Balanceakt zwischen Historie und Alltag
Von Sergey Lagodinsky
Historisch gesehen ist das Leben der Juden in Deutschland ein halbes Jahrhundert nach dem Holocaust alles andere als banal. Persönlich gesehen ist dieses Leben genauso selbstverständlich, wie der Tatort am Sonntag oder das Lidl um die Ecke. Der Balanceakt zwischen dem Historischen und dem Alltäglichen ist nicht leicht zu meistern. Die Gegenwart von über 100 jüdischen Gemeinden ist weitgehend durch die Mehrheit von Neuzuwanderern geprägt und damit durch die Herausforderungen und die Chancen ihres Neuanfangs in diesem Land. Genau gesagt durch den Erfolg oder Misserfolg von ca. 220.000 Neuanfängen – so viel Juden und ihre Angehörigen kamen nämlich seit 1989 nach Deutschland aus der ehemaligen Sowjetunion.
Für jeden Einzelnen von ihnen geht es um den Kampf auf dem Arbeitsmarkt, das Ringen im Studium oder auf der Schule, um das soziale Lavieren zwischen der deutschen Gesellschaft und dem russischsprachigen Umfeld. Die ältere Generation hofft auf eine chancenreiche Zukunft für ihre Kinder und Enkelkinder, die Jüngeren sorgen sich um die Älteren - häufig gut ausgebildete Spezialisten, die in ihrer neuen Heimat nur schwer Fuß fassen können.
In den Gemeindestrukturen stellen sich zugleich die Fragen von Machtumverteilung und Machterhalt, um Ressourcenknappheit und gelegentlich um Kulturkämpfe: auf der einen Seite die kleine Minderheit derjenigen, die in den damals noch überschaubaren jüdischen Gemeinden Deutschlands aufgewachsen sind. Auf der anderen Seite, all die Neuankömmlinge, deren Kinder nunmehr in diesen Gemeinden aufwachsen. Vor allem geht es aber um das Schwierigste für alle Beteiligten – um die Suche nach einer jüdischen Identität, die allen gemeinsam ist, oder besser noch: um die Anerkennung von vielen verschiedenen jüdischen Identitäten. Eine spannende kollektive Suche mit einem ungewissen Ausgang.
Es ist nicht einfach, das neue deutsche Judentum zu verstehen. Was muss man darüber wissen? Was darf man darüber fragen? Als Jude bildet man sich ein, ein eigeständiges Leben zu gestalten, doch redet man mit anderen, so stößt einer sehr schnell an die Grenzen der Selbstbestimmung eigener sozialer Funktion. Man findet sich in den Erinnerungsnarrativen mumifiziert und in den Nahostdiskussionen unverstanden wieder. Man ist ein Blitzableiter für die verärgerten Jugendliche aus Neukölln und eine lebende Provokation für die NPD-Funktionäre aus der sächsischen Schweiz. Man ist dies für die einen und jenes für die anderen, man verliert sich zwischen den zahlreichen Perspektiven, die sich an einem abarbeiten, wie Kunstschüler an billigen Leinwänden. Die einen mit Hass, die anderen mit Liebe, oder mit schlechtem Gewissen, mit Umarmungen, die das Objekt ihrer Zuneigung bis zur Atemlosigkeit in ihren Armen erdrücken!
Es ist Einem ungewiss, ob man seinem Schicksal für so viele Einblicke in fremde menschliche Seelen danken muss, oder doch eher das eigene Los verdammen sollte, das ihn zur Projektionsfläche für all diese Seelen gemacht hat.
Doch was will man überhaupt von dieser Gesellschaft, die verzweifelt versucht, nicht nur „ihre Juden“, sondern auch sich selbst neu zu erfinden? Man wünscht sich, dass andere über das jüdische Leben lernen, aber zugleich auch über sich selbst und über die eigene komplizierte Beziehung zum Thema. Man will ein Judentum vermitteln, das die üblichen Klischees leicht nimmt, es sogar versteht (aus Not – die Tugend!) mit ihnen spielerisch umzugehen, zugleich aber diese Stereotype schon durch die bloße eigene Existenz widerlegt.
Hierbei ist die jüdische Vielfalt der Schlüsselbegriff: Das heutige Judentum in Deutschland ist bunt. Es ist orthodox bis liberal, häufig aber auch säkular und dennoch in seinem Selbstverständnis bekennend jüdisch. In manchen Synagogen sitzen Frauen und Männer getrennt, in anderen zusammen, dritten wiederum stehen Frauen als Rabbinerinnen vor. Es gibt Juden, die gerne in die Synagoge gehen, aber auch welche, die keine Ahnung von der jüdischen Liturgie haben (das Erstere schließt freilich das Letztere nicht aus!). Es gibt jüdische Zionisten und (viel seltener, aber immerhin) jüdische Antizionisten, es gibt glühende Verteidiger der israelischen Siedlungspolitik und flammende Kritiker der israelischen Besatzung. Manche Juden spielen gerne klassische Musik, während andere Drum’n’Base und House auflegen oder in den Diskos auf Franz Ferdinand abfahren. Und wiederum andere stehen auf DJ Bobo – ja auch dies muss gesagt werden – nicht alle Juden haben Geschmack!
Dies alles plastisch zu vermitteln ist zugegebenermaßen ein kompliziertes Unterfangen – wie beschreibt man das jüdische Leben, während man das Bild „des Jüdischen“ durch praktische Beispiele widerlegt? Und wenn nicht mal Juden sich darüber einig sind, was sie nun eigentlich eint, wie beantwortet man die Frage danach, was denn Jude-Sein heute überhaupt bedeutet?
Und doch gerade hierin besteht die Chance, an die nicht-jüdischen Welten anzuknüpfen. Judentum ist Teil des heutigen deutschen Alltags geworden und dockt sich an diesen Alltag auf vielfältige Art und Weise an. Und dieses heutige demokratische und plurale Deutschland ist genauso wenig eindeutig, genauso scheinbar widersprünchlich, wie die Juden, die sich in diesem Land wieder heimisch machen.
Am besten ist es, dieses neue jüdische Leben in Deutschland durch persönliche Gespräche und Kontakte zu erleben. Vielleicht in der nahestehenden Synagoge, vielleicht im benachbarten Jugendclub. Womöglich in einem Gespräch mit dem Musiker aus dem lokalen klassischen Symphonieorchester oder mit dem ersten russisch-sprachigen jüdischen Staatsanwalt aus Braunschweig, oder mit einer Krankenschwester aus dem Krankenhaus nebenan. Es wird sicherlich spannende Gespräche geben, wenn man sie sucht. Dafür braucht man heutzutage keine Juden aus dem Ausland einzufliegen und auch kein Englisch oder Hebräisch zu lernen, es geht auch auf Deutsch, wenn auch meist mit einem kantigen russischen Akzent. Willkommen in dem neuen jüdischen Leben in Deutschland!
- |
- Seite drucken
- |
- 20 Jan 2010 - 13:36