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Aussteigen aus antisemitischen Differenzkonstruktionen

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Dr. Heike Radvan arbeitet seit 2002 bei der Amadeu Antonio Stiftung, u. a. zu den Themen „Gender und Rechtsextremismusprävention“ sowie „Antisemitismus in der DDR“. Ihre Dissertation ist 2010 unter dem Titel „Pädagogisches Handeln und Antisemitismus. Eine empirische Studie zu Beobachtungs- und Interventionsformen in der offenen Jugendarbeit“ beim Klinkhardt Verlag erschienen.

Heike Radvan

Eine wichtige Rolle im Hinblick auf die Inhalte und den Aufbau von Fortbildungen zum Thema Antisemitismus sollte die Frage spielen, wie es möglich ist, aus antisemitischen Differenzkonstruktionen (1) auszusteigen. Was ist damit gemeint?

Fragt man allgemein, was Antisemitismus ist, so lassen sich eine Vielzahl von Definitionen formulieren. Geht man davon aus, dass Pädagoginnen und Pädagogen mit gesprochener Sprache umgehen, so scheint es sinnvoll, sich dem Phänomen aus semantischer Perspektive zu nähern. Sprachlich gesehen, folgen judenfeindliche Äußerungen einer bestimmten Struktur: Sie enthalten Gruppenkonstruktionen, die jeweils mit wertenden Zuschreibungen verknüpft werden. Auf der einen Seite stehen „die Juden“, auf der anderen eine Eigen- oder Wir-Gruppe. Betrachtet man solche verallgemeinernden Aussagen „über Juden“, so lässt sich festhalten, dass es sich hierbei grundsätzlich um Konstruktionen handelt. Antisemitismus (in seiner modernen Form) hat nichts mit dem tatsächlichen Verhalten von Jüdinnen und Juden zu tun. Der Soziologe Theodor W. Adorno spricht in diesem Zusammenhang vom „Gerücht über die Juden“. Aus pädagogischer Perspektive macht es Sinn, sich der anderen Seite der Gruppenkonstruktion zuzuwenden, also der „Wir-Gruppe“. Wer über „Juden“ spricht, sagt immer auch etwas über die Eigengruppe. Die Differenzkonstruktion zwischen einer Wir-Gruppe und „den Juden“ erfüllt eine Funktion für diejenigen, die sich antisemitisch äußern: Wer sich abwertend über Juden äußert, wertet sich selbst auf und ordnet sich einer (vermeintlich überlegenen) Gruppe zu. Aus pädagogischer Sicht ist es daher folgerichtig, nach der jeweiligen Funktion einer antisemitischen Äußerung für den einzelnen Jugendlichen zu fragen und an dieser Stelle mit der Intervention anzusetzen. Fragen Pädagoginnen und Pädagogen nach der Funktion, so geraten Jugendliche mit ihren verschiedenen Erfahrungshintergründen und Haltungen in den Blick – nicht aber „die Juden“.

Dass es wenig sinnvoll ist, in Reaktion auf eine antisemitische Äußerung „über Juden“ zu sprechen, lässt sich nicht nur theoretisch belegen. Beispiele aus den von mir geführten Interviews zeigen sehr eindrücklich, wie naheliegend es in der Praxis scheint, auf dieser Ebene zu argumentieren. Es wird aber auch deutlich, welche Folgen dies mit sich bringt. So antwortet beispielsweise eine Pädagogin auf die Aussage einer Jugendlichen, dass Juden kleine Kinder umbrächten, mit dem Argument, es würde doch nicht jeder Jude Kinder umbringen, statt diese Äußerung komplett zurückzuweisen. Mit dieser Intervention begibt sich die Pädagogin in die vermeintliche Logik der Argumentation über das, was „über Juden“ behauptet wurde. Sie verbleibt dabei sprachlich innerhalb der antisemitischen Differenzkonstruktion vom „Juden als dem Anderen“. Statt diese zu verlassen, erfährt die Konstruktion vielmehr eine Bestätigung. Etwas strukturell Ähnliches passiert, wenn ein Pädagoge auf die Behauptung, es gäbe eine jüdische Weltverschwörung, reagiert, indem er darauf verweist, dass nicht jeder Jude die amerikanische Politik bestimme. Auch wenn Informationen und Wissensvermittlung eine differenziertere Einschätzung komplexer Problemlagen ermöglichen können, zeigt sich, dass Argumentationen „über Juden“ innerhalb der antisemitischen Differenzkonstruktion verbleiben. Jüdinnen und Juden gelten weiterhin als „die Anderen“, deren Jüdischsein entscheidend für ihr Verhalten ist. Dieses Problem zeigt sich auch im Umgang mit Aussagen zum Nahostkonflikt. Häufig erfolgt durch Jugendliche eine Gleichsetzung von „den Israelis“ mit „den Juden“. Fordern Pädagoginnen und Pädagogen nun abstrakt ein, anstelle von „Juden“ die Bezeichnung „Israelis“ zu verwenden, so kann es auch hier zu einem Verbleib innerhalb antisemitischer Differenzkonstruktionen kommen. Ein Austauschen von Bezeichnungen führt nicht zu einem grundsätzlichen Hinterfragen der zugrundeliegenden Differenzkonstruktion, sie erfährt vielmehr eine Bestätigung.

Wie jedoch ist ein Aussteigen aus antisemitischen Differenzkonstruktionen möglich? In einzelnen Interviews lassen sich verschiedene Wege erkennen. Als sinnvoll zeigen sich eine fragende Haltung von Pädagoginnen und Pädagogen, mit der nach einer möglichen Funktion derartiger Aussagen für die Jugendlichen gesucht wird, sowie ein anerkennungspädagogischer Umgang, mit dem die verschiedenen Erfahrungshintergründe von Jugendlichen in den Blick geraten und emanzipatorische Überlegungen im Vordergrund stehen. Zentral ist dabei ein dialogisches Vorgehen, mit dem Aussagen von Jugendlichen zur Diskussion gestellt werden.

Handlungsoptionen zeigen sich, wenn Pädagoginnen und Pädagogen in Reaktion auf antisemitische Äußerungen universalistisch argumentieren und auf diesem Wege aus der Differenzkonstruktion aussteigen. Das zeigt sich exemplarisch, wenn eine Pädagogin in Reaktion auf die Aussage, Juden seien gierig, darauf verweist, dass das Streben nach Wohlstand ein universelles und Gier allen Menschen zu eigen ist. Eine solche universalistische Orientierung zeigt sich auch, wenn ein Pädagoge auf die Aussage, dass Juden mit der Herstellung von Coca Cola die Weltbevölkerung vergiften wollen, reagiert, indem er auf die Irrelevanz der Zugehörigkeit der Getränkehersteller verweist: Unabhängig von der Religion oder Ethnie der Hersteller wird das Getränk weltweit verkauft; vergiftete Kunden widersprechen dem Verkaufsinteresse und führen zum Bankrott der Hersteller. Im Vergleich zu oben angeführten Argumentationen begibt sich der Pädagoge hier nicht in eine Diskussion „über Juden“. Mit dem Verweis auf Wirtschaftsinteressen, die jedem Unternehmen unabhängig von der Zugehörigkeit seiner Inhaberinnen und Inhaber gemein sind, wird die antisemitische Aussage ad absurdum geführt.

Neben der Möglichkeit, universalistisch zu argumentieren, zeigt sich ein Aussteigen aus antisemitischen Differenzsetzungen auch, wenn Jugendliche auf ihre konkrete Alltagspraxis verpflichtet werden. Ideologisch überformte Aussagen werden hier mit den konkreten Alltagsanforderungen oder den Interessen von Jugendlichen konfrontiert und somit die Irrelevanz solcher Aussagen verdeutlicht. Exemplarisch zeigt sich dieses Vorgehen, wenn der Pädagoge im eben angeführten Beispiel die Jugendlichen daran erinnert, dass sie gern Coca Cola trinken, obwohl diese doch giftig sein solle. Ob dieses Verpflichten auf die Alltagspraxis gelingt, steht primär im Zusammenhang mit einer differenzierten Wahrnehmung der mehrdimensionalen Erfahrungen von Jugendlichen. Deutlich wird dies, wenn ein Pädagoge in Reaktion auf Sympathieerklärungen mit islamistischen Selbstmordattentätern daran erinnert, dass der Jugendliche sich auf einer Reise in eine andere Stadt gerade nicht als Araber bezeichnet hat, sondern als „cooler Neustädter“. Er erinnert den Jugendlichen an dessen positive Bezüge in den Wohnbezirk und umgeht auf diesem Wege die als ideologisch wahrgenommenen Äußerungen. Der Pädagoge verweist darauf, dass beispielsweise die Situation in einem palästinensischen Flüchtlingslager im Libanon eine völlig andere ist als in der Stadt, in der der Jugendliche lebt, und dass es doch vielmehr um den Jugendlichen selbst sowie seine Zukunft in Deutschland geht.

Die Erkenntnis, dass ein Argumentieren über „die Juden“ in Reaktion auf antisemitische Äußerungen zu einer Bestätigung der zugrunde liegenden Differenzkonstruktion führen kann, führt teilweise selbst bei Pädagoginnen und Pädagogen, die schon lange zum Thema Antisemitismus arbeiten, in der Selbstreflexion zu Aha-Effekten. Es ist sinnvoll, in Fortbildungen zum pädagogischen und argumentativen Umgang mit Antisemitismus Übungseinheiten dazu einzubauen, wie es möglich ist, diese Differenzkonstruktionen generell zurückzuweisen – auch wenn es sicherlich Situationen geben kann, in denen Gegeninformationen über Jüdinnen und Juden durchaus Sinn machen.

Anmerkung

(1) In diesem Text wird ein zentrales Ergebnis meiner Dissertation vorgestellt, für die ich Interviews mit Jugendpädagoginnen und –pädagogen über ihre Wahrnehmung von Antisemitismus in der Praxis sowie über ihren Umgang damit geführt habe. In Fortbildungen mit Pädagoginnen und Pädagogen sollte die hier aufgeworfene Frage ein Aspekt unter anderen sein. Aufgrund der Kürze des Beitrags kann jedoch auf weitere Themen, wie z.B. den pädagogischen Bezug oder den rekonstruktiven Blick, nicht eingegangen werden.

 

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