Nach dem Völkermord
Von Silvio Peritore und Andreas Pflock
Der Holocaust an schätzungsweise 500.000 Sinti und Roma im gesamten nationalsozialistischen Einflussbereich wirkt sich bis heute auf die Minderheit aus. Dieser Genozid wurde rassenideologisch vorbereitet, systematisch organisiert und unter Beteiligung nahezu aller staatlichen Stellen ins Werk gesetzt. Sinti und Roma wurden wie die Juden auf der Grundlage der NS-Rassenpolitik systematisch erfasst, entrechtet, ausgegrenzt, enteignet, verfolgt und deportiert. Sie wurden systematisch durch Massenerschießungen der Einsatzgruppen, durch Vergasungen in den Vernichtungslagern, durch Zwangsarbeit und medizinische Experimente ermordet – einzig aufgrund ihrer biologischen Existenz.
Mit dem NS-Völkermord an den Sinti und Roma sollte zugleich ihre Kultur und ihre 600 jährige Geschichte in Mitteleuropa zerstört werden. Von den etwa 30.000 im deutschen Reich des Jahres 1933 lebenden Sinti und Roma konnten letztlich nur etwa 3.000 nach 1945 wieder in ihre deutsche Heimat zurückkehren.
Lange Zeit wurde dieser Völkermord aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt und geleugnet. Die daraus resultierende historische Verantwortung der deutschen Politik und Gesellschaft, wie sie im Falle der Juden zu Recht wahrgenommen wird, wurde den Sinti und Roma lange Zeit nicht zuteil. Auch in der historischen Forschung, in der politischen Bildungsarbeit und in den Gedenkstätten spielte dieses Verbrechen lange Zeit keine Rolle. Sinti und Roma wurden auch in der Bundesrepublik Deutschland diskriminiert und gesellschaftlich benachteiligt. Dies betraf insbesondere die Bereiche Bildung, Arbeit, Wohnen, rechtliche Gleichbehandlung sowie soziale und innere Sicherheit. Immer wieder versuchten Politik, Behörden und Medien, die Sinti und Roma als Randgruppe darzustellen und zu behandeln. Zum Teil ist dies vielerorts bis heute der Fall.
Die etwa 70.000 deutschen Sinti und Roma besitzen aufgrund der politischen Initiative des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma seit 1995 den Status einer nationalen Minderheit. Damit genießen sie seitens der Bundesregierung einen besonderen rechtlichen und kulturellen Schutz, insbesondere aus der Verantwortung der Geschichte. Entgegen zahlreicher Klischees und bewusster Falschbehauptungen waren und sind Sinti und Roma in die deutsche Gesellschaft integriert und ebenso Bestandteil unserer Heimat und Geschichte.
Es ist gerade diese historisch begründete Verantwortung, die einen elementaren Bestandteil unserer nationalen Identität ausmacht. An die beispiellosen nationalsozialistischen Verbrechen zu erinnern hat nichts mit dem Beharren auf einer spezifisch deutschen Schuld zu tun. Vielmehr ist die Erinnerung an die im Nationalsozialismus verfolgten und ermordeten Menschen integraler Bestandteil der Geschichte und der Kultur unseres Landes. Insbesondere die Erinnerung an die im Holocaust ermordeten Menschen ist ein zentraler kultureller Bestandteil der Minderheit und ein identitätsstiftender Faktor geworden.
Erst die sich seit den 70er Jahren formierende Bürgerrechtsbewegung der deutschen Sinti und Roma konnte in Westdeutschland einen Bewusstseinswandel einleiten. Eine entscheidende Zäsur war der 17. März 1982, als der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt in völkerrechtlich bedeutsamer Weise die nationalsozialistischen Verbrechen an den Sinti und Roma als Völkermord aus Gründen der Rasse anerkannte. Das vorrangige Ziel der Bürgerrechtsbewegung war es, eine eigene Facheinrichtung zu schaffen, welche die Geschichte – insbesondere den NS-Völkermord – dokumentiert und im kollektiven Gedächtnis verankert. Diese Aufgabe wurde als ein unerlässlicher Beitrag für das demokratische Selbstverständnis und die politische Kultur der Bundesrepublik verstanden. Wichtigste Station war die Gründung einer bundesweiten politischen Vertretung, des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, im Jahr 1982.
Zu Beginn der 90er Jahre wurde das Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg eingerichtet. Hier ist seit 16. März 1997 die weltweit erste Dauerausstellung zum NS-Völkermord an den Sinti und Roma zu sehen. Mit der Schaffung dieser Institutionen gilt es aufzuzeigen, dass Vorurteile und staatliche Diskriminierungen gegenüber der Minderheit, die unmittelbar auf den rassistischen Denkstrukturen und Zerrbildern der Nationalsozialisten beruhen, bis heute fortbestehen und das öffentliche Bild der Minderheit noch immer weithin prägen. Vier Fachreferate für Bildung, Dialog, Beratung und Dokumentation leisten seither auf nationaler und internationaler Ebene die Arbeit für die Rechte der Minderheit, gegen den Antiziganismus, für die Erinnerung an den Holocaust an Sinti und Roma und dessen Vermittlung, für die Betreuung und Unterstützung von Holocaust-Überlebenden, für die Förderung von jungen Sinti und Roma und vieles mehr.
Es existiert kein Patentrezept dafür, eine sich seit Jahren vollziehende gesellschaftspolitische Negativentwicklung für diese größte und in Europa am meisten von Rassismus bedrohte Minderheit in absehbarer Zeit aufzuhalten und menschenwürdige Lebensbedingungen in den armen Ländern Osteuropas zu schaffen. Zu komplex und kompliziert sind historische, soziale, kulturelle, ökonomische und politische Zusammenhänge sowie deren Entstehungsbedingungen und Entwicklungslinien in den einzelnen Ländern.
In Ost- und Südosteuropa leben die meisten der insgesamt etwa 10 –12 Millionen Sinti und Roma. Sie sind dort massiver, rassistischer Gewalt ausgesetzt. Nahezu jeden Tag werden in allen Ländern Europas Angehörige der Minderheit von Rechtsextremisten überfallen, gar auf offener Straße ermordet, erst kürzlich in Ungarn. Die Sensibilität der Politiker, der Medien und der Gesellschaft hält sich vor dem Hintergrund der organisierten Morde und der rassistischen Hetze gegen Sinti und Roma in Grenzen. Vor allem Kinder werden in den Medien pauschal kriminalisiert und gesellschaftlich ausgegrenzt. Um ihnen die Perspektive einer gleichberechtigten gesellschaftlichen Teilhabe zu eröffnen, die sich mit den Überzeugungen unserer Wertegemeinschaft deckt, müssen ihnen seriöse schulische und außerschulische Bildungsangebote gemacht werden.
Die politischen Versäumnisse und die aktuelle Situation der Sinti und Roma dürfen nicht ihnen selbst unter Umkehrung des Ursache-Wirkungsverhältnisses angelastet werden. Die wichtigste Voraussetzung für eine bessere Zukunft der Sinti und Roma ist ein ernsthafter politischer Wille unserer Staatengemeinschaft, welche sie endlich als integralen Bestandteil ihrer Gesellschaften begreifen und behandeln muss. Dies setzt ein Bewusstsein für gegenwärtige Gefahren ebenso wie historische Kenntnisse über den Holocaust an den Sinti und Roma voraus. Nicht nur die Politik, sondern vor allem auch die Arbeit der historisch-politischen Bildung, sollte ihre Verantwortung noch stärker als bisher wahrnehmen.
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- 20 Jan 2010 - 13:38