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Die Niederlande unter deutscher Besatzung: Die Rolle von Arthur Seyß-Inquardt

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Dr. Johannes Koll ist Postdoc an der Wirtschaftsuniversität Wien. Er arbeitet derzeit an einer Biographie über Arthur Seyß-Inquart.

Johannes Koll

Im Morgengrauen des 10. Mai 1940 begann der Westfeldzug. Mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Frankreich und die Benelux-Länder trat der Zweite Weltkrieg in eine neue Phase. Für die Niederlande bedeutete dieses Ereignis eine dramatische geschichtliche Zäsur: Hatte das Land im Ersten Weltkrieg noch Neutralität wahren können, wurde es nun fünf Jahre lang einem deutschen Besatzungsregime unterworfen, das im Laufe der Zeit immer brutaler gegenüber jeglicher Opposition auftrat. Gleichzeitig wurde mit erschreckender Gründlichkeit die Deportation von weit über 100.000 Jüdinnen und Juden, die sich zu diesem Zeitpunkt in den Niederlanden aufhielten, in die Vernichtungslager der Nationalsozialisten im Osten Europas organisiert.

Nachdem die niederländische Königsfamilie, Regierung und Parlament schon wenige Tage nach dem Beginn des Westfeldzugs nach London ins Exil geflüchtet waren und von dort aus den Widerstand gegen die deutsche Besatzung organisierten, setzte Hitler in den besetzten niederländischen Gebieten den österreichischen Nationalsozialisten Arthur Seyß-Inquart an die Spitze der Besatzungsverwaltung. Dieser Wiener Rechtsanwalt hatte sich schon im Zuge des ‚Anschlusses‘ Österreichs (1938) für das Dritte Reich ‚verdient‘ gemacht und war nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs knapp ein halbes Jahr lang Stellvertretender Generalgouverneur in Polen gewesen. Nun baute er als Reichskommissar in Den Haag ab Mai 1940 eine nationalsozialistische Zivilverwaltung auf. Für die Betreuung einzelner Ressorts unterstanden ihm vier Generalkommissare, welche die Aufsicht über den niederländischen Beamtenapparat innehatten und in Übereinstimmung mit den Wünschen Seyß-Inquarts die Besatzungspolitik in die Praxis umsetzten. Von besonderer Bedeutung war der Generalkommissar für das Sicherheitswesen Hanns Albin Rauter, der als Höherer SS- und Polizeiführer faktisch über so gut wie alle SS- und Polizeieinheiten auf niederländischem Gebiet verfügen konnte. Als Stellvertreter von Heinrich Himmler in den Niederlanden zeichnete Rauter mit Seyß-Inquarts Rückendeckung verantwortlich für die rücksichtslose Verhaftung von Oppositionellen, für die Internierung von Geiseln, die als Vergeltung für Anschläge von Widerstandsgruppen exekutiert wurden, und vor allem für die systematische Deportation von Jüdinnen und Juden.

Anfangs verfolgte das Reichskommissariat das Ziel, die niederländische Bevölkerung für den Nationalsozialismus zu gewinnen – war man doch allen Ernstes davon überzeugt, dass die Niederländerinnen und Niederländer Teil einer ‚germanischen Rasse‘ seien und wie die deutsche und österreichische Bevölkerung mehr oder weniger von selbst einsehen würden, dass der Nationalsozialismus die geeignete Ideologie für alle ‚germanischen Völker‘ sei. Außerdem wollte die Besatzungsverwaltung der niederländischen Bevölkerung die Möglichkeit einräumen, sich durch eine freiwillige Beteiligung an den Eroberungszügen des Dritten Reiches den Anspruch auf eine privilegierte Position innerhalb des Großgermanischen Reiches zu erarbeiten, das nach dem Ende des Krieges nach nationalsozialistischen Vorstellungen in Europa aufgebaut werden sollte. Doch die überwiegende Mehrheit der niederländischen Bevölkerung verhielt sich zunächst abwartend bis zurückhaltend. Zwischen 1941 und 1944 machten dann drei landesweite Streiks sowie eine zunehmend reger werdende Widerstandstätigkeit deutlich, dass das absurde Konzept einer Selbstnazifizierung der niederländischen Gesellschaft nicht aufging. Das repressive Auftreten der Sicherheitsbehörden mit unzähligen willkürlichen Verhaftungen, Einweisungen in Konzentrationslager und Hinrichtungen erhöhte bei breiten Bevölkerungsschichten die ohnehin latent vorhandene Ablehnung des NS-Regimes.

Unterstützung fand die deutsche Besatzungsverwaltung allerdings bei einheimischen faschistischen Organisationen. Sie waren zwar vor dem als auch im Zweiten Weltkrieg eine Minderheit innerhalb der niederländischen Gesellschaft, wurden aber ab Mai 1940 vom Reichskommissariat eindeutig bevorzugt, beispielsweise wenn es um die Ernennung von Bürgermeistern oder die Besetzung von allerlei Posten im öffentlichen Dienst ging. Die größte Organisation niederländischer Kollaboration war die Nationalsozialistische Bewegung (NSB), die 1931 von Anton Adriaan Mussert ins Leben gerufen worden war. Sie konkurrierte anfangs mit kleinen faschistischen Splitterparteien wie der Nationalsozialistischen Niederländischen Arbeiterpartei oder der Nationalen Front um die Gunst des deutschen NS-Regimes. Diese kleinen Organisationen wurden jedoch im Dezember 1941 vom Reichskommissariat aufgelöst. Ihre Mitglieder gingen in der Folge größtenteils zur NSB über. Trotz der Ausschaltung ihrer faschistischen Rivalen ist es der NSB nicht gelungen, von deutscher Seite mit Regierungsverantwortung betraut zu werden. Seyß-Inquart unternahm zwar Ende 1942 einen entsprechenden Vorstoß in Berlin, doch Hitler wollte von einer niederländischen Regierung nichts wissen. Solange der Krieg andauerte, sollten die Zügel fest in deutscher Hand bleiben. Das blieben sie dann auch bis zum bitteren Ende.

Für einen Teil der Niederlande kam das Kriegsende nur wenige Wochen nach der Landung der alliierten Truppen in der Normandie. Doch nachdem ihr Vorstoß im September 1944 bei Arnheim ins Stocken gekommen war, sahen sich die weiterhin besetzten westlichen Provinzen einer deutschen Besatzung ausgesetzt, die glaubte, sich immer verzweifelter und rücksichtsloser verteidigen und an die zerbröckelnde Macht klammern zu müssen. Dazu kam ein strenger Winter, der zusätzlich die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Kohlen erschwerte. Tausende von Menschen verloren im so genannten Hungerwinter 1944/45 ihr Leben, obwohl der Sieg der Alliierten nur noch eine Frage der Zeit war.

Nach dem Krieg wurden führende deutsche und niederländische Nationalsozialisten wie Seyß-Inquart, Rauter oder Mussert wegen der Verbrechen, die sie zu verantworten hatten, von internationalen oder niederländischen Gerichten zum Tod verurteilt; nur wenige Täter wurden von deutschen Gerichten belangt. Zahlreiche Kollaborateure wurden in den Niederlanden unmittelbar nach der Befreiung im Gefolge von ‚Säuberungen‘ zur Verantwortung gezogen. Die dunkle Geschichte der Jahre 1940 bis 1945 war mit der Hinrichtung von Kriegsverbrechern und ‚Säuberungen‘ aber nicht einfach zu Ende. Vielmehr haben die fünf Besatzungsjahre über Jahrzehnte hinweg die deutsch-niederländischen Beziehungen überschattet. In der Geschichtsschreibung nimmt keine Epoche eine derart zentrale Rolle ein wie diese fünf Jahre, und bis zum heutigen Tag besitzt die Besatzungszeit in der niederländischen Gedenkkultur eine herausragende Bedeutung. So sind der 4. und der 5. Mai, mit denen man der Toten des Weltkriegs und der Befreiung durch die Alliierten im Jahr 1945 gedenkt, staatliche Feiertage in den Niederlanden. Obwohl die Bundesrepublik Deutschland und das Königreich der Niederlande von Anfang an in europäischen und internationalen Organisationen sowie im Bereich der Wirtschaft ausgesprochen kooperativ zusammengearbeitet haben, waren die ersten Jahrzehnte der Nachkriegszeit von Spannungen zwischen niederländischer und deutscher Bevölkerung gekennzeichnet. Erst in den letzten Jahren hat sich auch auf dieser Ebene eine Normalisierung durchgesetzt, die mit anderen Nachbarländern, die während des Zweiten Weltkriegs von Deutschland besetzt worden waren, schon lange existierte

 

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