten sie, zumindest in den ersten Kriegsjahren, nicht nur uneingeschränkt weiter produzieren, sondern darüber hinaus auch relativ ansehnliche Gewinne verzeichnen. Diese profitablen Geschäfte und der ausgesprochene Wille der obersten niederländischen Verwaltungsführer, die niederländische Wirtschaft zwecks Versorgung der Bevölkerung mit sämtlichen Bedarfsgütern und Erwerbsarbeitsplätzen um nahezu jeden Preis am Laufen zu halten, führten zu einer ökonomischen Zusammenarbeit mit Deutschland, die fast bis zum Kriegsende ohne größere Reibungen funktionierte.

Für männliche Niederländer im arbeitsfähigen Alter wurde es spätestens mit Einführung der erweiterten ‚Dienstpflichtverordnung‘ zur Arbeitsaufnahme in Deutschland im März 1942 zunehmend wichtiger, eine Stellung in einem ‚kriegswichtig‘ produzierenden, niederländischen Betrieb zu besitzen, um einer erzwungenen Entsendung nach Deutschland zu entgehen. Die Entsendung arbeitsloser oder beschäftigter niederländischer Männer zum Arbeitseinsatz im Reich oder in einem anderen von Deutschland besetzen Land, die seit März 1942 forciert betrieben wurde, stellte eine greifbare Gefahr für das Gros niederländischer Männer und ihre Angehörigen dar. Verständlicherweise verschärfte diese gesellschaftlich omnipräsente Bedrohung das Verhältnis der Bevölkerung zur deutschen Besatzungsmacht in erheblichem Maße. Solange das Leben des Einzelnen, vornehmlich zwischen 1940 und 1942, trotz Okkupation mehr oder weniger ‚normal‘ abgelaufen war, hatte die überwältigende Mehrheit der Niederländer ideologische Neutralität und eine prinzipielle Bereitschaft zu pragmatischen Kompromissen gepflegt. Diese war selbst durch das Erlebnis der systematischen Entrechtung und des Abtransports ihrer jüdischen Nachbarn in den Jahren 1940/41 nicht signifikant erschüttert worden.

Seit Mitte 1943 entzogen sich immer mehr dienstverpflichtete Arbeitskräfte und Studenten dem Arbeitseinsatz durch das sog. ‚Untertauchen‘ oder schlossen sich, was aber weitaus seltener der Fall war, nationalen Widerstandsgruppen an, deren Organisation und Tätigkeit im Laufe des Jahres zunehmend an Kontur gewann. Die Anschläge auf niederländische und deutsche Dienstgebäude und Vertreter der Besatzungsmacht häuften sich und wurden mit gewalttätigen Maßnahmen von Wehrmacht, SS, Gestapo und anderen Exekutivorganen beantwortet.

Im Herbst des Jahres 1944 trat die Besatzungszeit in ihre letzte, von brutalem Terror und Gewaltmaßnahmen geprägte Phase ein: Vergeltungsaktionen, Inhaftierungen, Erschießungen und die Razzien auf die letzten verbliebenen Arbeitskräfte, die zu zehntausenden Grabungsarbeiten an Verteidigungsanlagen inner- und außerhalb des Landes leisten mussten, prägten den Alltag in den Niederlanden während der Kriegsendphase im Herbst/Winter 1944/45 – eine Periode, die aufgrund der katastrophaler Nahrungsmittelengpässe im bereits teilweise befreiten Land, als ‚Hungerwinter‘ in das kollektive Gedächtnis einging.

In den Niederlanden der Nachkriegszeit wurde die Erinnerung an Krieg und Besatzung innerhalb der Gesellschaft und der Geschichtswissenschaft lange Zeit tendenziell vereinfachend und innerhalb moralischer Kategorien tradiert: Ein Gros ‚guter‘, wahrer Niederländer hatte dem übermächtigen und barbarischen Besatzer tapfer Widerstand geleistet, während ein wesentlich kleinerer Teil ‚schlechter‘ Niederländer (SS-Freiwillige, NSB, der Nationalsozialistischen Bewegung der Niederlande unter Anton Mussert) mit dem Feind kollaboriert hatte. Dieses gesellschaftlich weit verbreitete Selbstverständnis und die ‚moralisierende‘ Geschichtsschreibung, die das Selbstbild in seinen Grundzügen bekräftigte, wichen in den 1980er und 90er Jahren einem differenzierteren und entmoralisierten Blick auf die Niederlande zwischen 1940 und 1945. Heute gilt als Konsens: Die Kollaborateure auf der einen und die Anhänger des organisierten Widerstands auf der anderen Seite bildeten, zahlenmäßig gesehen, die Ausnahme (lediglich ca. 1,1% bzw. 0,5% der Gesamtbevölkerung), während der Großteil der Bevölkerung in der Regel durchaus verschiedene Formen der Anpassung pflegte, die ein ruhiges und relativ sorgenfreies Leben in Kontinuität zur Vorkriegszeit ermöglichen sollten.

 

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