Die Vertreibung der Deutschen in der polnischen Erinnerung und Geschichtspolitik
Von Jerzy Kochanowski
Im polnischen kollektiven Gedächtnis war und ist das Thema Zwangsmigrationen im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg einem vielschichtigen Wandlungsprozess unterworfen. Im Vordergrund standen zunächst vor allem die Erlebnisse und das Leid der Polen, während das den z.B. Deutschen und Ukrainern zugefügte Leid aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängt wurde.
Auch wenn sich die Gesellschaft in Nachkriegspolen selten mit der politischen Führung einig war, so war man doch im Falle der Verdrängung der Deutschen ausnahmsweise einer Meinung. Die Vertreibung der Deutschen stellte einen Stabilisierungsfaktor für den jungen polnischen Staat dar. Das Polonisierungsprojekt in den neu erworbenen Gebieten im Westen und Norden Polens sah vor, sowohl die Erinnerung an die Deutschen als auch ihre materiellen Spuren auszulöschen. Auf diese Weise sollten die neuen Gebiete in den Rest des Landes eingegliedert werden.
Zwei Faktoren trugen besonders dazu bei, dass in Polen ein eigentümlicher „Vertreibungskomplex“ entstand. Einerseits die lange ausbleibende Anerkennung der Oder und Laussitzer Neiße als polnische Westgrenze durch die BRD. Anderseits die zahlreichen Verstößen gegen die Beschlüsse des Potsdamer Abkommens, welche die von Polen durchgeführte Vertreibung begleiteten. Der so entstandene „Vertreibungskomplex“ zeichnete sich vor allem durch die Tabuisierung des Problems aus.
Hier lag u.a. der Grund für die ablehnende Reaktion der polnischen Führung auf den Hirtenbrief vom Herbst 1965, in dem sich die polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder mit den Worten wandten: „Wir vergeben und bitten um Vergebung“. Die Bitte um Vergebung bezog sich vor allem auf das während der Vertreibung verursachte Leid.
Die westdeutschen Vertriebenenverbände befanden sich stets ganz oben auf der Liste der „Feinde Polens“, die durch offizielle Propaganda lanciert wurde. Weder in der damaligen Historiografie, noch in der offiziellen Publizistik wurde der Begriff „Vertreibung“ verwendet. Stattdessen ersetzte man ihn durch neutrale Bezeichnungen wie „Repatriierung“, Migration“, Aussiedlung“, „Umsiedlung“ oder „Ausreise“.
Dabei war es unmöglich, die frühere Anwesenheit der Deutschen in den so genannten „Wiedergewonnenen Gebieten“, wie auch die Tatsache ihrer Aussiedlung vollständig zu verdrängen. Wenn die Deutschen überhaupt in literarischen Werken, Filmen oder auch in der Historiografie auftauchten, wurden sie für gewöhnlich als Saboteure oder Meuchelmörder dargestellt. Die Repressionen gegen die Deutschen wurde zudem als eine sporadische und stets von ihnen provozierte Erscheinung gezeigt.
Die Autoren der ersten Monografien über die Aussiedlungen der Deutschen, die schon Ende der 1960er Jahre erschienen, konzentrierten sich vor allem auf demographische Fragen (z.B. die Zahl der Vertriebenen) und auf den eigentlichen Bevölkerungstransfer. Die Debatte um grundsätzliche Probleme - Beziehung der Polen zu den Deutschen, Alltagsleben, Lager, Zwangsarbeit etc. - verschwand aus dem Blickfeld oder wurde euphemistisch mit Verweis auf „Schwierigkeiten“ unterbunden.
Bis zum Systemwechsel im Jahr 1989 wurde die Grenze des Schreibbaren in Bezug auf die Deutschen nur ein Mal überschritten, nämlich vom Journalisten, Literaten und Literaturwissenschaftler Jan Józef Lipski (1926-1991). Während des Krieges hatte er als Soldat der Heimatarmee (polnische Untergrundarmee) gekämpft, bevor er sich nach dem Krieg der Opposition anschloss. Im Jahr 1981 publizierte Lipski in einem Untergrundverlag die Broschüre „Zwei Vaterländer, zwei Patriotismen. Bemerkungen zum nationalen Größenwahn und zur Xenophobie der Polen“. Darin brach er das bisherige Tabu, indem er schrieb, dass Aussiedlungen – in gewissen Situationen berechtigt – immer ein Übel seien, und zwar eines an dem auch Polen aktiv beteiligt gewesen waren.
Man kann den Einfluss von Lipskis Text auf die junge Historikergeneration, die sich nach 1989 mit der Aussiedlung der Deutschen beschäftigte, gar nicht überschätzen. Die Liste der seitdem veröffentlichten Monografien und Quelleneditionen ist lang. Am Horizont der Historikerinteressen erschienen nun alle Themen, die bis dahin verboten gewesen waren: „wilde Vertreibungen“ von März bis Juli 1945, Lebensbedingungen der Deutschen, Arbeit, Lager, Sterblichkeit, Gesetzesbrüche, Beteiligung der Roten Armee und der sowjetischen Führung an der Verdrängung der Deutschen etc. Historiker unterschieden hierbei zwischen „ethnischen Deutschen“ und deutschen Kriegsgefangenen.
Zu Beginn der 1990er Jahre konzentrierte sich die öffentliche Debatte zum Thema Vertreibungen auf die Mitverantwortung der Polen für das Leid anderer, darunter auch das der vertriebenen Deutschen. Diese Verschiebung war notwendig für eine Aussöhnung mit Polens Nachbarn. Der Diskurs um Mitverantwortung wurde nicht nur in Polen geführt sondern auch in anderen Ländern auf „Vertreibungs“-erfahrungen übertragen. Allerdings schien er sich tendenziell auf eine kleine Gruppe von Intellektuellen zu beschränken. Wie falsch diese Annahme war, zeigte sich an der Wende zum 21. Jahrhundert, als ein starkes Interesse am Thema Vertreibungen aufkam.
Die Verschiebung vom „Täter“ zum „Opfer“ in der deutschen Erinnerungslandschaft zeigte sich deutlich an drei Ereignissen, die sich in erheblichem Maße auf das polnische kollektive Gedächtnis auswirkten: der Veröffentlichung von Günter Grass’ Erzählung „Im Krebsgang“, der Aktivierung der schon in den 1990er Jahren entstandenen Idee eines „Zentrums gegen Vertreibungen“ und schließlich der Tätigkeit der im Dezember 2000 entstandenen sog. Preußischen Treuhand.
Auch in Polen wurde dieser deutsche Perspektivwechsel zum Gegenstand breiter öffentlicher Diskussionen. Unverzüglich versuchten einige Politiker, besonders der rechten Parteien, mit antideutschen Ressentiments ihre eigene Anhängerschaft zu vergrößern. Gewissermaßen als Revanche für die deutschen Rückgabeforderungen - sowohl auf dem Gebiet der Erinnerung, als auch materiell – brachte die polnische Seite erneut eine mögliche deutsche Entschädigung für die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg ins Spiel. Das Titelblatt der Wochenzeitschrift „Wprost“ (vom 21.9.2003) stellte die Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, als „deutsches Trojanische Pferd“ dar. In eine schwarze SS-Uniform gekleidet, reitet sie auf dem Rücken des damaligen Kanzlers Gerhard Schröder. Das Bild wurde weltweit durch seriöse Medien verbreitet.
Ein wenig vereinfachend lässt sich sagen, dass das Handeln Erika Steinbachs die bilaterale Verständigung stark belastet. Dazu zählen die kontroverse Berliner Ausstellung „Erzwungene Wege“, die Streitigkeiten um die Sitzverteilung im Rat der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ sowie das geplante Vertreibungsmuseum „Sichtbares Zeichen“. Als Folge verließ ein bedeutender Teil der Mitglieder den Stiftungsrat, darunter der polnische Vertreter Prof. Tomasz Szarota. Bleibt nur die Hoffnung, dass letztendlich beide Seiten zur Vernunft kommen und einen Kompromiss aushandeln. Dieser sollte die Erinnerung an die Vertreibungen nicht teilen, sondern verbinden.
Übersetzt aus dem Polnischen von Lisa Just und Markus Nesselrodt.
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- 16 Apr 2018 - 10:17