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„Aber wenn ich werd‘ schreien, wird besser sein?“

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Jens Hoffmann: „Aber wenn ich werd‘ schreien, wird besser sein?“ Die Lebensgeschichte der lettischen Jüdin Ruth Fridlendere. Hamburg (2010) Konkret Literatur Verlag, 191 Seiten, 18,50 Euro.

Ingolf Seidel

„… es ist gewesen Sonntag, wir kommen noch spaziert, einen großen Bogen machen wir dort, wo hat gelebt meine Hilda von Beer. Es heißt, wie heißt es auf Deutsch? Vasarnicu iela. Wie kann man das übersetzen? Weiß ich nicht. Ah, und jetzt hier sind die Mütter alle von dem Kindergarten.

Ich lege das Foto…

Ja, ja, nein, nein. Ich werde nehmen und machen alles in Ordnung“

Mit dieser Passage aus Gesprächen, die Jens Hoffmann mit Ruth Fridlendere führte, beginnt die Schilderung der Lebensgeschichte der lettischen Jüdin. Im Jahr 1932 geboren, beschreibt Fridlendere ihre Kindheit als Idylle. Sie ist die Tochter von Pesse (Paula) Sneidere, der jüngsten Tochter einer jüdischen Großfamilie und Richard (Rich) Fritz Strazbertmanis, der aus einem nicht-jüdischem Elternhaus stammt. Beide Eltern lernen sich in der lettischen Hafenstadt Ventspils kennen, wo auch Ruth Fridlendere ihr Leben verbracht hat. Das Mädchen Ruth wächst in einfachen Verhältnissen auf, lernt aber noch vor ihrem fünften Geburtstag das Klavierspiel, dass später zu ihrer beruflichen Lebensgrundlage wird.

Mit dem Einmarsch der nationalsozialistischen Wehrmacht endet diese Idylle. Die Familie hatte vor der Besatzung Lettlands gute Erfahrungen mit den deutschen Nachbarn gemacht hatte und es wurde neben Lettisch, Russisch und Jiddisch hauptsächlich Deutsch gesprochen. Überhaupt war eine große Nähe zur deutschen Kultur typisch gewesen für viele lettische Jüdinnen und Juden vor allem im Kurland. Dieser Umstand hat viele davon abgehalten, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen.

Ruth Fridlendere überlebt den Massenmord im Versteck. Ein Erdbunker im Garten des unverheirateten, nicht-jüdischen Paares Emily Osis und Heinrihs Sedlins wird zu einem ungemütlichen Refugium für die junge Ruth und ihre Mutter Paula. Das Paar hilft den beiden so gut es im Angesicht der Nahrungsknappheit kann und auch Rich Fridlendere, der selbst in einem Versteck leben musste, leistet nach Möglichkeit Beistand. Dennoch werden die vier Jahre bis zum 9. Mai 1945 zur Tortur für die beiden Jüdinnen. Ruth Fridlenderes Gesundheit ist durch den langen Aufenthalt im unterirdischen Versteck und die dort herrschende Dunkelheit und den anhaltenden Hunger geschädigt: Im Alter erblindet sie fast zur Gänze. Nach der Befreiung von der deutschen Besatzung bleibt zunächst die Angst: Viele ehemalige lettische Kollaborateure stellen eine latente Bedrohung dar. Und: Ruth und Paula Fridlendere sind die einzigen Überlebenden des jüdischen Teils ihrer Familie.

In der Folge nimmt Ruth Fridlendere ihre Klavierübungen wieder auf, geht wieder zur Schule, wo sie zur Zielscheibe eines antisemitisch motivierten Angriffs durch einen Jungen wird. 1950 beginnt die junge Frau eine Ausbildung zur Pianistin und Musiklehrerin, die sie im Jahr 1954 mit einem Diplom beenden kann. Es folgen zwei Ehen. Die erste mit Hirsch Fridlendere, aus der die Tochter Heda stammt, bleibt glücklos. Es ist die Frau, die sich von ihrem Mann trennt und fortan alleinerziehend mit ihrer Tochter lebt.

Von der Politik hält Ruth Fridlendere Abstand und wird, trotz eines gewissen Drucks, kein Mitglied der KPdSU. Dennoch kann sie zur Zeit der Entstalinisierung 1957 am Moskauer Konservatorium ihre Studien weiterführen. Später zieht sie in die Stadt Kuldiga, wo sie den Buchhalter Ilmar Salnar kennenlernt. Mit ihm bezieht sie im Jahr 1974 eine gemeinsame Wohnung. Die beiden werden über dreißig Jahre bis zum Tod des Ehemannes im Jahr 2006 zusammenleben; für Ruth Fridlendere beginnt eine der glücklichsten Zeiten ihres Lebens.

Das Ende der Sowjetunion beziehungsweise der sowjetischen Republik Lettland bleibt für Ruth Fridlendere ein Fernsehereignis, das vorwiegend im fernen Riga stattfindet. Ruth Fridlendere stirbt am 22. Oktober 2009 während der Fertigstellung des Buches.

Jens Hoffmanns Lebenslauf von Ruth Fridlendere beruht auf Gesprächen, die im Februar und März 2008 aufgenommen wurden. Die Initiative dazu ging damals von der Interviewten selbst aus, die dem Autor gegenüber den Wunsch geäußert hat, er möge ihr Leben aufschreiben. Herausgekommen ist eine Arbeit, die in einer nüchternen, zum Teil fast spröden Sachlichkeit ein Leben erzählt. Der Autor entgeht der Versuchung durch dramatisierende Effekte künstlich Emotionen wecken zu wollen. Gerade die erzählerische Nüchternheit ist es, durch die ein empathisches Verhältnis des Lesenden mit der Dargestellten entsteht.

Mit zunehmender Nähe zur Gegenwart bekommen auch die persönlichen Erlebnisse von Jens Hoffmann mit Ruth Fridlendere ein zunehmendes Gewicht in der Erzählung. Dabei wandelt sich auch die Darstellung der Protagonistin. Sie erhält zunehmend Kontur und Hoffman beschreibt eine ältere Dame, die von den Nachwirkungen des Überlebens, vom Antisemitismus in Lettland und von persönlichen Verlusten, aber auch von der Einsamkeit gezeichnet ist. Ruth Fridlendere ist kein einfacher Charakter, aber eine lebensbejahende und interessierte Person. Hoffmann beschreibt eine alte Dame, die ihr Leben in Armut und mit manchen Vorurteilen gegenüber ihrer Umwelt verbringt. Die Schilderung bleibt durchgehend von Respekt geprägt und zeigt dabei eine seltsame Freundschaft zwischen dem Nachgeborenen aus Deutschland und der lettischen Jüdin. Die Nuanciertheit der Persönlichkeit von Ruth Fridlendere herausgearbeitet zu haben, ohne die Dargestellte auf eine Holocaustgeschichte zu reduzieren, ist ein Verdienst des Autors. So ist das Buch nicht allein eine Biographie, sondern auch ein völlig unprätentiöses Denkmal.

Der Autor kann über den konkret-Verlag zu Lesungen eingeladen werden.

 

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