Wir hatten noch gar nicht angefangen zu leben!
Eckdaten
Ort/Bundesland: Mecklenburg-Vorpommern |
Bibliografie
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Hintergrund
Die Schweriner Volkszeitung berichtete in einem Artikel vom 30. Juli 1994 über die NS-Zeit und speziell über die historischen Ereignisse in Moringen. Dort gab es vor 50 Jahren ein Jugend-KZ, in dem nichtangepasste Jugendliche entsprechend der NS-Ideologie zu "arischen" Deutschen "umerzogen" werden sollten. Ein Verein ehemaliger Häftlinge und engagierter Bürger erarbeitete die Geschichte des Konzentrationslagers und konfrontierte die örtliche Bevölkerung und Besucher mit den Ereignissen, die sich damals hinter den Toren des Lagers abspielten.
Durch den Artikel wurden Jugendliche aus dem Jugendprojekt "Mitte" in Güstrow auf die Thematik aufmerksam. Auch sie verstehen sich mit ihrer auffälligen Kleidung, Musik und Lebensart als nicht angepasst. Welcher Jugendliche ist das schon? Sie werden deshalb von den Anwohnern im Umfeld des Jugendclubs allenfalls geduldet, nicht jedoch akzeptiert. "Zucht und Ordnung würden der heutigen Jugend auch gut tun! Zu unserer Zeit wärt. Ihr schon längst tot gewesen!", bemerkte ihnen gegenüber einmal eine Frau aus dem Nachbarhaus.
Projektverlauf
Begegnungen mit ehemaligen Häftlingen in Moringen
Über Telefonbücher machten die Jugendlichen die im Artikel erwähnte Kontaktperson ausfindig. Als sie sich nach den historischen Ereignissen erkundigten, wurden sie spontan zu einem Treffen mit Überlebenden und Zeitzeugen in Moringen eingeladen. Dort sprachen sie mit ehemaligen Häftlingen, besichtigten die Ausstellung "Wir hatten noch gar nicht angefangen zu leben" (siehe pdf-Dokumente) und gedachten gemeinsam der Häftlinge, die die Zeit im Lager nicht überlebt hatten.
Was heute durchaus zur Normalität von Jugendlichen gehört, dass man Schule langweilig findet, auch mal dem Unterricht fernbleibt, eine Nacht in der Diskothek durchtanzt und Ärger mit den Eltern hat, das hätte im "Dritten Reich" schon ein Verbrechen sein können. Wer dem HJ-Dienst fernblieb, Swingmusik, die als dekadent galt hörte und danach tanzte, der konnte von Lehrern, Lehrherren, Blockwarten, Nachbarn oder Bekannten denunziert und in ein Jugend-KZ zur "Umerziehung" eingewiesen werden.
Dort wurden die Jugendlichen kriminalbiologisch erfasst, selektiert und zum Teil zwangssterilisiert. Unter erniedrigenden Bedingungen waren sie auf engstem Raum eingesperrt und mussten bei unzureichender Verpflegung bis an die Grenzen körperlicher Leistungsfähigkeit arbeiten. Beschimpfungen, bei Missachtung der Lagerordnung gehörten zum Alltag der Häftlinge.Günter Discher berichtete den Jugendlichen aus Güstrow, wie er wegen des Spielens von Swingmusik verhaftet wurde und zur "Umerziehung" nach Moringen kam. Fernando Molde wurde inhaftiert, weil er seine Lehre als Bäcker abgebrochen hatte. Friedrich Laskas war als "Verbrechen" angelastet worden, als "Halbjude" eine "arische" Freundin zu haben.
Für die Güstrower Jugendlichen war es wichtig, sich mit dieser Geschichte auseinander zusetzen. Sie wollten vor allem wissen, wie Jugendliche das "Dritte Reich" erlebt hatten, denn die Häftlinge waren damals in ihrem Alter. Von großer Bedeutung war ihnen dabei der persönliche Kontakt, um die Ereignisse ein wenig nachvollziehen und mit den Fakten aus dem Schulunterricht vergleichen zu können. Das half ihnen, sich ihre eigene Meinung zu bilden. Dennoch, So richtig nachfühlen konnte das wohl niemand von ihnen. Ein Sechzehnjähriger meinte, er fühle sich schon eingesperrt, weil er in einem kleinen Dorf seine Ausbildung machen müsse. Maßregelungen in der Schule empfinden die meisten der teilnehmenden Jugendlichen als absolut erniedrigend, so ein Jugend-KZ, darin waren sie sich einig, hätten sie wohl nicht überlebt.
Die Jugendlichen bewunderten die Kraft, mit der die ehemaligen Häftlinge ihre Vergangenheit bearbeiten, dass sie in der Lage sind, ihre Erfahrungen weiterzugeben, darüber sprechen zu können, was sie erlebt haben, damit es nicht vergessen wird. Und doch war den ehemaligen Häftlingen anzumerken, dass sie die Auseinandersetzung mit dem Thema schmerzt. Peinigende Erinnerungen kehren zurück, Gefühle werden wach und beim Erzählen noch einmal durchlebt. Verdrängen wäre die einfachere Lösung, aber genau das wollen sie nicht. "Ich könnte nicht ruhig einschlafen, wenn ich nicht wüsste, es kommt nicht wieder, das, was einmal gewesen ist", sagte uns Friedrich Laska am Ende seines Erlebnisberichts.
Swing-Party
Zur Vorbereitung der Fahrt gehörte eine Swing-Party, um die Musik der Swing-Jugend besser kennen zu lernen. Günter Discher stellte einen Teil seiner Plattensammlung - 15.000 Platten mit Musik ab 1910 - vor. Gemeinsam wurde der Film "Swing-Kids" angesehen, diskutiert und von Günter Discher kommentiert.
Bildungsfahrten
Nach dem Besuch in Moringen besuchten die Jugendlichen noch die KZ-Gedenkstätte Ravensbrück, besichtigten den Zellenbau, hörten Erlebnisberichte der inhaftierten Frauen und erkundigten sich über das 1,5 Kilometer entfernte Lager Uckermark für Mädchen. Fahrten zu Gesprächen mit Zeitzeugen sind seither zur regelmäßigen Einrichtung geworden, trotz fehlender öffentlicher Fördermittel. Finanziert werden die Bildungsfahrten durch Teilnehmerbeiträge und durch Spenden.
Videofilm
Ihre Erlebnisse und Erfahrungen haben die Jugendlichen zu einem Videofilm verarbeitet, der bei dem erneuten Zeitzeugentreffen vorgestellt wurde. Andere Jugendliche sind durch den Film und die Berichte motiviert worden, ebenfalls an dem Projekt teilzunehmen.
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- 13 Mai 2010 - 10:25