Empfehlung Fachbuch

Zwangsarbeit im Nationalsozialismus und lebensgeschichtliche Erinnerung

Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (Hrsg.): Geraubte Leben. Zwangsarbeiter berichten. Bearbeitet von Kathrin Janka. Köln 2008, 357 S.; 22,90 €. von Plato, Alexander; Leh, Almut; Thonfeld, Christoph; Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (Hrsg.): Hitlers Sklaven. Lebensgeschichtliche Analysen zur Zwangsarbeit im internationalen Vergleich. Wien 2008, 498 S.; 59 €.
Von Karola Fings, NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln

Als der Deutsche Bundestag am 2. August 2000 das Gesetz zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ verabschiedete, war in einer hitzigen, international geführten Debatte um die späte Entschädigung der Opfer von Zwangsarbeit während der nationalsozialistischen Herrschaft ein vorläufiger Höhepunkt erreicht. Große deutsche Wirtschaftsunternehmen, die sich seit 1998 in den USA mit so genannten Sammelklagen konfrontiert sahen, hatten die Entschädigungsfrage als nationale Aufgabe definiert, an der sich der deutsche Staat und die gesamte Wirtschaft beteiligen sollten. Das Ergebnis ist bekannt: Für die Entschädigung der ehemals rund 13,5 Millionen zivilen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen wurden jeweils fünf Milliarden DM über den Bund und die in der „Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft“ zusammengeschlossenen Unternehmen aufgebracht. Von Juni 2001 bis Juni 2007 wurden an 1,66 Millionen Anspruchsberechtigte rund 4,37 Milliarden Euro ausgezahlt. Laut Stiftungsgesetz sollten 700 Millionen DM der Gesamtsumme in einen Fonds fließen, der unter dem Stichwort „Erinnerung und Zukunft“ Projekte zum Thema Zwangsarbeit initiiert und fördert.

Beide Publikationen sind in diesem Kontext zu verorten: Die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ gibt die Bände heraus und finanzierte die ihnen zugrundeliegenden Projekte. Im Vordergrund stehen Lebensberichte ehemaliger Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. In dem von Kathrin Janka bearbeiteten Band „geraubte leben“ finden sich 35 Erinnerungsberichte von Männern und Frauen, die im Rahmen des Antragsverfahrens bei der Stiftung eingereicht worden waren. Der Sammelband „Hitlers Sklaven“ hingegen trägt die Ergebnisse eines internationalen lebensgeschichtlichen Dokumentationsprojekts zur „Sklaven- und Zwangsarbeit“ zusammen. Wir haben es also zunächst mit Fragen der Generierung und Edition von Egodokumenten zu tun.

„Hitlers Sklaven“ entstand unter der Federführung des Instituts für Geschichte und Biographie der Fernuniversität Hagen. Maßgeblich beteiligt waren dessen langjähriger Direktor Alexander von Plato sowie Almut Leh, die Leiterin des Institutsarchivs und „BIOS“-Redakteurin sowie Organisationsleiterin der International Oral History Association, und schließlich Christoph Thonfeld, wissenschaftlicher Mitarbeiter am DFG-Graduiertenkolleg „Sklaverei – Knechtschaft und Frondienst – Zwangsarbeit“ der Universität Trier. In den Jahren 2005 und 2006 wurden nicht weniger als 582 Interviews mit 590 Gesprächspartnern in 27 Ländern geführt, davon ein Viertel auf Video, alle übrigen als Audioquellen festgehalten. An der Umsetzung des Projekts beteiligten sich 32 universitäre und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen, Museen, Nichtregierungsorganisationen und Filmfirmen.

Die Interviews sollten als ein einheitlicher Bestand zusammengeführt werden, der die Vielfalt der Zwangsarbeit während des Nationalsozialismus widerspiegelt. Man war sich bewusst, dass eine Repräsentativität nicht zu erreichen war – schon deshalb, weil fast alle der jetzt noch lebenden Zeitzeugen und Zeitzeuginnen zur damaligen Zeit als Kinder oder Jugendliche rekrutiert worden waren. Auch die nationale Zugehörigkeit konnte nicht repräsentativ abgebildet werden. Allerdings gelang es, mit einem hohen Anteil von Interviews in Osteuropa (um nur die größten Gruppen zu nennen: Ukraine 82, Polen 78, Russland 70, Belarus 42, Tschechien 40) und einer Berücksichtigung bevorzugter Emigrationsländer nach 1945 (USA 30, Israel 25) die am meisten betroffenen Nationen und Gruppen zu berücksichtigen. Man tat auch gut daran, sich bei der Auswahl der Interviewpartner nicht an den Vergaberichtlinien der Stiftung zu orientieren, weil sonst die großen Gruppen der italienischen Militärinternierten, der sowjetischen Kriegsgefangenen oder der westeuropäischen Zivilarbeiter gefehlt hätten, die finanziell bekanntlich leer ausgegangen sind. Ebenso wichtig gewesen ist die Entscheidung, wegen der besonderen Schwere der Verfolgungsgeschichte jüdische Zwangsarbeiter sowie Sinti und Roma mit 134 beziehungsweise 46 Interviewten stärker zu berücksichtigen.

Die Gespräche sollten als lebensgeschichtliche Interviews möglichst im häuslichen Umfeld der Interviewten und in deren Muttersprache stattfinden. Um hohe wissenschaftliche und technische Standards für alle verbindlich zu verankern, wurden mit den Projektbeteiligten zwei mehrtägige Seminare durchgeführt, in denen Hintergrundmaterial und Interviewrichtlinien an die Hand gegeben wurden. Für die Dokumentation und Nachbearbeitung wurden mit dem Interviewtermin Grundlagen gelegt: Interviewprotokoll, Kurzbiographie und ein Datenbogen sowie aktuelle Fotografien oder auch historische Fotografien und Dokumente des beziehungsweise der Interviewten wurden erstellt und gesammelt.

Anspruch und Zuschnitt des Projekts, dies wird hier schon deutlich, sind ehrgeizig und in dieser Form für das Forschungsgebiet der Zwangsarbeit einmalig, nicht nur wegen der quantitativen Dimension. Interviewsammlungen zum Thema sind in den letzten Jahren entweder auf lokaler Ebene oder für spezielle Fragestellungen angelegt worden. Oft sind die Sammlungen nicht zugänglich, oder sie sind nur ungenügend bearbeitet, so dass weder der Entstehungskontext dokumentiert noch eine wissenschaftliche Kommentierung geleistet wird. Damit aber stellen sie für die Forschung und erst recht für die Bildungsarbeit äußerst problematische Quellen dar, weil die Aussagekraft kaum angemessen zu bewerten ist. Hinzu kommt, dass die Zufälligkeit solcher Überlieferungen oft nicht deutlich gemacht wird. Demgegenüber ist eine große Bandbreite an nationalen Herkünften nicht anders als in einem Großprojekt herzustellen, denn es bedarf dazu nicht nur einer starken internationalen Vernetzung, sondern auch reichhaltiger Erfahrung in internationalen Projekten sowie einer Trägerstruktur, die organisatorische wie finanzielle Probleme auffangen kann. Alles dies war durch das Hagener Institut und die Stiftung offensichtlich gegeben (vgl. die Einleitung der Herausgeber, S. 9-23).

Die Interviews werden derzeit unter dem Titel "Zwangsarbeit 1939-1945. Erinnerungen und Geschichte" in einer Kooperation mit der Freien Universität Berlin auf einer webbasierten Plattform für Forschung und Bildungsarbeit erschlossen. Außerdem sollen sie im Deutschen Historischen Museum in die Dauerausstellung integriert werden.[1] Der Band „Hitlers Sklaven“ dokumentiert die Interviews nicht, sondern ist als ein notwendiger Schlüssel für deren Auswertung zu betrachten. Nach der Einleitung folgt ein Hauptteil mit 28 Berichten aus 20 Ländern (S. 25-344). Im dritten Teil (S. 345-441) wird das Projekt beschrieben, es werden länderübergreifende Fragen behandelt, und Alexander von Plato wagt sich an erste zusammenfassende Ergebnisse des Projekts. Im Anhang sind neben den Interview-Richtlinien, einer Chronik und einer Bibliographie die Namen aller Interviewten (anonymisiert) mit Geburtsjahrgang, Herkunftsland und heutigem Wohnsitz aufgeführt (S. 443-498).

Die Länderberichte sind erwartungsgemäß sehr heterogen; sie bieten zumindest rudimentäre Einblicke in den nationalen Forschungsstand und den Stellenwert, den das Thema und die Überlebenden in der nationalen Erinnerungspolitik einnehmen. Dabei können neben Erkenntnissen über eher selten dokumentierte Gruppen von Zwangsarbeitern (etwa Spanier, Slowenen, Kroaten, Bulgaren) auch wichtige Hinweise auf bekanntere Gruppen gefunden werden, etwa die französischen Zwangsverpflichteten. Anne-Marie Granet-Abisset schreibt, dass deren Interviewaussagen „die fragliche Zeit in neuem Licht“ erscheinen lassen (S. 112). Da die Berichte von denjenigen verfasst wurden, die auch die Interviews geführt haben, offenbaren sie viel über deren Vorannahmen und Recherchestrategien. Neben Zeithistorikern und -historikerinnen waren Soziologen, Psychologen, Journalisten sowie Ausstellungs- und Filmemacher an dem Projekt beteiligt, und manches Mal scheinen die Probleme auf, die bei dem Auffinden von Interviewpartnern und der Durchführung der Interviews entstanden sind. Generell ist die Beschreibung von Konfliktfeldern zu begrüßen, denn je mehr über den Entstehungszusammenhang und den Verlauf eines Interviews bekannt ist, desto angemessener kann eine Auswertung erfolgen. Fragwürdig ist es jedoch, wenn etwa in dem Text von Artur Podgórski (S. 91-102) die eigenen Zweifel an der Vorgehensweise und den Verläufen der Interviews allzu einseitig als Defizit der Interviewten ausgelegt und damit Stereotype bedient werden. In der Zusammenschau der Länderberichte gewinnen neben dem individuellen Blick der Interviewerinnen und Interviewer die nationalen „master narratives“ an Kontur, was für weitere Interpretationen hilfreich ist.

In seinem Resümee betont Alexander von Plato erneut die Stärken der Oral History, die die Muster der Verarbeitung von Geschichte aufzeigen könne (S. 403) – eine Dimension, die am Beginn des 21. Jahrhunderts in der Rückschau an Bedeutung gewinnt. Die persönliche Ebene mache die Interviews für die Erwachsenen- und die Jugendbildungsarbeit „fast unverzichtbar“ (S. 405). Die größte Stärke des Projekts liegt ganz sicher darin, dass bei hohem qualitativem Anspruch auch eine hohe Anzahl von Interviews angesammelt wurde. Es sind die Vielfalt der Erlebnisse und die Individualität des Leids, die einen Gesamteindruck von dem Phänomen NS-Zwangsarbeit geben – einem Phänomen, das noch vor wenigen Jahren so gut wie gar nicht wahrgenommen worden war. „Ein Chor solcher Stimmen“, so Alexander von Plato, „ist vielstimmig wie ein Sprechgesang, überzeugend in seiner Vielfalt, bestürzend in den Geschichten über die Beteiligung ganz normaler Menschen an der Demütigung, an der Ausbeutung, Unterdrückung oder Ermordung“ (S. 404). Mit dem Interviewprojekt verband sich nicht zuletzt die Absicht, „ein Denkmal ganz besonderer Art“ zu schaffen (S. 441).

In „geraubte leben. Zwangsarbeiter berichten“ werden Berichte ediert, die ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter bei der Beantragung ihrer Entschädigung in den jeweiligen Ländern eingereicht haben. Noach Flug, Präsident des Internationalen Auschwitz-Komitees und Kurator in der Stiftung, betont den Wunsch der Überlebenden, Zeugnis für spätere Generationen abzulegen (S. 7). Das Erscheinen des Bandes wurde, so Günter Saathoff für den Vorstand der Stiftung, dadurch angeregt, dass die Dokumente, die während des Antragsverfahrens eingesandt wurden, an die jeweiligen nationalen Archive abgegeben werden und dort nicht ohne weiteres zugänglich sind (S. 12). Über die Zusammenstellung und historische Einordnung der Berichte informiert Kathrin Janka in einem Nachwort (S. 327-348), gefolgt von einer editorischen Bemerkung und einem Ortsregister (S. 351-356). Den Hauptteil nehmen die 35 Erinnerungsberichte ein, die mit Kurzbiographien eingeleitet und von Fotografien und Dokumenten begleitet werden (S. 15-325). Die Auswahl wurde von einem Redaktionsteam geleistet, das seinen anfänglichen Kriterienkatalog mehr und mehr zugunsten der Aussagekraft der Berichte aufgab (S. 341f.). Der Band richtet sich an eine breitere Öffentlichkeit, was durch Aufmachung und Preis unterstrichen wird, und er dient in Teilen augenscheinlich als kritische Selbstlegitimation der Stiftung. Er gibt einen Eindruck von der Fülle der Quellen, die durch das Antragsverfahren zusammengetragen wurden, und legt damit nahe, dass ein weiteres Engagement der Stiftung bei der Erschließung dieser Quellen in den weit verstreuten Archiven der Herkunftsländer ehemaliger Zwangsarbeiter für zukünftige Forschungen dringend erforderlich ist.

Die Forschungslandschaft zur Zwangsarbeit im Nationalsozialismus hat sich seit UIrich Herberts Pionierstudie Mitte der 1980er-Jahre grundlegend gewandelt.[2] Das Thema hat seinen randständigen Status verloren und wird zunehmend als ein international diskutiertes Feld der Sozial- und Wirtschafts-, der Kriegs- und Migrationsgeschichte begriffen. Neue Fragestellungen ergeben sich nicht zuletzt durch die Stimmen der Opfer, die auch dank der – späten und in vielen Bereichen ungenügenden – Zahlungen durch die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ hörbar wurden. Es ist sicherlich das größte Verdienst, dass den früheren Exkulpationsversuchen der deutschen Gesellschaft und insbesondere der verantwortlichen Eliten[3] nun andere Erzählweisen und Deutungsmuster entgegengestellt werden.

Anmerkungen:

[1] vgl. <www.zwangsarbeit-archiv.de/index.html> (05.10.2009).
[2] Ulrich Herbert, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Berlin 1985, erweiterte Neuausgabe 1999.
[3] Vgl. etwa die O-Töne in Hans Andree / Jan Philipp Reemtsma, Aus diesem Grunde daher. Deutschland in seinen eigenen Worten. Eine Bitte und ihre Folgen, Hamburg 1991.

Dieser Text erschien erstmals auf dem Portal H-SOZ-KULT am 02.11.2009 unter http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-4-099. Copyright (c) 2009 by H-Net, Clio-online, and the author, all rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial, educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact H-SOZ-U-KULT [at] H-NET [dot] MSU [dot] EDU.

 

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