Jahrbuch Polen zum Thema "Migration"
Von Markus Nesselrodt
Die Auswanderung aus Polen nach Deutschland ist keine neue Erscheinung. Aufgrund seiner geographischen Nähe und der ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Einwanderungstradition war Deutschland bis vor kurzem das beliebteste Zielland der polnischen Migration. Auch wenn sich die Wanderungsrichtung nun eher nach Großbritannien verschoben hat, leben in Deutschland heute circa 1,5 bis 2 Millionen Polinnen und Polen. Damit gehören sie der zweitgrößten Minderheit nach der türkischstämmigen Community in Deutschland an.
Dies war Anlass für das Deutsche Polen Institut in seinem diesjährigen Jahrbuch aktuelle Trends der polnischen Migration zu untersuchen. Die Essays, Reportagen und Analysen widmen sich Fragen nach den Gründen und Umständen der Migration, sie stellen die Lebenssituation der meist jungen Migranten im Ausland dar und sie schauen auf die Polen in Deutschland. Daneben versammelt der Band Auszüge aus Werken der zeitgenössischen polnischen Literatur.
Zwei Essays aus dem Band sollen hier hervorgehoben werden, die für pädagogisch Tätige von Interesse für den beruflichen Alltag sein könnten. Den Anfang macht der Journalist Basil Kerski mit seinem Einleitungstext über „hybride Identitäten“. Darunter versteht er Menschen, die verschiedene kulturelle Wurzeln und Identitäten in sich vereinen. Kerski stellt fest, dass die deutsche Kultur und Gesellschaft viel stärker von ihren Einwanderern geprägt seien, als oft wahrgenommen wird. Bei dieser „Begegnung verschiedener Kulturen“ sei jedoch auffällig, dass der polnische Faktor in den Migrationsdebatten kaum berücksichtigt werde.
Einen Grund dafür sieht Kerski in der Heterogenität der polnischen Migranten in Deutschland. Zudem sträube sich die Generation der Podolskis und Kloses, die das kommunistische Polen kaum oder überhaupt nicht kennt und in der Bundesrepublik sozialisiert wurde, gegen eindimensionale Identitätszuweisungen. Stattdessen hält sie Bindungen in Deutschland und nach Polen aufrecht. In einem historischen Exkurs widmet sich Kerski der Emigration aus Polen in den 1980er Jahren. In nur einem Jahrzehnt verließen rund 1 Million Menschen Polen in Richtung Deutschland. Die heutige Unsichtbarkeit polnischer Migration in der Bundesrepublik werde, so Kerski, häufig als Beleg für eine „gelungene“ Integration bezeichnet.
Ein genauerer Blick offenbare jedoch, dass oft ein „dritter Weg“ gewählt wurde, der weder Integration noch Abschottung bedeutet. Hier sei Anpassung eher pragmatisch bestimmt und keine Frage der Zuordnung zu einer nationalen Gruppe. Abschließend fordert Kerski, dass „hybride Identitäten“ in Deutschland viel stärker als Normalzustand wahrgenommen werden müssten.
Der Journalist Uwe Rada beschreibt in seinem Beitrag den Wandel des Polenbildes in Deutschland. Zur Veranschaulichung hat er elf Personen ausgewählt, die einen Einfluss auf die Wahrnehmung der Polen haben und hatten. In Polen repräsentiert der deutsche Kabarettist Steffen Möller inzwischen den sympathischen Deutschen, doch wo bleibt der Botschafter Polens in Deutschland?
Behelfsmäßig wurden die Fußballspieler Miroslav Klose und Lukas Podolski zu „unseren Polen“ während der Fußballweltmeisterschaft 2006. Ein anderer Kandidat für den Vertreter Polens in Deutschland wäre Adam Soboczynski, Redakteur bei der Wochenzeitung „Die Zeit“ und Autor eines Buches über seine polnischen Wurzeln. Für die Soziologie wäre Soboczynski ein idealer Repräsentant einer sogenannten Bindestrich-Identität , doch der Journalist fuhr nach Polen und stellte fest, dass sein Geburtsland ihm fremd geworden war.
Die vergangenen Jahre nach dem EU-Beitritt Polens waren von der Regierungszeit der Kaczynskibrüder geprägt. Wieder einmal schien sich das Bild der patriotischen, katholischen und homophoben Polen zu bestätigen. Umfragen verwiesen auf große Spannungen im deutsch-polnischen Verhältnis, doch das Bild Polens in Deutschland wird immer weniger von der großen Politik beeinflusst. Stattdessen gestalten hier lebende Polen das Bild einer jungen, neugierigen und aufgeschlossenen Generation. Junge Studierende an deutschen Universitäten oder Künstler, die auf ihre Kunst, statt auf ihre Nationalität verweisen weisen auf ein post-nationales Zeitalter hin. Sie sehen sich selbst als die „neuen Polen“. Letztlich gebe es wohl kein polnisches Pendant zu Steffen Möller in Deutschland. Stattdessen feiert dieser auch in seinem Heimatland große Erfolge. Sein Buch „Viva Polonia“ weise, so Rada, zwar auf ein gesteigertes Interesse an Polen hin, allerdings zeige es auch das Bedürfnis nach klarer Orientierung.
Das Jahrbuch Polen 2010 zum Thema Migration richtet sich vorrangig an ein akademisches Publikum. Die Artikel stellen aktuelle Forschungsergebnisse vor und geben Einblick in die vielfältigen Realitäten polnischer Emigration. Für den schulischen Unterricht und die außerschulische Projektarbeit können die vorgestellten Beiträge jedoch sehr anregend sein. Denn sie versammeln Informationen und Beispiele, mit deren Hilfe das Thema Migration aus Polen nach Deutschland diskutiert werden kann.
Zum Deutschen Polen Institut
Das Deutsche Polen-Institut Darmstadt ist ein Forschungs-, Informations-, und Veranstaltungszentrum für polnische Kultur, Geschichte, Politik, Gesellschaft und die deutsch-polnischen Beziehungen. Das 1979 entstandene DPI hat die Aufgabe, durch seine Arbeit zur Vertiefung der gegenseitigen Kenntnisse des kulturellen, geistigen und gesellschaftlichen Lebens von Polen und Deutschen beizutragen.
Auf der Homepage des Deutschen Polen Instituts finden Sie Informationen zum Angebot „Polen in der Schule“.
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- 16 Apr 2018 - 10:12